andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Mittwoch, 25. Februar 2009, 21:25
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immer diese Muster

Letztens wurde ich nachts angesprochen, ob ich denn wüsste, wo die nächste Telefonzelle sei. Ich reagierte etwas irritiert, was einerseits daran lag, dass ich bei der Abschlussgassirunde mit Paul praktisch nie angesprochen werde, und zum anderen daran, dass mir überhaupt keine Telefonzelle in der Nähe einfiel.
Meinen Hund zog es stummelwedelnd zu den netten Mann hin, normalerweise schon tagsüber ein Garant für ein „Schon gut“ mit beschleunigtem Abgang (aus unerfindlichen Gründen haben die meisten Bewohner des Viertels Angst vor Boxern). In diesem Fall blieb der Fragende aber standhaft und wirkte nicht einmal nervös. So ließ ich zum Nachdenken einige akzentuierte Floskeln aus meinem Mund sprudeln und streute Assoziationen zum Thema Telefonieren ein.
An dem Begriff “U-Bahn-Station“ hielt ich mich länger auf. Ja, vor meinem geistigen Auge sah ich dort Menschen telefonieren: ein junges Paar, sich an ein Telefon drängen, ein älterer Mann, der in den Hörer brüllt, eine Frau mit Kind, die lautstark in einer mir fremden Sprache telefoniert … Klar, da war eine Telefonzelle, oder –säule, oder wie das heute auch immer heißen mag.
Der Fragende bedankte sich, verschwand in die gezeigte Richtung und mir ging der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass ich mich in diesem Viertel immer noch nicht auskenne. So was aber auch …

Am nächsten Abend, wieder die letzte Runde vor dem Zubettgehen, waren meine Augen aufmerksamer als vorher. Und was sahen sie? Eine pinkfarbene Telefonsäule (mit Lämpchen oben drauf), die nicht einmal zwanzig Meter von der Stelle entfernt war, an der ich einen Tag vorher nach ihr gefragt worden war. Oje.
Aber nicht die zwanzig Meter störten mich, sondern der Umstand, dass mein Weg direkt an diesem Telefon vorbei geht, - jeden Abend!
Aber es wurde noch schlimmer: ich verlängerte die Gassirunde, um an der U-Bahn-Station vorbei zu gehen. Und was sah ich? – Nichts. Oder besser: alles Mögliche, aber kein öffentliches Telefon.

Peinlich, peinlich … oder auch: sehr menschlich.

Wir nennen es “sehen“, meinen aber “erkennen“. Denn gemeint ist nicht der körperliche Vorgang der Sinneseindrücke (Lichtsignale) oder die physikalischen Vorgänge im Auge, sondern die Verarbeitung im Gehirn. Und unser Gehirn arbeitet nach arbeits- und energiesparenden Prinzipien, denn alle eingehende Reize können nicht einmal ansatzweise verarbeitet werden (ansonsten liefe die graue Masse heiß und könnte nur noch mit geschlossenen Augen zum Denken benutzt werden).
Es müssen also Filter her, die das wenige Wichtige von dem vielen Unwichtigen trennen. Einige dieser Filter sind angeboren (etwa: sexuelle Reize) oder anerzogen (etwa: sexuelle Reize), doch sehr viele werden aus unseren Erinnerungen und Erfahrungen konstruiert (etwa: sexuelle Reize … ja, ja. Die sind beim Menschen überall). Das nennt sich dann “Mustererkennung“, weil ja nicht alle Erinnerungen abgegrast werden, sondern das Gehirn ein gemeinsames Muster erstellt hat, mit dem etwas schnell und ohne großen Aufwand erkannt werden kann. Bei Telefonzellen ist meine Mustererkennung beispielsweise auf gelbe Häuschen geeicht und all die blauen, pinkfarbenen und edelstahlglänzenden Einrichtungen werden kurz nach dem Sehen ausgeblendet (blaue Häuschen stehen für mobile Toiletten, etwas, das mein Gehirn zwar zuordnet, aber sich nur bei Bedarf merkt).
Eine andere Mustererkennung läuft über Assoziationen. Auch hier passt mein Erlebnis: ich erinnerte mich an telefonierende Menschen an einer bestimmten Stelle bei der U-Bahn-Station. Aber mein Gehirn hatte die Handy-Benutzung nicht einkalkuliert und die Eigenart der Menschen, sich sehr ähnliche Orte zum Telefonieren zu suchen (leider gehören dazu auch die Mitte einer Menschenmenge und gerade erreichte Eisenbahnwaggons nach dem Finden eines Sitzplatzes).

Diese “Mustererkennung“ gilt übrigens nicht nur für das Sehen, sondern auch für das Hören und Fühlen. Eingeschränkt auch für das Riechen, wobei hier eine direkte Leitung zum emotionalen Gedächtnis besteht und direkt die Mustererkennung mit Erinnerungen verknüpft. Manch einem steigen Bilder von Oma in den Kopf, wenn in der Nase der Duft von Pflaumenkuchen kribbelt oder unerklärliche Gefühle werden plötzlich wach. Nicht immer ist das der Situation gegenüber angemessen, aber das Riechen ist nun einmal eine sehr alte Wahrnehmungsart, da sind Unterschiede zu erwarten.
Witzig ist, dass die lange erprobte und so erfolgreiche Mustererkennung (wäre sie nicht erfolgreich, wären die Menschen wohl nicht da, wo sie jetzt sind) auch bei erlernten Wahrnehmungen greift. Sie wird trainiert, sobald etwas gelernt wird. Oder besser: sie ist ein bedeutender Teil des Lernprozesses und kann nicht abgeschaltet werden.
So funktioniert das Muster auch beim Lesen, wie wir das auf dieser Plattform immer wieder erleben. Lesen bedeutet, dass Linien als Schrift erkannt und zu Wörtern, Sätzen und Zusammenhängen verbaut werden. Da der Klang der Stimme, die Betonung und die Mimik des Sprechenden als Hilfe fehlen, muss blind interpretiert werden. Sprich: wir mutmaßen und fantasieren uns die Aussage zusammen. Dabei helfen Erinnerungen, Erfahrungen, ein individueller Code für Begriffe und Zusammenhänge und die Hoffnung auf einen allgemeinen Code. Und die Fähigkeit des menschlichen Gehirns Lücken zu schließen (oder zu überspringen). So überliest das eine Gehirn die Rechtschreibfehler, das nächste gleich ganze Sätze und das dritte nimmt nur Schlagwörter wahr, die dann wie bei einer Stichwortsammlung zu einem Sinn zusammengesetzt werden. Da das bei den Schreibenden genauso funktioniert, grenzt es an ein Wunder, dass die Leute sich überhaupt schriftlich verständigen können. Bei jedem „Ich verstehe gut, was Du meinst“ müssten sich einem die Nackenhaare aufstellen.

Da ist es wohl zu verzeihen, wenn einem monatelang eine Telefonzelle nicht auffällt, obwohl man jeden Tag daran vorbei kommt. Wäre das Ding gelb gewesen …
Aber: egal. Jetzt weiß ich es und mit etwas Glück hat mein Gehirn einige Veränderungen bei der Mustererkennung vorgenommen. Das funktioniert nämlich und ist eine Frage des Trainings ... wobei Peinlichkeit wohl als verstärkender Faktor funktioniert (zumindest bei mir).

Nur für den armen Telefonzellensucher tut es mir leid. Entschuldigung.



Andreas Gahmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

wupperzeit (58)
(26.02.09)
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 Bergmann (01.03.09)
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