KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Sonntag, 31. Mai 2015, 23:50
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Qingdao – eine neue Welt (4/11)

455. Kolumne

Ich lese Kafkas kleine Parabel „Gib’s auf!“ vor, erläutere einige Wörter, ich lasse einen Studenten den Text lesen. Dann mache ich vor, wie man die Parabel zunächst szenisch interpretieren kann – ich bin der durch die Stadt Irrende und ein Student soll den Satz des Polizisten sagen und sich von mir so abwenden, wie es im Text steht. Ich spiele den Irrenden noch ein zweites Mal, aber anders, legerer, um zu zeigen, wie die Interpretation vom Textverständnis abhängt. Ich führe Begriffe ein – Interpretation und Analyse, Textimmanenz, Werkimmanenz, außertextliche Aspekte: Zeitkontext, biografischer Kontext, Parabel. – Die Studenten interpretieren szenisch die „Kleine Fabel“, die auch eine Parabel ist, und kommen im Unterrichtsgespräch zu Interpretationsergebnissen, die ich an der Tafel festhalte.
Die sprachlichen Fähigkeiten der Studenten sind teilweise recht beachtlich. Die Mitarbeit im Unterrichtsgespräch unterscheidet sich nur wenig von der in Deutschland. Nun kann ich das ganze Literaturseminar vorbereiten. Jetzt ahne ich, wie die Studenten ticken, was ich verlangen kann (viel!) und was noch zu schwer ist (Kafkas Erzählung „Ein Landarzt“ oder Heiner Müllers „Hamletmaschine“ oder lange Texte, etwa Romane).

Kafka / Parabel
Interpretation Kafka: Gib’s auf! / Kleine Fabel
Kurt Marti: Neapel sehen
Gedicht

Parabel
Brecht: Erinnerungen an Marie A.
Jandl: reisebericht
Kafka: Eine kaiserliche Botschaft
Brecht: Maßnahmen gegen die Gewalt
Traum-Wahn-Vision C. G. Jung: Der Traum als Drama
Büchner: Woyzeck-Szene; Benn: Zwei Träume
Vergleichen Benn: Kleine Aster / anonyme Parodie; Rilke: Herbsttag / Ute Zydek: Ich denke an Rilkes Herbsttag-Gedicht
Kafka: Der Aufbruch / Heimkehr
Mythos

Humor Goethe: Prometheus
Kunert: Traum des Sisyphos
Heiner Müller: Herzstück / Ringelnatz: Duett des Schiffsjungen mit einem Passagier / Brecht: Form und Stoff
Übersetzen

Politische Texte Chinesische Gedichte (Li Bai, Du Fu, He Zhizhang) ins
Deutsche übertragen
Borchert: Vier Soldaten
Sprachkritik

Liebe Rilke: Ich fürchte mich vor der Menschen Wort
Rilke: Der Panther
Rilke: Liebeslied / Brecht: Die Liebenden
Form+Ästhetik
Kafka/Parabel
Abschluss
Kafka: Vor dem Gesetz
Ionesco: Die kahle Sängerin, 11. und letzte Szene
Hermann Hesse: Stufen
Rückgabe der Hausarbeiten

Hier wächst, so hoffe ich, eine neue Generation heran, die den Sprung zu wesentlich größerer Selbständigkeit im Lernen und in der Umsetzung von Wissen schaffen kann, eine für die Weiterentwicklung von Bildung, Firmenkultur und alle gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse wesentliche Voraussetzung. Vielleicht schleicht sich eine partielle Demokratisierung Chinas auf diesem Wege wenigstens in der immer breiter werdenden Bildungselite ein und überwindet allmählich die noch bestehende staatliche Struktur der Parteiherrschaft. Aber ich bin skeptisch – die akademische Jugend wird im Campus-Leben überall in China geistig eng und autoritär geführt und bewusst kindlich gehalten. Ich verstehe diese Zusammenhänge nun noch besser, wo ich sehe, wie kaserniert die jungen Studenten hier leben. Es ist ein Erziehungssystem der Abrichtung, weit entfernt von europäischer oder gar deutscher Selbständigkeit im Lernen und Anwenden. Immerhin sind Fragmente eines Unterrichtsdialogs schon machbar. Und technisch sind die Klassenzimmer auf einem neuen Campus besser ausgerüstet als die meisten deutschen Gymnasien oder Universitäten.

