Film & Fußball

Eine cineastische Mannschafts-Kolumne


Die Kolumne des Teams " Film & Fußball"

Samstag, 02. Mai 2020, 07:48
(bisher 744x aufgerufen)

Alfred Hitchcock: North by Northwest (MGM 1959)

von  Dieter_Rotmund


... zusammen mit kV-Autor  Willibald

(0) Das 136 min lange Krokodil

In der Zeit des Stubenhockens ist Zeit für Altes.
Als ich ein Junge war, lag ich sieben Wochen mit Diphtherie im Bett, hohes Fieber, Wadenwickel, Antibiotika gab es noch nicht, meine Mutter saß neben mir und erzählte mir stundenlang Geschichten, mein Vater las mir Heldensagen vor, jede Woche bekam ich ein Spielzeug, obwohl es einmal Norm gewesen war, dass man dieses Blechzeugs zu verachten hatte.


Abb.1: Krokodil, kann Feuer spucken

Ein Krokodil, grün und grässlich, zum Aufziehen mit der Spiralfeder drin, ein Maul, das auf- und zuklappte. Und das Beste: Es spie Feuer aus dem Rachen. Unter der Bettdecke, in der Höhle aus Stoff und Federn spritzten die Funken, die Schatten wanderten und es stank ganz teuflisch nach Schwefel. Der kleine Junge war beeindruckt, ungeheuer, und er wollte der Sache auf den Grund gehen. Also dann: Die Blechlamellen lösen, die Federspannung befühlen, den Feuerstein im Rachen und das Reiberad. Es war wunderbar und erhebend. Und der Zauber war keineswegs zerstört nach dem Auseinandernehmen.

Hitchcocks Film „North by Northwest“ ( Deutscher Titel: "Der unsichtbare Dritte") stammt aus dem Jahr 1959, Ernest Lehmann hat in unendlichen Diskussionen mit dem Regisseur das Script geschrieben, Bernard Herrmann die Musik, MGM mit dem Löwen („ars gratia artis“) firmiert als Vertrieb, 136 Minuten ist das Werk lang, aufgenommen in Farbe und dem Breitwandverfahren VistaVision, in seinem Plot und den vielen Wendungen fast nicht nacherzählbar, in seiner filmischen Gestaltung fast absonderlich komisch, voll lebensbedrohlicher Action, hinterlistigem Suspense. Ständige Düpierung der Hauptfigur und des Zuschauers, Identitätsfragen kafkaesker Art, kalauernder Humor -

Schauen wir uns das 136 Minuten lange Krokodil an und nehmen wir es auseinander. Auf die Gefahr hin – nun ja - mit einer öden Inhaltsangabe den Leser zu langweilen. Aber Krokodile, Hitchcock und diese verrückten Vögel, nein, dort auf den drögen Weiden der Langeweile, da treiben sie nicht nicht herum.


Abb.2: Alfred H. und ein Rabe

Ein wenig sachlicher gesprochen: Für den Fall, dass man in letzter Zeit nicht "Der unsichtbare Dritte" gesehen hat, findet sich unter (1) bis (6) recht ausführlich die Handlung skizziert. So kann man Erinnerungen auffrischen und über ein Wiedersehen entscheiden. Auch finden sich Beobachtungen dazu, wie die Filmszenen mit dem Bewusstsein des Zuschauers interagieren. Man kann Fährten sehen, Fährten lesen, Deutungsspiele spielen. Schon beim Betrachten dieser Liste dürfte unser Bewusstsein erste Prognosen zu der Handlung versuchen:

- Roger O. Thornhill (Werbefachmann)
- Clara Thornhill (Mutter des Werbefachmannes)

- Eve Kendall (Geliebte von Vandamm, Doppelagentin)

- Phillip Vandamm (Chef eines nichtamerikanischen Dienstes)
- „Der Professor“ (Chef eines amerikanischen Geheimdienstes)

- Leonard („Rechte Hand“ von Vandamm)
- Valerian (Vandamms „ Erster Mann fürs Grobe“)
- Licht (Vandamms „Zweiter Mann fürs Grobe“)

Wie die meisten Thriller- und Spionagefilme hat der Film North by Northwest eine komplexe Handlung. Es gibt zwei Plots, die sich miteinander verknüpfen und sich gegenseitig erhellten:

In dem einen verwechselt eine Bande von Spionen den Geschäftsführer einer Werbeagentur, Roger Thornhill, mit einem Geheimagenten, George Kaplan.
Den Spionen gelingt es zwar nicht Roger zu töten, doch wird er zum Hauptverdächtigen in einem von der Bande begangenen Mord und muss vor der Polizei fliehen. Nun versucht er auf eigene Faust, den wahren George Kaplan ausfindig zu machen. Leider existiert Kaplan nicht; er ist lediglich ein von der United States Intelligence Agency (USIA) erfundener Köder. Soweit der Verwechslungs- und Spionage-Plot.

