KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Donnerstag, 28. Oktober 2010, 11:15
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Brechts Radwechsel

222. Kolumne

Perspektivenwechsel

Interpretation: Bert Brecht: Der Radwechsel

Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das rad.
ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
mit Ungeduld?

1953



I. Beschreibung der Situation
Der Fahrer und der ‚Mitfahrer’ werden in einen Zusammenhang gestellt. Es lässt sich jemand fahren („ich“), der mit dem Fahrer (gedanklich) nichts zu tun hat.

II. Reflexion
Der Fahrer erfüllt seinen Auftrag, der Gefahrene äußert Gedanken in der Zeit der Reiseunterbrechung: er reflektiert über den Sinn der reise, vielleicht mit Bezug auf sein ganzes Leben (Lebensreise).

Ungeduld: Das Woher (Herkunft, Start, Ausgangspunkt, Voraussetzungen, Bedingungen) und das Wohin (Ziel, Neues, Anderes) stimmen den Reisenden nicht zufrieden. Unterbrechung ermöglicht (erzwungene) Ruhe in Ungeduld. Die Passivität liegt dem Reisenden nicht, kann ihn aber durchaus weiterbringen.

Die Ungeduld bezieht sich auf das Jetzt. Wenn der Reisende weder mit Start und Ziel noch mit der Passivität im Jetzt einverstanden ist, so will er eine Veränderung seiner (bisher) festgelegten Reise. Er will die Veränderung der Methode (Ideologie), um die (gesellschaftlichen) Bedingungen zu verändern, was dann neue Ziele nach sich zieht.

III. Neuer Gedanke mit Rückbezügen ohne Antwort
Das Gedicht handelt also vom Bewusstsein eines Menschen, der sich für eine Veränderung der Welt besser engagieren will. Es reflektiert im Bild des Radwechsels indirekt die Richtigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR. Die Kritik erscheint im ersten Gedicht der „Buckower Elegien“ noch wohlwollend konstruktiv – im Unterschied zum dritten, „Die Lösung“:

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?



Der DDR-Schriftsteller Yaak Karsunke parodierte Brechts „Radwechsel“, indem er die Perspektive wechselte und mit kritischer Ironie gegen Brechts Ideologiereflexionen das Problem deutlich tiefer hängte; indem Karsunke auf den Titel eines Brecht-Stücks anspielt („Herr Puntila und sein Knecht Matti“), wird der kommunistische Chef in Brechts Gedicht mit dem kapitalistischen Herrn Puntila auf eine Stufe gestellt – alles in allem eine elegante intellektuelle Ohrfeige für Brecht, der sich beim Aufstand am 17. Juni 1953 nicht wirklich auf die Seite der Proletarier gestellt hatte, sondern mit kluger Feigheit aus der Affäre zog, was Brecht in seiner Keuner-Geschichte „Maßnahmen gegen die Gewalt“ subtil reflektiert.


Matti wechselt das rad


Während ich den reifen abmontiere

haut sich der chef auf die wiese,

sieht dauernd rüber.

als fahrer verwartest du stunden, warum

wird er nervös wenn er einmal

auf mich warten muß? Wenn die panne

ihn zu viel zeit kostet: er

kann mir ja helfen.

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