Krien, Daniela:

Der Brand

Roman


Eine Rezension von  Quoth
veröffentlicht am 19.02.24

Das Coverbild von Brasilier, das zwei ferne Berittene mit vier Pferden vor rötlich brennendem Himmel zeigt, ließ mich an einen Text wie „Budjonnys Reiterarmee“ von Isaac Babel denken. Aber es kommt nur ein einziges Pferd in dem Buch vor, die 23jährige Stute Baila, und die wird von Peter Wunderlich, einem depressiven 55jährigen Literaturprofessor, am Halfter geführt, der in ihr seinen ganzen Trost findet, nachdem er den Liebeshalt an seiner Frau, der Psychologin Rahel, verloren hat. Aber warum? Sie ist ihm in einer Sache „in den Rücken gefallen“, die ihn zutiefst aufgewühlt hat. Er lehrt deutsche Literaturgeschichte an der TH Dresden, und bei der Ankündigung eines Seminars über „Geschlechterrollen in der Literatur des 19. Jahrhunderts“ kam es zum Aufstand einiger Student:innen: Das sei eine Fragestellung, die auf die üblichen binären Klischees hinauslaufe, und als er sich damit rechtfertigt, auch in Klischees stecke oft was Wahres, z.B. sei reines Machtstreben Frauen im Gegensatz zu Männern oft zuwider, wird er als Chauvinist beschimpft, weil er Frauen für fehlenden Machthunger lobe, statt sie darin zu bestärken, nach mehr Macht zu streben. Besonders hervor tut sich dabei Olivia P., die Wunderlich weiter als Frau anredet, weil sie als Frau in seiner Liste steht, sie/er aber besteht darauf, nicht binär zu sein und will sich als Frau nicht anreden lassen. Als Wunderlich das seiner Frau erzählt, hätte sie ihn fast einen Krümelkacker genannt, sagt dann aber: „Wer weiß, was die arme Person für eine Leidensgeschichte hinter sich hat. Nenn sie doch einfach so, wie sie will.“ Das war der Moment, in dem sie ihm in den Rücken fiel. Er sah sie mit „fremden“ Augen an, ging hinaus. Von da an „wurde es still zwischen ihnen.“

Der Presse entnimmt Rahel, dass Olivia P. einen wahren Shitstorm in den sozialen Medien gegen ihren Mann ausgelöst hat. Die Presse benutzt den Streit für eine Abrechnung mit dem Osten: „Die ehemals Indoktrinierten hätten das offene und freie Denken immer noch nicht gelernt … Der ganze entsetzliche Mist, den sie alle nicht mehr hören konnten.“ Und in diesem Konflikt fällt seine Frau ihm in den Rücken; er schläft nicht mehr mit ihr, und als sich nun die Möglichkeit anbietet, auf einem verlassenen Bauernhof in der Uckermark Ferien zu machen (das gebuchte Ferienhaus in Oberbayern ist abgebrannt), übernehmen sie es, den Hof und seine Tiere zu hüten, solange Ruth, eine alte Freundin Rahels, ihren Mann Victor, der einen Schlaganfall erlitten hat, in der Reha betreut.

Ohne den auslösenden Konflikt zwischen Genderism und Konvention weiter zu verfolgen, beschreibt die Autorin die langsame und zögernde Wiederannäherung zwischen den Ehepartnern über gemeinsame Essensplanung, Zusammenarbeit in der Küche, gemeinsames Schwimmengehen. Rahel erinnert sich daran, was sie an Peter einst geliebt hat: Seine Klugheit, seine Attraktivität, seine Verlässlichkeit, seinen Humor. „Nichts davon hat er verloren. Und darum will sie ihn nicht verlieren.“ Außer mit der Stute Baila freundet er sich mit einem fluglahmen Weißstorch an, mit einer einohrigen Katze und den Hühnern. Die Pandemie wittert im Hintergrund, sie hat Peter weitgehend von seinen Lehrpflichten befreit. Rahel würde sich des Gedankens gern erwehren, alles werde immer schlimmer: „Doch es ist nicht wegzudiskutieren – die Wälder sterben, das Eis schmilzt, die Menschen werden nicht klüger. Und weil es so viele Menschen gibt, mehr als je zuvor gegeben hat und sie immer noch mehr werden, wächst der Schaden, den sie anrichten, ins Unermessliche. Die Idee, dass die Seuche nichts anderes sei als ein längst fälliges Korrektiv, ist ihnen schon im Frühjahr gekommen.“ Offenbar setzt gemeinsames Nachdenken und Miteinanderreden wieder ein, ein paar Flaschen Rotwein helfen nach – und Nähe wird wieder möglich, befördert auch durch das Miterleben von Scheidungsabsichten in der nächsten Generation.