Rogers Verfolgung von Kaplan führt zum zweiten Plot: Sein Treffen und seine Verliebtheit in Eve Kendall, die die Geliebte von Philip Vandamm, dem Anführer der Spione, ist.

Der Spionageplot und der Liebesplot überlagern, verknüpfen und intensivieren sich, als Roger erfährt, dass Eve tatsächlich eine Doppelagentin ist, die heimlich für die USIA arbeitet.
Er muss sie dann vor Vandamm retten, der ihr Doppelspiel entdeckt und beschlossen hat, sie zu töten. Im Laufe all dessen findet Roger auch heraus, dass die Spione mittels Skulpturen Regierungsgeheimnisse aus dem Land schmuggeln.

(1) Handzeichen in der Lobby

Roger O. Thornhill (Cary Grant), ein amerikanischer, erfolgreicher, smarter, typischer Werbefachmann aus Manhattan, ein „Madison Avenue Ad Man“, zweimal geschieden, keine Kinder, betritt das Plaza-Hotel - im Aufzug hören wir als Hintergrundmusik "It´s a most unusual Day". Roger sitzt bei einem Drink im Oak-Room des Plaza-Hotels, zusammen mit Geschäftsleuten. Da passiert etwas Seltsames: Rogers Sekretärin hatte seine Mutter telefonisch daran erinnern sollen, dass sich Mutter und Sohn am Abend zum Essen und einer Theateraufführung treffen wollten. Im Oak Room fällt Roger ein, dass seine Mutter derzeit bei Freundinnen Bridge spielt, telefonisch nicht erreichbar.


Abb.3: Ein Telegramm für Mutter!
Das Verhängnis nimmt seinen Lauf

Als korrekter Sohn trotz aller Lässigkeit sucht er mit Handzeichen nach einem Boy, um vom Hotel aus ein Telegramm aufzugeben. Im Hintergrund ruft die ganze Zeit ein Page einen Namen auf: "George Kaplan, George Kaplan, George Kaplan". Wir Zuschauer nehmen an, ein normaler Suchvorgang: Allerdings scheint es so zu sein, dass szeneinterne Figuren dieses Handzeichen missdeuten. Für sie scheint sich Roger als eben dieser George Kaplan zu identifizieren. Für zwei finstere Gestalten Grund genug, Roger mit Gewalt aus dem Raum zu eskortieren und ihn in eine pompöse Villa zu bringen.

(2) Betrunken hinter dem Mercedesstern

Dort wird Thornhill vom schurkischen Phillip Vandamm (James Mason), Chef des ausländischen, feindlichen Agentenrings, verhört und bedroht.


Abb.3a: Trinkzwang

Als er – natürlich - keinerlei Auskünfte geben kann und jede Identität mit Kaplan bestreitet - in Vandamms Perspektive ein leicht durchschaubares Manöver - wird Roger mit einer Flasche Whiskey schwer alkoholisiert und soll betrunken in einem Mercedes über die Klippen in den Tod stürzen. Allerdings erkennt der alkoholisierte Roger im letzten Moment die Situation und entkommt in einer Trunkenheitsfahrt – vielleicht bedingt durch seine alkoholischen Gewohnheiten - gerade noch dem Verhängnis.


Abb.4: Fahrzwang und Guter Stern

Er steht – semiotisch – unter einem guten Stern, „Mercedes“ steht für ein perfektes Unternehmen zu Wasser, zu Land und in der Luft, ein Leitstern. Übrigens im Subtext auch eine Art Zielvorrichtung, sei es zur Orientierung, sei es, um etwas ins Visier zu nehmen, dieser dreigliedrige Stern in seinem Umkreis - so kann man ihn lesen.

Weder die Polizei noch seine eigene Mutter, glauben ihm die Geschichte mit Vandamm und der Villa. Das Geschehen bleibt für den Protagonisten und den Zuschauer verwirrend, irgendwie auch amüsant.

