KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Freitag, 18. Juli 2008, 10:55
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Der schwarze Rohrstock

Mitten im Sommerloch stelle ich ein Kapitel meines gerade entstehenden Janus-Rmans vor. Das Kapitel ist noch Rohentwurf, nur der Beginn ist schon fast fertig.


Im langen Flur zwischen dem Reich des Spiels, in dem Janus mit Mama Louise residierte, und Uschs Territorium der Pflicht, wo er schlief und träumte und wo es Essen und Trinken gab, stand eine große Truhe, die man nur sehen konnte, wenn die Tür zum Durchgangszimmer geöffnet war, denn der Schein der 40-Watt-Birne in der Mitte des Flurs kam nicht bis an die Truhe heran. In der Truhe ruhten viele Dinge, an denen Mama Louise ihr Interesse verloren hatte. Janus kannte sie alle. Es nahte der Winter, Janus konnte gerade lesen, er war noch nicht sieben Jahre alt, da kam der Tag, an dem er seine Spielsachen musterte und sich von dem Gefährten seiner ersten Kindheit trennte. Er betrachtete seinen struppigen Teddy, er erschien ihm ganz grau und hässlich. Er hatte schon seit Wochen nicht mehr mit ihm gesprochen und ihn an seinem Kopfkissen nur geduldet. Seinen Indianern und Rittern, die er das ganze Jahr über im Durchgangszimmer aufgebaut hatte, zusammen mit der Aufzieheisenbahn, Spur Null, mit der Carl schon gespielt hatte, blieb Janus treu. Er war natürlich immer mal der Häuptling, mal der König der Ritter.
Als er während des Sommer in einem Kinderferienheim im Harz war, lernte er Prinz Eisenherz kennen. Die Bilder-Abenteuer von dem Ritter mit dem Singenden Schwert fanden die Jungen im Lesezimmer des Heims in der Illustrierten QUICK. Es gab immer Gerangel darum, wer zuerst lesen durfte. Manche hatten auch Tarzan-Hefte mitgebracht, Sigurd, Pecos Bill, Fix und Foxi und Micky Maus. Tagsüber spielten sie in den Parkanlagen des Ferienheims ähnliche und neue Abenteuer von Prinz Eisenherz, Gawain, Prinz Arne, Tristan und König Arthur. Janus wollte Prinz Eisenherz sein, aber dieser und die anderen Titel waren schon an andere Jungen vergeben, und Janus musste sich mit einem Namen im Bereich der Indianergeschichten der Pecos-Bill-Welt begnügen: Häuptling Weiße Feder. Aber damit war er, so sehr er zu Hause selbst gern den Häuptling seiner Indianer spielte, nicht zufrieden. An einem Abend, an dem die Jungen langsam zur Nachtruhe übergingen und sich, in den Betten liegend, wieder über ihre Abenteuer und Titel unterhielten, das Licht war schon aus, beanspruchte Janus den Titel Prinz Eisenherz. Der Junge, der den Titel trug, gab ihn nicht her, Janus forderte ihn heraus, indem er ihn beleidigte und einen Schwächling nannte. Der Junge sprang aus dem Bett und knipste das Licht im Zimmer an. Janus sprang ebenfalls aus dem Bett. Die Jungen aus den Nebenzimmern drängten ins Zimmer, da riefen einige: Im Flur! Kämpft im Flur! Die Kontrahenten gingen auf den Flur, am Treppenaufgang war er so breit, dass alle Jungen die Kämpfenden umringen konnten. Der herausgeforderte Junge spuckte Janus ins Gesicht und sagte verächtlich: „Häuptling Weiße Feder!“ Janus antwortete hochrot: „Das wirst du büßen! Du bist nicht Prinz Eisenherz!“ Der Kampf war entschieden, wenn einer oben war und die Arme des anderen so lange niederdrückte, bis der aufgab. Janus war wendig, der andere stärker im Drücken. Janus riss seinen Feind zu Boden und suchte den Sieg, indem er mehrmals schnell die Stellung wechselte, bis er über ihm war. Die Jungen feuerten die Kämpfenden an. Der Kampf zog sich hin, aber je länger der Kampf dauerte, umso mehr wuchs die Partei des neuen Prinz Eisenherz. Janus saß rittlings auf dem Gegner und hielt beide Arme am Boden fest. „Gib auf!“, rief er. „Du tust mir weh!“, klagte der andere. „Gib auf!“, wiederholte Janus. Endlich gab der andere Junge auf. „Sag Prinz Eisenherz zu mir!“, sagte Janus, „eher lasse ich dich nicht los.“ Janus schob das Knie auf den Hals des Unterlegenen und stieß hart gegen Kehle und Kinn. „Es ist entschieden“, sagten die Jungen. Janus war Prinz Eisenherz. Er wird nie vergessen, wie er Tage später, weil er eine schwere Erkältung mit Fieber bekam und im Heim bleiben musste, als die Jungen zu einer Wanderung aufbrachen, das ins Feld rückende Heer auf dem Balkon genau in der Pose verabschiedete wie Prinz Eisenherz, der in dem ersten und schönsten Buch, „In den Tagen König Arthurs“, gerade Ritter geworden war und nicht mit in den Krieg ziehen durfte.
Janus erwachte aus seiner Erinnerung und sah auf sein altes Schmusebärchen. Dann nahm er den Teddy und warf ihn wortlos, ohne jeden Abschied, zu den anderen Sachen in die Truhe.