Neben der Wiederbelebung ihrer Ehe wird Rahel Wunderlich durch häufige Besuche im Atelier des Bildhauers Victor auch zur Suche nach ihrer Identität angeregt, denn dort findet sie viele Zeichnungen Victors, die ihre Mutter Edith und sie selbst als Kind darstellen. Rahel weiß nicht, wer ihr Vater ist, Edith behauptet, dass alles Suchen nach dem attraktiven Studenten, der eine Nacht mit ihr verbrachte und dann verschwand, vergeblich gewesen sei. Für Rahel wird es immer wahrscheinlicher, dass Victor ihr Vater ist, und als Victor beim Baden in der Ostsee ertrinkt, teilt Ruth ihr mit, sie habe diesen Gedanken auch gehabt, habe Victor einmal direkt gefragt, aber er habe es bestritten, doch er habe immer gewollt, dass Rahel den Hof Dorotheenfelde in der Uckermark bekommt.

Und noch auf einer anderen, ideologischen Ebene geht es Rahel – und Peter – um ihre Identität: Sie haben die „Beutemacher“ aus dem Westen erlebt, die Eltern des Schwiegersohns waren „Wendeverlierer“ ("Das Übliche: Betrieb geschlossen, Job weg, Anschluss verpasst, Krankheit, Depression usw."), und nicht nur nach dem Shitstorm gegen Peter erleben sie eine Presse, die nicht von Tatsachen berichtet, sondern ihnen "Konstrukte" aufschwatzt, mit denen sie nichts anfangen können. Für viele von uns im Westen bedeutet „Nie wieder!“: „Nie wieder Faschismus!“, für Peter ist das zentrale Trauma die Bombardierung Dresdens, was an der Empörung deutlich wird, mit der er den Spruch „Bomber Harris do it again!“ auf einem Studenten-T-Shirt wahrnimmt. Peter wundert sich, dass sein Sohn als Bundeswehrsoldat seinen Kopf hinhalten soll „für diesen Staat! Mit seinen Verboten, Geboten und Verordnungen bis in die tausendste Verästelung, der von echter Freiheit überhaupt nichts hält.“ Passend dazu hat Peter sich den Essay „Der Waldgang“ von Ernst Jünger mit in die Ferien genommen, in dem Jünger, noch geprägt durch die Erfahrung der von ihm selbst mit herbeigeführten Nazizeit, alle Staatlichkeit, auch die der jungen Bundesrepublik, verdächtigt, die individuelle Freiheit zu vernichten, und dass man sich dem nur durch das In-den-Wald-Gehen, durch intensivste Besinnung auf sich selbst, also durch eine Art innerer Emigration entziehen kann. Ist das uckermärkische Idyll, in dem Rahel und Peter ihre Ferien verbringen, nicht ein solcher Rückzugsort? Ein anderes Ferienbuch Peters sind Pasolinis Freibeuterschriften. „Pasolini nennt den Konsum den neuen Faschismus,“ sagt er, und Rahel bewundert ihn für seine „Leidenschaft des Denkens.“ Rahel und Peter sind keine Wendeverlierer, er hat eine Professur, sie hat eine offenbar gutgehende psychotherapeutische Praxis – aber sie fremdeln noch mit dem ihnen übergestülpten System, das ihre Eltern in Verkennung seiner Brutalität so naiv waren herbei zu demonstrieren.

Nicht völlig bruchlos hat die Autorin die beiden Motive Identitätssuche und Wiederbelebung einer in die Jahre gekommenen Ehe miteinander verschmolzen und auch noch den Besuch der Tochter Selma mit ihren beiden ungezogenen Söhnen wie ein Scherzo eingearbeitet. Ein lesenswerter Roman, gedankenreich, erfahrungsgesättigt – und spannend ohne Verbrechen!
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