(3) CIA – die Regie des „Professors“

Thornhill hat sich trotz seiner Trunkenheit Daten und Hotelbesuchstermine gemerkt, die ihm Vandamm vorhielt, um seinem Gegenüber klarzumachen, dass man alles über Kaplan wisse und dass Roger seine Identität nicht mehr leugnen solle. So verfolgt Roger nun die Kaplan-Figur und ihre Adressen bis zu einem New Yorker Hotel - das Zimmer ist leer, aber als er bei einem Anruf gedankenlos ans Telefon geht, sind die Agenten nur noch mehr davon überzeugt, dass er ihre Zielperson ist. Und als er nach einem Besuch bei den Vereinten Nationen im UN-Gebäude zum Tatverdächtigen bei der Ermordung eines amerikanischen Diplomaten wird, schließt sich die Polizei der Verfolgung an. Feindliche Schurken. Polizisten. Alles Roger?

Da Thornhill weiß, dass Kaplan eine Hotelreservierung in Chicago hatte, nimmt er einen Zug, wo er die kokette Eve Kendall (Eva Marie Saint) trifft. Sie bietet an, ihm zu helfen - ohne zu verraten, dass sie heimlich für Vandamm arbeitet. Eine Liebesbeziehung bahnt sich an, in der die Signale mehrdeutig sind: Geht es Eve nur um eine Manipulation Rogers? Was sollen ihre Kontakte während der Zugfahrt zum ebenfalls mitfahrenden Passagier Vandamm?


Abb.5: Wir sind in Washington D.C.

Zum ersten Mal verlässt die Filmerzählung den Erlebnishorizont ihrer Hauptfigur. Dem Filmzuschauer wird eine Diskussion einer CIA-ähnlichen Gruppe präsentiert (United States Intelligence Agency: USIA). Ihr Mastermind, der „Professor“, liefert den Hintergrund des bisherigen Geschehens:

„We did not invent our non-existent man, and establish elaborate behaviour patterns for him, and move his prop belongings in and out of hotel rooms, for our own private amusement. We created George Kaplan and labored to convince Vandamm that this phantom was our own Number One, hot on his trail, for a desperately important reason.“ [...]
„If we make the slightest move to suggest that there is no such agent as George Kaplan [...] then Number One, working right under Vandamm’s nose, will immediately face suspicion, exposure and assassination, like the two others who went.“

Der Zuschauer weiß nun, dass Kaplan eine erfundene Lockvogelfigur ist. Und dass sich in Vandamms unmittelbarer Nähe ein Meisterspion aufhält, den es zu schützen gilt. Damit ist im Subtext unsere Aufmerksamkeit – vielleicht schon – auf die Frauenfigur Eve gerichtet. Spielt sie ein Doppelspiel zwischen Vandamm und dem „Professor“? Arbeitet sie vor allem für den „Professor“? Wie schätzt sie Rogers Wert ein, im Spielfeld der Liebe, im Spielfeld der Politik?

(4) Die große Kreuzung

Als Eve und Roger in Illinois ankommen, schickt sie ihn – für den Zuschauer offensichtlich im Auftrag Vandamms - zu einem Treffen mit Kaplan - aber der Ort entpuppt sich als leeres Feld und der Städter Thornhill wird von einem Pestizid streuenden Flugzeug gejagt und massiv bedroht. Als er in einem Maisfeld Deckung gesucht hat und dort nicht mehr bleiben kann, rennt er auf die Fahrbahn, versucht einen heranbrausenden Tanklaster zu stoppen, lässt sich unter ihn fallen.


Abb.6: North by Northwest.
Im Fadenkreuz

Der Tanklaster hält mit quietschenden Bremsen. Das Flugzeug – reichlich unwahrscheinlich – kann seinen Vernichtungsflug nicht mehr stornieren, es schlägt in den Tanklaster ein. Der Feuerball einer Explosion lodert auf. Die Fahrer und Roger retten sich in die Nähe. Neugierige und entsetzte Menschen steigen aus drei Autos und nähern sich vorsichtig dem Unglücksplatz. Roger kann daher in einen „unbemannten“ Pick-Up springen und sich den Feuerherd hinter sich lassen – auf der Ladefläche steht festgezurrt ein Kühlschrank.

Roger – zusehends verwirrt wegen des Anschlags und Eves Rolle dabei - nimmt nun Eves Spur zu einem Auktionshaus auf, wo sie mit Vandamm zusammen eifrig auf eine primitive Statue bietet. Vandamms Gehilfen wollen ihn töten, da spielt Thornhill verrückt, so dass die Polizei kommt und ihn festnimmt. Man bringt ihn aber nicht zur Wache, sondern zum „Professor“, dem amerikanischen Spionagechef.