Janus war ein Tagträumer. Er behandelte, wenn es nur irgendwie ging, die Wirklichkeit wie einen Traum. Und er war ein Träumer in der Nacht und spielte mit seinen Träumen wie tagsüber mit der Wirklichkeit. Einmal wachte er vor lauter Lachen auf. Usch lag neben ihm und fragte: „Worüber hast du denn so gelacht?“ „Ich wollte auf einmal wach werden“, sagte Janus, „obwohl ich doch träumte, und darüber musste ich lachen.“ Das Erleben des Aufwachens an einem Morgen mitten im Alltag, der sonst so viele graue Schatten warf, war wunderbar. Janus spürte keine Konfrontation mit dem Tagleben. Der Tag war so schön wie der Traum. Er hat zwar eine andere Logik als der Traum, aber Janus erlebte den Übergang von der einen Logik zur anderen als wohltemperierten Dialog der Nacht mit dem Tag. Im Traum wurden die leeren Flächen der Wirklichkeitsbilder mit Farben gefüllt, manchmal auch mit schrecklichen. Im Traum dachte Janus die Gefühle weiter, dachte sie sich vollkommener oder absurder, aber immer als neue Schöpfung. Glück und Verheißung des Traums heilen genauso wie Angst und Schrecken. Der Traum eliminiert das Bewusstsein von Vergangenheit und Zukunft, er hat keine Zeit oder seine eigene, er lebt für einen Augenblick in sich selbst. Er hat keine Logik oder seine eigene, er zerhaut den Kausalnexus und knüpft das Band einer neuen Geschichte, die sich selbst erzählt, die geschehen konnte und die geschehen könnte und über sich hinauswächst in den Tag. Die Wirklichkeit bezieht Vergangenheit und Zukunft in Gefühle und Denken ein, sie muss das Gesetz der Kausalität verteidigen, um nicht im Traum zu versinken, wo sie ihre Ordnung verliert. Der Traum muss seine Ungesetzlichkeit, das freie Spiel, den schöpferischen Zufall behalten, um nicht in der Tagesordnung umzukommen. Aber beide, Traum und Wirklichkeit, arbeiten heimlich und offen zusammen, wenn wir die Dialektik von Tag und Nacht zulassen und forcieren. Janus wollte in beiden Ebenen leben, ohne den Tag zu verraten oder die Nacht. Ihm war nicht bewusst, dass er damals schon nach der richtigen, für ihn gültigen Lebensstrategie suchte, die richtige Balance zwischen Tag und Nacht, Traum und Wirklichkeit. Dem Lebenskünstler gelingt dieser Seiltanz, Lust und Gefahr beseelen und bestärken sich. Der Lebenstänzer aber, der zuviel wagt und träumend tanzt, kommt um in seiner Nacht - es ist immerhin nicht der übelste Tod. Der Sicherheitsrealist hangelt sich an seinem Lebensseil entlang, gefesselt an seinem Lebensfaden hat er nie getanzt, den Rausch der Nacht nie erfahren.
Es gab aber auch Träume, da bekam Janus die Angst vor dem Unsichtbaren, das ihn in seinem Raum bedrohte. Er wachte auf, aber nicht richtig, nicht ganz, er stand auf, Usch war nicht da, sie war wieder bei Hardy, aber das wurde Janus nicht bewusst, er war noch halb im Traum. Er ging zur Tür, vorbei am schwarzen Rohrstock, der an einem Haken an der Wand hing, er sah ihn jetzt nicht. Die Angst blieb. Ich will wach werden, schaff’s aber nicht, ich will die Angst loswerden, schaff’s aber nicht, so fühlte und dachte er halb. Der Schlag auf den Lichtschalter rettete ihn aus diesem Zustand, aber nicht sofort. Janus wird nur langsam wach. Er ging ins Bad und sah im Spiegel sein Gesicht. Das beruhigte ihn halb, und halb ängstigte er sich vor seinem Spiegelbild. Er ließ Wasser über seine Hände laufen. Dann legte er sich wieder in die Nacht, und alles war gut. Wenn der Traum zu stark wird, weckt er mich auf, dachte Janus. Dann werde ich wach und der Traum stirbt. Janus fällt vom Dach, aber im Aufprall auf die harten Steine wird er wach und rettet sich in eine schönere Wirklichkeit.

Der Tag war schwer. Die Schule, die Janus so liebte, weil er jeden Tag neue Wörter lernte, schreiben und malen konnte, und neue Wirklichkeiten erfuhr, hatte ihn heute verstört und melancholisch gestimmt. In der Deutschstunde lasen sie eine Geschichte über Wilhelm Pieck, wie er aus dem Gefängnis befreit wurde. Der Lehrer kommentierte die Geschichte. Wilhelm Pieck war Kommunist und mit Otto Grotewohl der mächtigste Mann in der Deutschen Demokratischen Republik. Janus wusste von Carl, dass der Mächtigste Walter Ulbricht war, der Spitzbart, der Erste Sekretär der Partei. Er wurde während des Krieges in der Sowjetunion ausgebildet und er allein hatte zu bestimmen. Sieben Jahre später las Janus das Buch eines ehemaligen Ulbricht-Genossen, Die Revolution entlässt ihre Kinder von Wolfgang Leonhard. Das Buch bestätigte, was Carl ihm erzählte: Der Kommunismus war die Diktatur der Partei und wurde mit Gehirnwäsche durchgesetzt. In der Schule wurde gesagt, in Westdeutschland regiert der Kanzler der Alliierten, Adenauer, ein Feind des Sozialismus. Janus wusste nicht genau, was hinter den Begriffen steckte, auf dem Schulhof sang er mit den Schulkameraden das böse Lied „Auf der Mauer, auf der Mauer sitzt der Konrad Adenauer...“ In der Wilhelm-Pieck-Stunde erzählten einige Mitschüler von Verwandten, die auch im Gefängnis waren. Janus kamen die Tränen. Am liebsten hätte er von seinem Vater erzählt, der in sowjetischen Gefangenschaft war, aber er spürte, dass er das nicht tun durfte, dass der Lehrer so eine Geschichte nicht hören wollte.
In der Religionsstunde musste er ein Bild zeichnen: Nieder mit dem US-Imperialismus! Janus malte Vertretungsstunde im Religionsunterricht.
ABC. Die Zuckertüte und das A. Janus sehr verträumt.
1 x 1
Mathematikstunde.
Dr. Krauße sagt: Bergmann, an die Tafel!
Ich steige aus der Bank (wo man die Füße auf eine Fußleiste setzte, das Schreibpult schräg, oben Löcher für Tintenfässer und Rillen für Bleistift und Füller) und geh nach vorn, steige aufs Podest vor der Tafel, nehme die Kreide in die Hand.
Dr. Krauße: Bergmann, rechne: 1 x 1 = ?
Ich schreibe 1 x 1 = 2
Krauße: Bergmann! Einmal die Eins. Was kommt da heraus?
Ich: Zwei.
Er: Bergmann! Eins und eins ist zwei. Einmal eins ist eins. Kapiert?
Ich: Nein.
Bergmann! Wisch aus!
Ich stand starr.
Er tritt hinter mich, stößt meinen Kopf gegen die Tafel und wischt mit meiner nassen Stirn die 2 weg.
Schreib!, sagt er.
Ich schreibe die 2 wieder hin, vollkommen verwirrt.
Kannst du nicht oder willst du nicht!, schreit er.
Ich wusste keine Antwort.

