KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Donnerstag, 14. Juli 2016, 23:47
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Dolli & Molli - Hommage an Tom & Jerry

524. Kolumne


Ulrich Bergmann

Dolli und Molli

Sie sind nicht gestorben, sie leben noch heute! Wer?, fragt sich der Fabeln liebende Leser. Wer lebt heute noch, wenn er nicht gestorben ist? Dolli, die kleine Maus im alten Haus im Villenviertel, und Molli, der struppige Kater, ihr gefährlicher Lebensgefährte, der böse Feind vor ihrem Loch. Das ist das große Wunder: Dass sie beide noch leben – nicht nur Dolli, die verrückte Maus, die in ihren Fluchten dem molligen Kater immer wieder von der Schippe springt, sondern auch Molli, der in den entfesselten Jagden so arg gefoppt wird, dass er schon längst dem Tod ins offene Maul gesprungen, ins Messer des Überfeinds gelaufen sein müsste: Bolli, die Bulldogge, Wächterin der Villa, in der sie hausten, einer Wildnis inmitten menschlicher Lebenskultiviertheit, die Tag um Tag und Nacht für Nacht die denkbar beste Illustration des Darwinschen struggle for life darstellte, wenn nur die menschlichen Bewohner ein Auge auf das Paralleluniversum geworfen hätten, das sich unter den Dielen und Schränken, hinter Regalen, in Besenkammern, Kellerräumen und Dachböden, aber auch in den Tiefen des Gartendschungels neu erschuf.

Dolli schlief noch - es war tief in der Nacht, der Mond leuchtete silbergrau aufgeblasen über die Dächer. Dort hoch oben im Balkengewölbe, in das nur eine kleine Maus gelangt, die sich zwischen gesplitterten Holzbohlen hineinzwängt, träumte Dolli vom Tage, von Flucht und Furcht, von Fressen und Gefressenwerden – und manchmal auch von der Liebe ... Denn Dolli lebt ganz allein. Sie liebt die Freiheit noch viel mehr als einen Gespielen der Lust, sie ist noch jung und muss sich erst einmal in ihrer kleinen Welt zurechtfinden und die Grammatik des Lebenskampfs erlernen und erproben, ehe sie Strugglehome, so nennt sie ihr Zuhause, verlässt, um eine Familie irgendwo anders im Villenviertel zu gründen.
Sie träumte von einer kleinen Maus, die eines Abends ins Buschdunkel des Gartens lief, um frische Luft zu atmen, und plötzlich in die leuchtenden Augen der Katze blickte, die vor ihr stand, zum Sprung auf ihre Beute angespannt. „Ich jage gern kleine Mäuse“, sagte sie sanft. Die kleine Maus kämpfte gegen die in ihr aufsteigende Angst. „Die Katzenaugen“, dachte sie, „leuchten in der Nacht, aber es wird dadurch nicht heller, und du siehst, geblendet vom Glanz ihrer bösen Pupillen, nichts als den Schein des Todes, der dich betäuben soll.“ Es ist ja nur ein Traum, dachte sie, da kann ich jeden Gedanken aufschlagen, den ich will. Da riss ihr die Katze mit der rechten oder linken Tatze - was ist links, was ist rechts, dachte die Maus, von mir aus ist es links, von ihr aus rechts, das ist nicht entscheidend für den Ausgang der Geschichte - die Gedanken aus der Hand und knurrte maliziös: „Das ist das falsche Buch!“ Die kleine Maus zitterte vor Angst, sie wusste, wenn sie jetzt wegläuft, schnappt die Katze zu wie eine Falle. Aber wenn ich ..., es zischte ein Funke durchs Hirn, wenn ich ... Sie sprang der Katze mitten ins Gesicht und biss den Lebensfaden, der im Moment der größten Mordlust zwischen den Augen schwarz herauswuchs, ab. Die weißen Schneidezähnchen stachen grellweiß aus dem nächtlichen Schwarz heraus, während die Katzenaugen ausgingen wie das Licht im Kino oder in der Oper. Natürlich ist das nur ein Traum, dachte Dolli, der Traum gefiel mir, und deswegen habe ich ihn zu Ende geträumt. Wenn die Katze mich gefressen hätte, dann hätte ich den Traum einfach beendet. Schön sind die Nächte in meinem Balkengewölbe, dachte sie, im Schatten des Mondlichts besiege ich den Tag.