Ich bespreche mit den Studenten schwierigere Texte. Kafkas Parabel „Eine kaiserliche Botschaft“ enthält verschiedene Tempora und bedeutungsvolle Konjunktive. Auch die Deutung ist nicht ganz leicht. Brechts Liebesgedicht „Erinnerungen an Marie A.“ kommt gut an, Jandls „Reisebericht“, ein Gedicht, das verschiedene Seelenzustände eines Menschen reflektiert, der weder aus sich heraus noch zu sich findet, ist zu kompliziert.

In der großen Pause bittet mich die zweite junge Gasthörerin der germanistischen Abteilung, Frau Lei Haihua, ins Lehrerzimmer (jedes Stockwerk hat einen kleinen Raum, wo sich die Lehrer zurückziehen können). Frau Lei fragt, inwieweit die geistige Freiheit ein Grundthema der deutschen Literatur sei. „Das ist ein Habilitations-Thema“, sage ich. Sie beschreibt, wie sie geistige Freiheit begreift: als politische Sehnsucht und träumerisch-eskapistische Haltung. Ich nenne Schillers „Don Carlos“ und zitiere Marquis Posa im Gespräch mit dem König: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ Schiller schlägt mit diesem Drama den deutschen Fürsten vor, sich an die Spitze einer Reform zu stellen, wo die Bürger an der politischen Gestaltung beteiligt sind. Nur so kann ein Gemeinwesen blühen. Während unseres Gesprächs habe ich das Gefühl, wir sprechen auch über die politischen Zustände in China ... Ich denke, das Thema der geistigen Freiheit wird in der deutschen Literatur variiert, je nach den historischen Zuständen. Schon bei Kleist wird die Hoffnung enttäuscht, der Geist könne im Sinne der Aufklärung zu objektiven Erkenntnissen gelangen; die tiefsinnige Komödie „Der zerbrochne Krug“ spiegelt in der Persiflage des Ödipus-Mythos Kleists Kant-Erlebnis, wahre Erkenntnis sei unmöglich. Und Heine macht sich in „Deutschland. Ein Wintermärchen“ über den schlafmützigen deutschen Geist lustig:

Man schläft sehr gut und träumt auch gut
In unseren Federbetten.
Hier fühlt die deutsche Seele sich frei
Von allen Erdenketten.
Sie fühlt sich frei und schwingt sich empor
Zu den höchsten Himmelsräumen.
O deutsche Seele, wie stolz ist dein Flug
In deinen nächtlichen Träumen!

Büchner setzt dem deutschen Idealismus in seinen drei Dramen seine politisch-philosophische Kritik entgegen, die materialistisch geprägt ist – der Mensch in seiner Tierhaftigkeit und Abhängigkeit von materiellen Lebensbedingungen, auf die später Marx als erster wissenschaftlich fundiert hinwies. Nietzsche glaubte in noch ganz anderer Weise an die Macht der geistigen Freiheit, er wollte eine Umwertung aller Werte, er postulierte in seiner philosophischen Dichtung „Also sprach Zarathustra“ den souveränen Menschen, der „Übermensch“ soll die Kantsche Mündigkeit vollenden und überhöhen. Das wird in der Zeit des deutschen Faschismus grauenvoll missverstanden und verdorben, Nietzsches Gedanken verkommen im Führerprinzip. In Thomas Manns „Zauberberg“ wird wieder ein Träumer vorgeführt, Hans Castorp, der nach der Wahrheit seines Seins sucht und fragt und viele Antworten erhält, aber nicht begreift, dass er sein Leben selbst gestalten muss. Thomas Mann widerlegt die apolitische Träumerei seines Helden, er lässt ihn am Schluss des Romans als Soldat fallen. ... Ich frage Frau Lei, ob die Lehre an der Ozean-Universität in Qingdao frei sei. Sie sagt, die Partei überwache die Ausbildung. Ich weise auf das Internet hin und die vielen Informationsmöglichkeiten – vielleicht vollzieht sich eine Wandlung in China ganz von allein. Ja, sagt Frau Lei, der Wandel beträfe aber nur eine kleine Elite. Wenn die Partei klug ist, sage ich, setzt sie sich an die Spitze einer solchen Bewegung. – Wie Marquis Posa, sagt Frau Lei ... Dann müsste sich die Partei zuerst selbst reformieren, denke ich, also aufheben.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

Graeculus (69)
(03.05.15)
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