Einkaufen:
Milchkannen für Magermilch und Vollmilch. Lebensmittelmarken. Bananen. Russenzaun.

Erzähler:
Lesen ist Schreiben
Als Kind las ich meistens im Bett, ich kuschelte mich in die Decke und dann konnte ich stundenlang, manchmal den ganzen Tag, in mein zweites Bett kriechen, das Buch war mein Bett im Bett, mit dem ich geschlafen habe, das meine Höhle war, in der ich ganz wach schlief. Am Wochenende im Winter war das leicht, und meine Großmutter, Mama Louise, mit der ich lebte, ließ mich den ganzen Tag in meinem Doppelbett. Dann las ich Ben Hur zwei Mal, drei Mal, vier Mal, aber nicht hintereinander, ich las Kampf um Rom und Huckleberry Finn, ich las an solchen langen Wintertagen zwei bis drei Bücher gleichzeitig. Schwierig waren immer die ersten 30 bis 50 Seiten, dann war ich drin. Ich las dann das Buch immer zu Ende. Ich habe noch in Erinnerung, wie schnell ich damals las - es ist dasselbe Tempo wie heute: Etwa 30 Seiten in der Stunde. Das ist langsam. Ich genoss die Sätze. Ich sprach in Gedanken das Gelesene mit, um es besser betonen zu können. Ich liebte die Bücher mit viel wörtlicher Rede - in den Karl-May-Romanen, die ich in Serie las, am liebsten Durch die Wüste, Allah il Allah, wurde viel gesprochen, und die Helden hatten viel Erfolg, da lohnte sich die Identifikation mit ihnen.
Ich glaube, ich habe den Thesen des Aristoteles, die er für die Tragödie aufstellte, voll entsprochen: Wenn ich Bücher las, ob Dr. Doolittle oder Enid Blyton, Karl May oder Quo vadis? - immer reinigte ich meine zart reifende Seele von Furcht und Mitleid in den imaginierten Abenteuern der Helden. Tom Sawyers trickreiches Leben, Old Surehands Klugheit - das war meine Katharsis. Meine Helden mussten Männer sein, kleine oder große. Mit Frauen wusste ich nichts anzufangen. Erst sieben Jahre später interessierte mich Madame Chauchat, die heiße Katze im Zauberberg, Molly Bloom, oder Lolita - obwohl... die Frauen in der hohen Literatur lassen sich primär über die hinter ihnen stehenden, über oder unter ihnen liegenden Männer definieren. Männer blieben immer interessanter, in der Literatur und in den geistigen Dingen. Ich sage nur, wie es ist. Ich bilde keine Theorie. Ich beanspruche keine Aufmerksamkeit für meine Erfahrung. In meinem erwachsenen Leben liebe ich natürlich Frauen - aber das ist nicht die Literatur oder die Philosophie. Das ist ein anderes Kapitel des großen Romans, den ich mit meinem Leben selber schreibe, das mich schreibt und in Versen und epischen Sätzen reflektiert. Eins geht ins andere über.
Als Kind träumte ich die gelesene Realität in meinen Tag, und heute geht es mir ganz ähnlich, natürlich viel subtiler, ich erkenne im Leben der anderen und in meinen Handlungen immer wieder die literarische Essenz, sehe mich selbst als einen Helden meines gelebten Romans, und identifiziere mich mit dem Helden, der ich nun selber bin, und ich schreibe mich und lese mich, lese mich und schreibe mich, es ist ein und dasselbe. An die Stelle der Seiten treten die Jahre. Das Ende kenne ich nicht. Ich bin das Buch, das sich schreibt.
Ich schreibe, ich lese, und während ich lese, schreibe ich schon weiter. Ich fühle mich wie der Hase dem Igel in mir unterlegen, ich will aber kein Igel sein, kein Techniker von Permutationen meiner Poesie, ich schreibe wirklich immer weiter, schreibe mit meinen lesenden Augen um die Wette, bin mir immer um mindestens ein Wort voraus, und wenn ich versuche über den Schatten des Geschriebenen zu springen, erreiche ich nie die Geschwindigkeit im Lesen, werde ich mich nie einholen, auch nicht, wenn ich rückwärts lese. Ich käme nie an den Ursprung der Worte, der sich mir entzieht wie das Jenseits der Schatten. Aber ich könnte mich leicht einholen und dann auch überholen, wenn ich nur wollte, ich könnte der Schattenspringer werden und aus dem Diesseits der Sprache in ein Jenseits der Worte springen, wenn ich nur wollte und wenn ich begriffe, dass ich das kann.
Lese ich, wenn ich schreibe? Ich drehe die Frage in die Antwort: Ich schreibe, wenn ich lese.
Ich könnte mich, wie gesagt, überwinden, aber nie lesend, immer nur schreibend. Der absolute Leser, der a priori der beste Leser ist, muss nur wissen, dass er als Leser der absolute Autor ist. Er wird dann auch erfahren: Er ist der beste Autor, den er lesen kann. Dieser Leser, der den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, ist der aufgeklärte Leser, der ideale Leser, wenn er beim Lesen erkennt, dass er das Buch, das er gerade liest, auch lesen könnte, wenn er es selber schriebe, und eigentlich müsste er es dann gar nicht mehr schreiben, sondern einfach nur leben. Er ist dann der Leser seines Lebens, dessen Autor er zugleich ist, der das Buch nicht braucht, der sich selbst zuklappen und wegwerfen kann wie ein Buch, das er schon kennt, dessen unbeschriebene Seiten in ihm selber sind und die man nur beschreiben muss um zu leben.
So kann ich am Ende sagen: Indem ich mich lese, hebe ich auf, was ich schrieb – und indem ich schreibe, hebe ich auf, was ich lese. Ich bin das Wort.
Ich schrieb, wenn ich als Kind im Bett mit meinen Büchern schlief, alle Romane, Heldensagen und Micky-Maus-Geschichten, die ich las. Ich schrieb, was ich las. In der Schulwoche las ich unter erschwerten Bedingungen, denn mein Vater, der zwei Stockwerke über mir in seinem Studierzimmer wohnte, kontrollierte abends das Licht, das ich spätestens um zehn ausknipsen musste.

