KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Sonntag, 31. Mai 2015, 23:51
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Qingdao – eine neue Welt (11/11)

462. Kolumne

Ich denke über die Wandlung Chinas nach, über die unglaubliche Flexibilität der Menschen, die in einem Zwangssozialismus lebten und nun in einem kapitalistischen Sozialstaat unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei, die so viele Mitglieder hat wie Deutschland Einwohner. Die Kritik an Mao gibt es hier in der gebildeten Schicht. Keiner liebt die Partei, aber sie ist aus lauter Angst vor dem Chaos nach einem ungewissen Umsturz der Machtverhältnisse das kleinere Übel, jedenfalls nach Ansicht der großen Mehrheit. Patriotismus und Mao-Verehrung werden von weiten Teilen der Bevölkerung offensichtlich sehr naiv und unkritisch ausgelebt. Überhaupt scheint mir eine gewisse Kindlichkeit im Bewusstsein der Massen hier kennzeichnend. In Kindheit und Jugend erfahren die Menschen die enge Führung in den öffentlichen Sphären, Drill im Kindergarten und Kasernierung in der akademischen Ausbildung, oder Überbehütung und Verwöhnung in der familiären Geborgenheit.
Es ist ein schwerer Mangel der chinesischen Schul- und Universitätsausbildung, die Studenten nicht erwachsen werden zu lassen. Viele Studenten im 7. Semester haben in vieler Hinsicht ein Bewusstsein wie deutsche Schüler einer elften Klasse. Man muss es gesehen und erlebt haben, um das zu glauben. Kindlichkeit, Gehorsam allen Autoritäten gegenüber sind wesentliche Merkmale des Campus-Lebens, die einen unserer Zeit nicht gemäßen und heruntergekommenen Konfuzianismus zeigen.
Ob die Globalisierung das zu einem guten Teil entleerte konfuzianische Verhalten eines Tages beseitigen wird? Vor kurzem geschah irgendwo in China dies: Ein alter Mann stieg in einen vollbesetzten Bus. Er forderte einen jungen Mann auf, ihm Platz zu machen. Der junge Mann blieb sitzen. Der alte Herr ohrfeigte den jungen Mann, vier Mal. Der junge Mann wehrte sich nicht, er blieb sitzen. Der alte Mann regte sich so sehr auf, dass er einen Herzinfarkt bekam und starb. Ganz China diskutierte über diesen Vorfall. Viele Blogger, vor allem jüngere, verteidigten die Haltung des jungen Mannes. Die Älteren tadelten ihn. Andere kritisierten die Forderung des alten Mannes. Der Kommentar in einer Tageszeitung unterschied zwischen persönlicher Moralität und rechtlicher Verpflichtung: „Jeder hat eine Fahrkarte gekauft, deshalb hat jeder Fahrgast das gleiche Recht auf einen Sitzplatz.“ Konfuzius (Gespräche 1,2) versteht die Ehrerbietung gegenüber Eltern und Senioren als „Wurzel der Menschlichkeit“ und als Garantie für politische Stabilität: „Unter denen, die die Alten achten, gibt es selten Menschen, die gegen die Obrigkeit rebellieren.“ ... Wie geht es weiter? Wird China so wie Deutschland, wo alte Leute meist keinen Platz angeboten bekommen? Wird China mit dem Kapitalismus und wachsendem Individualismus bald genauso kalt wie Deutschland und andere europäische Gesellschaften? – Zhang Huayu sagt: „Wir jungen Leute sagen, die alten Menschen sind nicht böse geworden, sondern die bösen Menschen sind alt geworden. Viele von ihnen sind während der Kulturrevolution aufgewachsen und daher ungebildet, unhöflich und sogar frech und böse. Ihnen fehlt eine gute Erziehung. Sie benehmen sich wie Soldaten und nehmen kaum Rücksicht auf andere Menschen. Wir Jugendlichen tolerieren das nicht mehr. Wir bleiben im Bus sitzen, wenn wir müde sind von der Arbeit. Wirklich schwachen Menschen bieten wir natürlich unseren Sitzplatz an. Wir sind von konfuzianischen Gedanken immer noch geprägt. Wir sollen Respekt haben vor unseren Eltern, Lehrern und älteren Menschen. Die heutigen chinesischen Jugendlichen sind anders als früher. Wir respektieren die älteren Menschen, die freundlich und gebildet sind.“
Die täglichen Sorgen und vor allem das Streben nach amerikanischem oder europäischen Wohlstand und Komfort bis hin zu den allerdümmsten Moden – das ist das, was in China fast alle so sehr bewegt, dass nur wenig Energie übrig bleibt für die Analyse des politischen Systems. Natürlich hat das konkrete Leben mit Maoismus nichts mehr zu tun, auch nicht mit Kommunismus. China ist trotz seines sichtbaren technischen und wirtschaftlichen Fortschritts noch Äonen entfernt von europäischen Tugenden, die uns immer noch stark sein lassen: Mündigkeit, Selbständigkeit und relativ korruptionsfreie Organisations- und Handlungsräume in öffentlichen Institutionen. Was wir in Europa schwere Korruption nennen, ist in China ein Kavaliersdelikt. Die Ereignisse auf dem Tian-an-men-Platz sind hier in den kontrollierten Medien gelöscht und in den Köpfen der meisten Menschen so gut wie vergessen; nur einer politisch interessierten Oberschicht und Systemkritikern sind sie bewusst.
Maos einbalsamierte Leiche liegt in einem Kristallsarg genau auf der zentralen Nord-Süd-Achse des Kaiserpalasts. Der tote Revolutionär wird hier eingeordnet ins konfuzianische Vermächtnis – ein Überkaiser der ersten Volksdynastie.