Arme Dolli, denkt der Erzähler, denn er ahnt die Ängste und Gefahren der kleinen Maus, träume süß bis in den frühen Morgen, der deine Farbe trägt, genieße den Schlaf, der dich stärkt für des Tages Härte! Du brauchst viel Kraft, kleine Dolli, das weiß keiner besser als ich, dein Erzähler, ich kenne deine Feinde und die Feinde deiner Feinde noch besser als du. Pass auf dich auf, Kater Molli lauert heute Morgen vor deinem Loch, aber er kennt deinen Notausgang nicht ... Und siehe da, Dolli, die Maus, hörte die Stimme des Erzählers und dachte nach. Aber was ist, wenn er mich betrügt? Vielleicht braucht er keine Maus mehr für seine Erzählung. Die Katze hört, was er mir sagt, sie schleicht sich an den anderen Balkenspalt, aus dem ich krieche, und frisst mich auf. Was soll ich tun? Wann ist meine Chance zu überleben größer: Wenn ich mich herauszwänge aus meinem oberen Loch, das der Kater kennt, oder aus dem unteren krieche, das er nun erfahren hat? Molli schleicht sich bestimmt zum unteren Loch. Wenn ich oben herauskomme, ärgert er sich. Aber vielleicht denkt er das genauso durch wie ich. Er bleibt einfach am oberen Loch stehen. Also muss ich unten raus! Damit rechnet er nicht. Oder doch. Ich weiß ja nicht, wie weit er denkt. Denkt er weiter als ich, kann ich ihm in die Falle gehen. Umgekehrt bin ich frei. Irrtum! Dolli, du musst genauer nachdenken. Wenn Molli weiter denkt als du, trefft ihr euch vielleicht trotzdem am Loch, und dann bist du geliefert. Der Zufall entscheidet, die Wahrscheinlichkeit beträgt fünfzig Prozent – in jedem Fall. Dein Denken ändert nichts daran. Du bist gefangen im Käfig der Wahrscheinlichkeit. Aber vielleicht hat der Erzähler nur mit mir allein gesprochen, dann weiß Molli nichts von meinem zweiten Ausgang. Der Erzähler mag mich und wird mich nicht so schnell sterben lassen, er braucht mich ja für seine erdachten Abenteuer. Ich gehe unten raus!

Dolli genoss den Triumph des Geistes über die Bosheit der Natur, als sie ihren Bau verließ und über die Speicherbalken raste, hinter ihr die Katze, die jedoch, trunken in ihrer trügerischen Siegesgewissheit, wie gelähmt war und die Verfolgung abbrechen musste, als sie die Maus im Morgengrauen aus den Augen verlor. Dolli war klar, das war nur ein Pyrrhus-Sieg, es wird jedes Mal schwerer, dem Kater zu entwischen, denn der lernt ja auch bei jeder Jagd dazu. Das war ein geradezu dialektisches Abenteuer, das der Erzähler hier arrangiert. Aber weil ich es durchschaue, dachte Dolli, habe ich eine Chance! Ich kenne dich, mein Gott und Schöpfer, ich bin dein Ebenbild und erschaffe mein Leben ohne dich! So hatte sie einen weiteren natürlichen Feind überwunden, und das allein aus der Kraft der Erkenntnis. Falls das stimmt, dass ich ihr Erzähler bin. Vielleicht erzähle ich am Ende nur, was die kleine Maus will, sie schreibt sozusagen ihre eigene Geschichte, dann bin ich nur der Protokollant der Ereignisse, die sich hier ganz von selbst vollziehen. Ja, das ist es!, dachte Dolli, es gibt gar keine Dialektik von oben, wir denken nur so, weil wir einen Namen brauchen für das Selbstverständliche, der das Banale begrifflich tanszendiert ... Aber so redet doch keine Maus, denkt der Erzähler, und da hat er unbestreitbar Recht. Die Maus sagt nur nach, was ich ihr vorsage oder vordenke. Sie kann nur auf den Fundamenten denken, die ich für sie herrichte, und was ich sie tun lasse, so dass sie überhaupt was zu denken hat.
Das ist mir viel zu theoretisch, dachte Dolli, die Maus, ich lasse den Erzähler jetzt links liegen (von ihm aus gesehen laufe ich rechts an ihm vorbei) und konzentriere mich auf meine Beute, ich habe Hunger!