Ich wollte lesen, unbedingt, und ich knipste die Lampe wieder an, wenn mein Vater mein Zimmer verlassen hatte. Wenn ich ihn die Treppe hinab steigen hörte, knipste ich die Lampe wieder aus, dann sah mein Vater kein Licht in der Türritze. Das ging nicht lange gut, mein Vater fühlte die heiße Birne und nahm mir die Lampe weg. Eine Zeitlang las ich mit der Taschenlampe, aber die Batterien reichten nicht lange. Ich holte Kerzen aus dem Keller und hielt sie zwischen den hochgestellten Knien fest. Die Daunendecke wölbte ich halb über die brennende Kerze. Es strengte mich zwar an, aber ich fand mit der Zeit eine Haltung, in der ich lange lesend verharren konnte.
Eines Tages aber fiel ich mit meinen Gedanken derart tief ins Buch, dass ich nicht merkte, wie ein Schwelbrand entstand. Erst der beißende Qualm weckte mich, ich schlug auf die glimmende Decke, wollte den unsichtbaren Brand löschen, doch nun stoben die Funken, ich schlug weiter und auf einmal brannte das Bett. Die Flammen machten mir Angst. Ich kam einfach nicht auf die Idee das Feuer zu ersticken, ich schlug immer weiter auf das Feuer ein, bis ich weder ein noch aus wusste, aus dem Zimmer lief und um Hilfe rief.
So lese ich heute noch.. ... Oscar Wilde im Schatten der Apsis von St. Martin in the Fields. Sein Kopf, der gealterte Dorian Gray, schaut aus seinem Sarkophag-Block frech heraus, vielleicht liest er, was auf seinen Füßen steht: „We are all in the gutter, but some of us are looking at the stars.“ Meinte das Schiller, wenn Wallenstein sagt: „In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne.“?

Der schwarze Rohrstock im Schlafzimmer! Volksrichter Hardy.
Glühbirne, Kerze und Brand der Daunenbetten. Janus las wieder ein Prinz-Eisenherz-Buch, das ihm Mama Louises Zwillingsschwester Henny aus Frankfurt am Main schickte. Die Geschichte mit dem Zauberer Merlin: Prinz Eisenherz wird immer älter und sieht sich zum Schluss als gebeugter weißhaariger Greis im Spiegel. Die Begegnung mit der jungen Tochter Merlins macht ihn wieder jung. Janus interpretiert diese Geschichte und vergleicht sie mit Herakles, der die vielköpfige Hydra bekämpft. Die Aussage, ich könnte den Kopf verloren haben, ist in gewisser Hinsicht immer richtig, weil ich meinen Kopf in allen möglichen und unmöglichen Dingen und Menschen habe. Aber ich behalte den Überblick. Nur manchmal denke ich, ich bin Herakles und das tausendköpfige Ungeheuer in einem, sehe mich, wie ich mich enthaupte, wie mir dauernd neue und mehr Köpfe wachsen, wie ich mich aber zuletzt immer wieder in der Enthauptung behaupte. Ein nicht eben leichter dialektischer Prozess, aber ein spannender Lebensstil.

Erzähler:
Wahrscheinlich ist die Verwendung variierter Mythen und archetypischer Bilder das verzweifelte Festhalten an der Hoffnung, es gebe im Werden der Geschichte und der Gesellschaft wenigstens eine anthropologische Kontinuität, damit die Selbstentfremdung nicht zur linearen (suizidalen) Selbstaufhebung führt, sondern zu einer dialektischen. Natürlich liegt darin utopisches Wollen und sehnsüchtiges Wünschen.

Für das verbrannte Daunenbett gab es Dresche.