Dao (Der Weg) 道

Bao, der Suchende, geht mit Li, seinem Begleiter, in der Zeit der Zeitenwende über den Platz des Himmlischen Friedens an der Gedenkstele der Volkshelden vorbei ins Mausoleum des Großen Vorsitzenden, wo sie gleichsam im Schatten, den seine riesige Marmorstatue wirft, ihren langen Marsch durch die Geschichte für eine kurze Weile unterbrechen, damit die erhitzten Köpfe kühler würden. Mehrere der besten Steinmetze aus der Mitte des Volkes, erklärt Li, Herr und Genosse, schufen dieses Denkmal eines kollektiven Ideals. Mao schaut milde lächelnd von oben herab auf die Basis. Der Bildhauer der Augen allerdings wurde, als er erkannte, was die Augen sahen, die er schuf, schizophren, so heißt es. Bao, der mit seinen Augen ganz woanders ist, deutet auf die Schriftzeichen eines Transparents und sieht Li fragend an. Der schaut sich um und liest (tatsächlich!) die Losung: KAPITALISMUS IST EINE KOMMUNISTISCHE TUGEND. Das kann nicht wahr sein!, ruft Bao, das hat Mao nie gesagt! – Natürlich nicht, erwidert Li, doch wenn er heute leben müsste, könnte er auch nichts anderes sagen. – Es bleibt eine Lüge, sagt Bao, so zu tun, als habe Mao dies vor unserer Zeit gesagt. – Keine Lüge, versichert Li, der seinen Gast nachsichtig anschaut, sondern Weisheit. Ihr Europäer sucht immer nur nach der Wahrheit, und wenn ihr glaubt, sie gefunden zu haben, quält sie euch. Uns muss genügen, was wir lesen und denken. Die Sowjetunion hat den Stalinismus bloß reformiert, während sie Stalin verleugnete. Wir aber überwinden den Maoismus, indem wir Mao verehren. – Ich verstehe, meint Bao, und glaubt zu scherzen, als er sagt: KOMMUNISMUS IST EINE KAPITALISTISCHE TUGEND. – Kommt Zeit, kommt Spruch!, antwortet Li und lächelt. – So also, denkt Bao kopfschüttelnd, sieht der Dritte Weg aus.

Qingdao, im September 2014

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