Die Tür zum Keller war einen Spalt geöffnet, sie lief die Treppe hinunter, sprang zum gekippten Fenster und kroch durch den Spalt in den Garten. Der Erzähler war nicht mehr da, er war wie fortgeblasen, weil das Leben nun die Macht ergriff über die Handlungen, die sich in der Unwägbarkeit der Optionen vollzogen ...

An dieser Stelle wird es Zeit zu erwähnen, dass Dolli und Molli (natürlich auch Bolli, die Bulldogge - aber diese Problemfigur, nichts weniger als ein grotesker Abklatsch des Über-Ichs, verschieben wir in die Fortsetzung der langsam anlaufenden Geschichte, die gleichsam wie eine alte Lokomotive viel Dampf benötigt, um die vielen Waggons der schweren Episoden ins Rollen zu bringen, welche in Wahrheit ineinander verschlungen sind zu einem einzigen Bedeutungsknoten; denn alles, was wir sehen, erleben und begreifen wollen, ist nur ein Bild unter Bildern in einem ikonographischen Kosmos, den der Erzähler errichtet wie eine Kathedrale der rein erzählten Vernunft, darin sich das ganze Menschenleben spiegelt mit allen seinen Unwahrscheinlichkeiten - so erscheint uns vieles, und am meisten der eigene Tod) - der Erzähler, irritiert von den Katarakten seiner Gedanken, kehrt nun lieber wieder zurück zum Satzbeginn und teilt dem geduldigen Leser mit, ... dass Dolli und Molli (Bolli ausgenommen, weil der zu einer anderen Bildebene gehört) gar keine Tiere sind, schon gar nicht Katz und Maus, sondern nach den Regeln der Fabelkunst, man kann auch Fabulierkunst sagen, beispielhafte Menschen, wie sie in der leibhaftigen Welt des Lesers vorkommen oder wenigstens vorkommen können, sie sind junge Liebende, und im besten Fall kann der Leser in dieser Geschichte sich selbst wiedererkennen. Fabula docet, heißt es, die Fabel lehrt, sie treibt uns zu Erkenntnissen. Aber der Erzähler weiß davon weniger, als gemeinhin angenommen wird, vor allem in den Schulen, er hat noch nicht einmal die absolute Deutungshoheit, die gehört immer nur dem Leser ... Aber nun schweife ich allzu sehr ab und verliere den Faden der unerhörten Liebestragödie, in die Dolli und Molli gegen ihren Willen hinein geraten, wenn ich die kleine Maus zu lange allein durch den dunklen Garten laufen lasse, denn aus dieser von mannshohen Mauern eingeschlossenen Flora gibt es keinen Weg zurück zur Kultur innerhalb der Villa oder in die rohe Freiheit der Straße, weil die Schlupflöcher des Lebens schärfer bewacht wurden, als Pluto der Höllenhund dies einst vermochte. Und so geschah es. Das Wahrscheinliche, je näher es uns auf den Leib rückt, trifft uns wie der unwahrscheinlichste Hieb mitten ins Herz ...

Als Dolli aus den Petersilienbeeten auftauchte, stand hoch über ihr und breitbeinig - sie war betäubt von der Gewalt der Erscheinung, der aufgeblasene, hundsgemein grinsende Kopf des obersten Gottes von Strugglehome: Bolli ...

(Fortsetzung folgt.)

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