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Hier die fertige Fassung:

Der schwarze Rohrstock
Im langen, fensterlosen Flur zwischen der Republik des Spiels, in der Janus mit Mama Louise residierte, und Uschs Zone der Pflicht, wo er schlief und träumte, wo es Essen und Trinken gab, stand eine große Truhe. Was darin war, konnte man nur sehen, wenn die Tür zum Durchgangszimmer geöffnet war, denn der Schein der 40-Watt-Birne in der Mitte des Flurs kam nicht bis an die Truhe heran. In ihr ruhten viele Dinge, die Mama Louise nicht mehr brauchte. Janus kannte sie alle, und er ging nicht oft an die Truhe. Es nahte der Winter, Janus hatte lesen gelernt, er war noch nicht sieben Jahre alt. Da kam der Tag, an dem er alle seine Spielsachen musterte und sich von dem Gefährten seiner ersten Kindheit trennte. Er betrachtete den struppigen Teddy, er erschien ihm grau und hässlich. Er hatte schon seit Wochen nicht mehr mit ihm gesprochen und ihn am Kopfkissen in seinem Bett nur geduldet. Seinen Indianern und Rittern, die er das ganze Jahr über im Durchgangszimmer aufgebaut hatte, zusammen mit den Ankersteinen und der Aufzieheisenbahn, Spur Null, mit der Carl schon gespielt hatte, blieb Janus treu. Er war immer mal der Häuptling der Indianer, mal der König der Ritter.
Als er während des Sommers in einem Kinderferienheim im Harz war, lernte er Harold Fosters Bildgeschichten von Prinz Eisenherz kennen. Die Jungen fanden die Abenteuer des Ritters mit dem Singenden Schwert jede Woche in der Illustrierten QUICK, die im Lesezimmer des Heims lag. Es gab jedes Mal ein Riesengerangel darum, wer sie zuerst lesen durfte. Manche Jungen hatten Tarzan-Hefte, Sigurd, Pecos Bill, Fix und Foxi und Micky Maus. Tagsüber spielten sie im Gelände des Ferienheims und variierten die Abenteuer von Prinz Eisenherz, Gawain, Prinz Arne, Tristan und König Arthur. Janus wollte um sein Leben gern Prinz Eisenherz sein, aber dieser und die anderen Titel waren schon an andere Jungen vergeben, und er musste sich mit einem Namen aus der Pecos-Bill-Welt begnügen, Häuptling Weiße Feder. Damit war er, so sehr er zu Hause selbst gern den Häuptling seiner Indianer spielte, nicht zufrieden. An einem Abend, an dem die Jungen allmählich zur Nachtruhe übergingen und sich, in den Betten liegend, im Dunkeln über ihre Abenteuer und Titel unterhielten, beanspruchte Janus den Titel Prinz Eisenherz. Der Junge, der den Titel trug, gab ihn nicht her. Janus forderte ihn heraus, indem er ihn einen Schwächling nannte. Der Junge sprang aus dem Bett und knipste das Licht im Zimmer an. Janus sprang ebenfalls aus dem Bett. Sie standen sich gegenüber. Die Jungen in den Nebenzimmern bekamen den Streit mit und drängten ins Zimmer. Einer rief: „Geht in den Flur!“ Die Kontrahenten gingen auf den Flur, der am Treppenaufgang so breit war, dass alle Jungen die Kämpfenden umringen konnten. Der herausgeforderte Junge spuckte vor Janus aus und sagte verächtlich: „Häuptling Weiße Feder!“ Janus antwortete mit hochrotem Kopf: „Das wirst du büßen! Du bist kein Prinz Eisenherz!“ Als Regel für die Ringkämpfe galt: Der Kampf war entschieden, wenn einer oben war und die Arme des anderen so lange niederdrückte, bis der wehrlos war und aufgab. Janus war schnell und wendig, der andere stärker im Drücken. Janus riss seinen Feind zu Boden und suchte den Sieg in der Überraschung, indem er mehrmals schnell die Stellung wechselte, bis er über ihm war. Die Jungen feuerten die Kämpfenden an. Der Kampf zog sich hin, aber je länger der Kampf dauerte, umso mehr wuchs die Partei des neuen Prinzen Eisenherz. Schließlich saß Janus rittlings auf dem Gegner und hielt ihn am Boden fest. „Gib auf!“, rief er. „Du tust mir weh!“, fauchte der andere. „Gib auf!“, wiederholte Janus. Da gab der andere Junge auf. Aber Janus gab ihn noch nicht frei. „Sag Prinz Eisenherz zu mir!“, sagte Janus, „eher lasse ich dich nicht los.“ Janus schob das Knie auf den Hals des Unterlegenen und stieß hart gegen Kehle und Kinn. Der Besiegte stotterte den neuen Namen des Siegers. Der Kampf war entschieden. Janus war Prinz Eisenherz. Er genoss die neue Würde auch, als er Tage später eine schwere Erkältung mit Fieber bekam und im Heim bleiben musste, als die Jungen zu einer Wanderung aufbrachen. Janus verabschiedete das ins Feld rückende Heer auf dem Balkon wie Prinz Eisenherz, als der gerade Ritter geworden war und nicht mit König Arthur in den Krieg ziehen durfte.
Janus erwachte aus seinen Erinnerungen und sah auf sein altes Schmusebärchen. Dann nahm er den Teddy und warf ihn wortlos, ohne ein Zeichen des Abschieds, zu den anderen Sachen in die Truhe.

