KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Mittwoch, 29. Juni 2011, 22:19
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FRANK WEDEKINDS LULU AUF DER BONNER BÜHNE AUSGEWEIDET (von erasmus)

256. Kolumne - 15. Gastkolumne


Es ist nicht leicht, "Lulu" ohne Obszönitäten auf die Bühne zu bringen. Die Frage ist bloß, welchen Stellenwert ich ihnen im Gesamtkontext gebe, ob der Inszenierung der Seiltanz zwischen Kunst und Pornographie gelingt. Mit "Lulu" fasst Wedekind die Tragödie "Der Erdgeist" und sein Drama "Die Büchse der Pandora" zusammen. Dem "wahren Tier, dem wilden, schönen Tier" des "Erdgeist" kann die Männerwelt nicht widerstehen, zumal sie diese Mythe in den obsessiven Bildern ihrer sexuellen Phantasien immer wieder selbst schafft und damit in den zynischen Unterdrückungsmechanismus der Frau gegenüber einbindet. Ist das auch eine Tragödie der menschlichen Natur, der männlichen wie der weiblichen? Lulu zerstört das Leben derer, die sie als den Inbegriff des Lebens haben sehen wollen und damit schließlich sich selbst im zweiten Teil der Tragödie "Die Büchse der Pandora", wenn sie zur Straßendirne heruntergekommen von Jack the Ripper ermordet wird. Sexualität hat den "Nymbus des Geheimnisvollen (und) wird stets der anarchische Begleiter von Liebe und Kunst bleiben", sagt Camille Paglia in "Die Masken der Sexualität".
Das Bonner Schauspiel hat es mit der Inszenierung von Markus Dietz wieder einmal nicht geschafft, die Ambivalenz und Differenziertheit der literarischen Vorlage erlebbar zu machen. In einem durch abwechselnd herunter- und hochgefahrene transparente Riffelglaswände in der Breite dreigeteilten Bühnenraum, der auf jedes schmückende Inventar verzichtet (eingerichtet von Mayke Hegger) toben sich - wieder einmal zu oft schreiend -, tanzend und spielend die Zerrbilder Wedekindscher Charaktere aus. Anastasia Gubareva gibt hinreißend eine Lulu, die sie jedoch viel zu naiv spielen muss. Es fehlt dieser zentralen Figur die mystische Tiefe des Weiblichen, woraus sich Sicherheit und Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem anderen Geschlecht erklären ließe. Unsere Lulu scheint sich immer nur über ihre männermordende Macht zu wundern, die sie gegenüber ihren wechselnden Liebhabern hat. Arne Lenk gefällt in der Rolle des ihr hörigen Malers Eduard Schwarz, ebenso Hannes Hellmann als Dr. Schöning, der aber, wie die anderen Opfer auch, viel zu weich und hingebungsvoll unterlegen zu ihr aufatmet, ohne zynisches Machogehabe, wodurch Lulu für sie ja gerade erst so gefährlich wird, weil sie das darstellt, was sie sich in ihren geilen Phantasien erträumen und wovor sie zugleich Angst haben. Lediglich Schigolch, den Heiner Stadelmann zu übertrieben realistisch gibt, zeigt die widerliche, ekelerregende und schmierige Seite des Mannes, für den jede Frau nur Mittel ist für seine egoistischen Zwecke. So konträr steht er zu den anderen Figuren, dass man ihn hätte streichen können, wenn er nicht der mutmaßliche Erzeuger Lulus wäre, und das in jeder Hinsicht. Die Gräfin Geschwitz unterstreicht die willenlose Hingabe, die wir schon bei den anderen Figuren zur Genüge haben "bewundern" dürfen - auch hier hätte die Dramaturgie ohne Substanzverlust der einmal eingeschlagenen oberflächlichen Konzeption streichen dürfen. Tat sie aber nicht, und so musst der geneigte Zuschauer 3 1/2 Stunden Szenen aus der Schmuddelküche pornographischer Seichtheiten über sich ergehen lassen, bis dann zum Schluss der Dégout seinen Höhepunkt erreicht, bei dem in Abscheu erregender Realistik Jack the Ripper, zwar mit dem Rücken zum Publikum, aber äußerst realistisch, Lulu geradezu ausweidet.

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