Janus war ein Tagträumer. Er behandelte, wenn es nur irgendwie ging, die Wirklichkeit wie einen Traum. Er war ein Träumer in der Nacht und spielte mit seinen Träumen wie tagsüber mit der Wirklichkeit. Einmal wachte er vor lauter Lachen auf. Usch lag neben ihm: „Worüber hast du denn so gelacht?“ „Ich wollte auf einmal wach werden“, sagte Janus, „obwohl ich doch träumte, und darüber musste ich lachen.“ Das Erleben des Aufwachens an einem Morgen mitten im Alltag, der sonst so viele graue Schatten warf, war wunderbar. Janus spürte keine Konfrontation mit dem Tagleben. Der Tag war so schön wie der Traum. Er hatte zwar eine andere Logik als der Traum, aber Janus erlebte den Übergang von der einen Logik zur anderen als wohltemperierten Dialog der Nacht mit dem Tag. Im Traum wurden die leeren Flächen der Wirklichkeitsbilder mit Farben gefüllt, manchmal auch mit schrecklichen. Im Traum dachte Janus die Gefühle weiter, dachte sie sich vollkommener oder absurder, aber immer als neue Schöpfung. Glück und Verheißung des Traums heilen genauso wie Angst und Schrecken. Der Traum eliminiert das Bewusstsein von Vergangenheit und Zukunft, er hat keine Zeit oder seine eigene, er lebt für einen Augenblick in sich selbst. Er hat keine Logik oder seine eigene, er zerhaut den Kausalnexus und knüpft das Band einer neuen Geschichte, die sich selbst erzählt, die geschehen konnte und die geschehen könnte und über sich hinauswächst in den Tag. Die Tagwirklichkeit bezieht Vergangenheit und Zukunft in Gefühle und Denken ein, sie muss das Gesetz der Kausalität verteidigen, um nicht im Traum zu versinken, wo sie ihre Ordnung verliert. Der Traum muss seine Ungesetzlichkeit, das freie Spiel, den schöpferischen Zufall behalten, um nicht in der Tagesordnung umzukommen. Aber beide, Traum und Wirklichkeit, arbeiten heimlich und offen zusammen. Wenn wir die Dialektik von Tag und Nacht zulassen und forcieren, überstehen wir alles, auch den Tod. Janus wollte in beiden Ebenen leben, ohne den Tag zu verraten oder die Nacht. Ihm war nicht bewusst, dass er damals schon nach einer für ihn gültigen Lebensstrategie suchte, die richtige Balance zwischen Tag und Nacht. Dem Lebenskünstler gelingt dieser Seiltanz, Lust und Gefahr beseelen und bestärken sich. Der Lebenstänzer aber, der zuviel wagt und allzu träumerisch tanzt, kommt um in seiner Nacht. Es ist immerhin nicht der übelste Tod. Der Sicherheitsrealist hangelt sich an seinem Lebensseil entlang. Gefesselt an seinen Lebensfaden hat er nie getanzt, den Rausch der Nacht nie erfahren.
Es gab aber auch Träume, da bekam Janus die Angst vor dem Unsichtbaren, das ihn in seinem Raum bedrohte. Er wachte auf, aber nicht richtig, nicht ganz. Er stand auf, Usch war nicht da, sie war wieder bei Hardy. Aber das wurde Janus nicht bewusst, er war noch halb im Traum. Er ging zur Tür, vorbei am schwarzen Rohrstock, der an einem Haken an der Wand hing. Er sah ihn jetzt nicht. Die Angst blieb. Ich will wach werden, das schaff ich nicht, ich will die Angst loswerden, das schaff ich auch nicht, so fühlte und dachte er halb und halb. Der Schlag auf den Lichtschalter rettete ihn aus diesem Zustand, aber nicht sofort. Janus wurde nur langsam wach. Er ging ins Bad und sah im Spiegel sein Gesicht. Das beruhigte ihn teils, teils ängstigte er sich vor seinem Spiegelbild. Er ließ Wasser über seine Hände laufen. Dann legte er sich wieder in die Nacht, und alles war gut. Wenn der Traum zu stark wird, weckt er mich auf, dachte Janus. Dann werde ich wach und der Traum stirbt. Janus fiel vom Dach, aber im Aufprall auf die harten Steine wurde er wach und rettet sich in die schönere Wirklichkeit.

Der Tag war schwer. Die Schule, die Janus liebte, weil er jeden Tag neue Wörter lernte, schreiben und malen konnte und neue Wirklichkeiten erfuhr, hatte ihn heute verstört und sogar melancholisch gestimmt. In der Deutschstunde lasen sie eine Geschichte über Wilhelm Pieck, wie er aus dem Gefängnis befreit wurde. Der Lehrer kommentierte die Geschichte. Wilhelm Pieck war Kommunist und mit Otto Grotewohl der mächtigste Mann in der Deutschen Demokratischen Republik. Janus wusste von Hardy, dass Walter Ulbricht noch viel mächtiger war, der Erste Sekretär der SED. Er bereitete sich während des Krieges in der Sowjetunion auf die kommunistische Machtübernahme in der Ostzone vor. Sieben Jahre später las Janus „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ von Wolfgang Leonhard, der zur Gruppe Ulbricht gehörte. Das Buch bestätigte, was Carl ihm erzählte: Der Kommunismus war die Diktatur der Partei und wurde mit Gehirnwäsche durchgesetzt. In der Schule wurde gesagt, in Westdeutschland regiert der Kanzler der Alliierten, Adenauer, ein Feind des Sozialismus. Janus wusste nicht genau, was hinter den Begriffen steckte, auf dem Schulhof sang er mit den Schulkameraden das böse Lied „Auf der Mauer, auf der Mauer sitzt der Konrad Adenauer...“ In der Wilhelm-Pieck-Stunde erzählten einige Mitschüler von Verwandten, die in der Hitler-Zeit auch im Gefängnis waren. Janus kamen die Tränen. Er traute sich nicht, von seinem Vater zu erzählen, der in sowjetischen Gefangenschaft war, er spürte, dass der Lehrer diese Geschichte nicht hören wollte.
In der Religionsstunde ging es politisch weiter. Das Thema war die Nächstenliebe und der Sozialismus. Die Schüler mussten ein Bild zeichnen: „Nieder mit dem US-Imperialismus!“ Janus malte einen amerikanischen Panzer mit einem fünfzackigen US-Stern, den ein sowjetischer Hammer zerschlug. Auf dem Hammer war eine Sichel eingraviert, und unter dem Panzer wehte die Flagge der DDR. In die drei Felder der deutschen Farben schrieb er in Blockschrift:

AUFERSTANDEN AUS RUINEN
UND DER ZUKUNFT ZUGEWANDT,
DEUTSCHLAND, EINIG VATERLAND!

Daran glaubte er wirklich. Oft schlug er Uschs alten Atlas auf, Deutschland in den Grenzen von 1937 und Europa vor dem Zweiten Weltkrieg. Immer wieder zeichnete er die politische Landkarte Europas aus dem Kopf. Er wollte ein großes Deutschland.
Am schlimmsten war die Rechenstunde. Herr Niering, sein Lieblingslehrer, war krank und wurde von Dr. Krauße vertreten. Carl sagte, Krauße sei kein Lehrer, sondern immer Soldat gewesen, Feldwebel. Den Doktortitel hatten ihm die Kollegen angehängt, weil er immer so klug daher redete. Alle nannten ihn Dr. Krauße, inzwischen auch die Schüler. Man habe ihn, sagte Carl, wegen des Lehrermangels in den Schuldienst übernommen. Janus hatte Angst vor Dr. Krauße, weil er die Schüler an die Tafel holte und fertig machte. Rechnen war sein Lieblingsfach, aber bei Dr. Krauße verging ihm die Freude. Krauße sagte zu Beginn der Stunde, er wolle mal sehen, ob die Schüler das Einmaleins beherrschten. „Mundt!, an die Tafel!“ Wahrscheinlich wusste Krauße, dass Janus der Klassenbeste im Rechnen war. Janus stieg aus seiner Bank, ging nach vorn, stieg aufs Podest vor der Tafel und nahm die Kreide in die Hand. „Mundt, schreib an und rechne: 1 mal 1!“ Janus war völlig verwirrt und schrieb: 1 x 1 = 2. „Mundt, ich sagte 1 mal 1, nicht 1 plus 1.“, sagte Krauße scharf. Aber Janus blieb bei seinem Ergebnis. Er will mich nur testen, dachte er. Wenn ich das Ergebnis ändere, versetzt er mir einen Nackenstüber. „Mundt! 1 plus 1 ist 2. Was ist nun also 1 mal 1?“ „2“, sagte Janus. „Wisch aus!“ Janus stand unbeweglich da. Da trat Krauße hinter ihn, stieß seinen Kopf gegen die Tafel und wischte mit der Stirn die 2 aus. „Schreib!“, sagte er. Janus schrieb vollkommen verdattert die 2 wieder hin. „Mundt, kannst du nicht oder willst du nicht?“, rief er laut in die Klasse hinein. Janus wusste keine Antwort. „Setzen!“, sagte Krauße und rief einen anderen Schüler auf. Janus ging zurück an seinen Platz. Er war froh, dass er nicht neben seiner Bank stehen bleiben musste. Er setzte die Füße auf das Fußbrett, legte die Arme auf das schräge Schreibpult und richtete die Augen auf das Tintenfass, auf Bleistift und Füller in der Rille und träumte sich weg aus dieser Stunde.

Am Nachmittag schickte Usch Janus zum Einkaufen. „Schon wieder!“, sagte Janus mürrisch. Vor der Schule hatte er schon zwei Milchkannen mit Magermilch und Vollmilch geholt. Wenn er die Lebensmittelmarken vergaß, musste er sich noch einmal in der Schlange anstellen, die dann noch länger war als vorher. Jetzt ging es um Bananen. Usch hatte von einem Nachbarn gehört, dass es in der Großen Steinstraße welche gab. Janus ging am Russenzaun den Advokatenweg hinauf und schaute durch ein Astloch zum Russenmagazin auf der gegenüberliegenden Straßenseite, aber da war nichts los. Janus versank wieder in seine Gedanken, blieb vor dem Fenster des Papierwarengeschäfts stehen, schaute nach den Plakaten am Kino und trödelte dahin. Er dachte an seine Bücher und ans Bett. Er kuschelte sich dann in die Decke und konnte stundenlang, manchmal den ganzen Tag lesen, wenn Usch ihn ließ oder wenn er am Wochenende bei Mama Louise schlafen durfte. Er kroch ins Buch wie in sein Bett. Das Buch war seine Höhle. Er las „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ zwei Mal, drei Mal, vier Mal, aber nicht hintereinander. An den langen Wintertagen las er zwei bis drei Bücher gleichzeitig. Schwierig waren immer die ersten dreißig bis fünfzig Seiten, dann war er drin im Buch. Er zählte die Seiten, die er in einer Stunde schaffte, ungefähr dreißig Seiten. Als er mit Helmut um die Wette las, kam er auf fünfzig, aber da machte das Lesen keine Freude mehr. Janus genoss die Sätze, er sprach sie in Gedanken mit, wegen der Melodie. Er liebte die wörtliche Rede. Janus entsprach den aristotelischen Thesen für die Tragödie. Ob er die Heldensagen oder „Die Schatzinsel“ las, er reinigte seine Seele von Furcht und Mitleid. Die Helden mussten kluge und mutige Männer sein. Frauen liebte Janus in seinem wirklichen Leben. Usch, Mama Louise, und Christa. Madame Chauchat, Molly Bloom und Lolita begriff er erst viel später. Janus träumte die Bücher in den Tag und sah sich selbst als einen Helden seines Romans, den er lebte. So schrieb er ein Stück seines Lebens, aber es wurde ihm noch nicht bewusst. An die Stelle der Seiten traten allmählich die Jahre. Janus war das Buch, das er schrieb. Ans Ende dachte er nicht. – Janus kam erst spät wieder nach Hause. Er war im Geschäft in der Großen Steinstraße, die Käufer rissen sich um die wenigen Bananen, Janus war in dieser Drängelei wehrlos. Usch schimpfte nicht, als er mit leeren Händen zur Tür herein kam.

Ich bin Hase und Igel, dachte Janus, als er erwachsen war. Während ich lese, schreibe ich schon weiter, sagte sich Janus, als er erwachsen war. Ich schreibe mit meinen lesenden Augen um die Wette, bin mir immer um mindestens ein Wort voraus, und wenn ich versuche, über den Schatten des Geschriebenen zu springen, hole ich mich nie ein. Ich komme nicht an den Ursprung der Worte, der sich mir entzieht wie das Jenseits der Schatten. Aber ich kann mich leicht einholen und dann auch überholen, wenn ich mir das nur einbilde. Ich bin dann der Schattenspringer und käme aus dem Diesseits der Sprache in ein Jenseits der Worte. Ich drehe die Frage in die Antwort: Ich schreibe, wenn ich lese. Ich muss nur wissen, dass ich der Autor meines Lebens bin, der beste Autor, den ich lesen kann. Ich muss erkennen, dass ich das Buch auch lesen kann, wenn ich es nicht schreibe, sondern einfach nur lebe. Könnte ich dann mein Leben zuklappen wie ein Buch, das ich schon kenne, und ein neues schreiben?

Janus las jeden Abend. Usch kontrollierte das Licht, das er spätestens um zehn ausknipsen musste. Er wollte lesen, und er knipste die Lampe wieder an, wenn Usch das Zimmer verlassen hatte. Wenn er sie kommen hörte, schaltete er die Lampe schnell aus, aber als Usch durch das dunkle Wohnzimmer ging, sah sie das Licht unter der Tür. Janus passte noch besser auf. Aber das ging nicht lange gut. Usch entdeckte die heiße Glühbirne und nahm Janus die Lampe weg. Er las mit der Taschenlampe, aber die Batterien reichten nicht lange. Janus holte eine Kerze aus dem Wohnzimmerschrank, zündete sie an und hielt sie zwischen den Knien fest. Das strengte an, aber er fand mit der Zeit eine Haltung, in der er lange lesend verharren konnte. Eines Tages aber fiel er mit seinen Gedanken derart tief ins Buch, dass er nicht merkte, wie die Daunendecke sich über die Kerze wölbte. Janus las die Geschichte von Merlin, dem Zauberer König Arthurs. Prinz Eisenherz war von der Nebelinsel geflohen, wo er den Verführungen der Hexe Morgana erlegen war und sein Leben fast im Dickicht der Täuschungen und Selbsttäuschungen verloren hatte. Er begegnet vor dem Eingang einer Höhle einer jungen Frau, deren Schönheit ihn anzieht, Merlins Tochter. Sie fordert ihn auf, mit ihr in die Höhle zu gehen: „Je tiefer du in die Höhle eindringst, umso schmerzlicher wird deine Erkenntnis.“ Prinz Eisenherz kann der Versuchung nicht widerstehen und betritt die Höhle. An den Felswänden brennen Fackeln, die Höhle weitet sich und aus der Ferne schimmert ein Glanz in seine Augen. Er spürt die junge Frau im Rücken, aber er kann nur nach vorn sehen. Als er in der großen Felsenhalle steht, blendet ihn der Glanz, den er suchte, so sehr, dass er sich umdreht. Da sieht er Merlins Tochter als uralte Greisin. Er fährt zusammen. „Du bist im Berg der Zeit!“, sagt der Zauberer. Eisenherz spürt eine ungekannte Müdigkeit. Als er weiter in den Glanz hinein geht, aus dessen Mitte er Merlins Stimme hörte, werden seine Schritte langsamer, und fast bricht er vor lauter Erschöpfung zusammen. Da steht Merlin vor ihm und hält einen Spiegel in beiden Händen. Eisenherz sieht sich in schlotternden Kleidern. Sein Kopf ein Totenschädel, die Hände dürre Knochen. „Wenn du weitergehst“, sagt Merlin, „stirbst du.“ Eisenherz bleibt stehen. Zu seiner Linken sieht er in einer riesigen Höhlenschlucht Sodom und Gomorra, zu seiner Rechten einen gigantischen Knochenberg unter einem roten Felsenhimmel. Janus zittert um das Leben des Prinzen. Endlich kehrt Eisenherz um, geht wieder zurück in seine Zeit. Mit jedem Schritt wird er jünger. Als er in den helllichten Tag zurückkehrt, ist Merlins Tochter verschwunden, auch der Eingang der Höhle. – Janus dachte über die Geschichte der Zeit nach. Prinz Eisenherz war nicht in der Höhle, er bildete sich sein Sterben nur ein. Wenn wir nicht an den Tod denken, müssen wir gar nicht sterben. Der Tod ist eine Vorstellung, keine Realität. Wenn ich dem Tod keine Macht einräume über mein Leben, dann gibt es ihn nicht.

Janus roch auf einmal den Qualm. Ein Schwelbrand war entstanden. Janus schlug auf die schwelende Decke, doch nun stoben Funken, er schlug weiter und dann brannte das ganze Bett. Die Flammen machten ihm Angst, bis er aus dem Zimmer lief und Usch weckte. Dann spürte Janus den schwarzen Rohrstock, der im Schlafzimmer hing. Usch wollte ihn diesmal nicht schlagen. Sie gab Hardy das Zepter der Ordnung in die Hand.

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