(5) Das Meisterspiel

Nun wird Thornhill zum ersten Mal der Hintergrund des für ihn absurden Geschehens erklärt und auf den Stand gebracht, den der Zuschauer schon besaß: George Kaplan ist eine Fiktion, die erfundene Figur soll Vandamm von einem Agenten im unmittelbaren Umfeld ablenken, der Zuschauer ahnte es: Eve Kendall. Die ist nun aber kompromittiert. Roger hatte ihr in der Auktion immer wieder die Liebesszenen im Zug vorgeworfen. Vandamm kann zumindest nicht ausschließen, dass es Sympathien bei Eve gibt.

Thornhill weiß nun, dass Eve wohl unter Zwang und aus patriotischen Interessen das Maisfeldgeschehen mitgemanagt hat und dass sie in Gefahr ist, enttarnt zu werden, wenn sich die Aufmerksamkeit auf sie richtet. So stimmt Roger einem weiteren Spielzug zu. Die Details werden dem Zuschauer vorenthalten, Flugzeuglärm übertönt das Gespräch zwischen dem professoralen Regisseur und Roger. Wir wissen zum ersten Mal weniger als die Hauptfigur.

Roger folgt den feindlichen Agenten um Vandamm – Eve ist bei Vandamm - zu ihrem nächsten Stopp, Mount Rushmore, mit den vier riesigen Köpfen der amerikanischen Präsidenten George Washington (1. US-Präsident), Thomas Jefferson (3.), Theodore Roosevelt (26.) und Abraham Lincoln (16.). Die Hochebene politischer Ideale und Exekutive ist da erreicht. Wir finden uns im heiligen Felsenschrein der Demokratie.

Der Zuschauer mit seinem Halbwissen wird nun tatsächlich überrascht. Er wird nämlich Zeuge eines massiven Showdowns.


Abb.7: Big Blind Bang

Eve schießt auf Thornhill, der fällt getroffen, wird vom Professor in einem Krankenwagen wegtransportiert. So hat Eve zum einen den Sympathieverdacht geschwächt oder entkräftet, hat ihre Loyalität gegenüber Vandamm bewiesen und letztlich "Kaplan" aus der Handlung eliminiert Die „Leiche“ wird vom amerikanischen Abwehrchef weggeschafft. Eve soll mit Vandamm ins Ausland fliegen. Und von dort, nachdem sie das Umfeld erkundet hat, wieder zurückkommen. Eventuell zurückkommen. Da all diese Erklärungen bei Thornhill nichts nützen und er Eve dabehalten will, wird er gewaltsam außer Gefecht gesetzt. Der Plan des „Professors“ kann/könnte nun ungehindert „laufen“.


Abb8.: Stone Faced

Hier wird Thornhill nun aktiv, er düpiert den „Professor“ mit dem Wunsch nach einer Flasche Whiskey, wohl auch in Erinnerung an seine gelungene Trunkenheitsfahrt mit dem Mercedes. Während der Professor die Flasche und zwei Gläser organisiert, schleicht sich Roger weg und in das Haus von Vandamm hoch in den Felsen von Mount Rushmore. Dort stellt er fest, dass die Statue den Bauch voller gestohlener Mikrofilme hat. Und erlebt als verdeckter Zeuge mit, dass man Eves Revolver und die Platzpatronen entdeckt. Sie soll nach dem gemeinsamen Abflug von der Felsenvilla aus dem Flugzeug geworfen werden. Ein kurzes Zeitfenster tut sich auf. Vandamm weiß nicht, dass Eve über seine Planung Bescheid weiß: Roger hatte eines seiner Streichholzbriefchen mit der Warnbotschaft beschrieben und das „Briefchen“ in den Raum geworfen, in dem sich Eve und einer der fremdländischen Gangster aufhalten.

So schnappt sich Roger die Statue samt Mikrofilmen und die geliebte Eve. Sie fliehen über die Köpfe des Mount-Rushmore-Monuments, während Vandamms Männer sie verfolgen. Nur eine gut platzierte Kugel eines Park-Rangers rettet sie vorläufig – mitten unter der steinernen Nase von Abraham Lincoln. Die Gangster sind tot und das Happy End ist ganz nahe. Allerdings ist da ein “Cliffhanger“.

(6) Der Match-Cut

Eve hängt über dem Abgrund, an einer Hand gerade noch festgehalten von Roger.


Abb.9: Cliff-Hanger

Vielleicht kennen einige Leser einen berühmten, einen sehr berühmten Match-Cut – ein „zusammenfügender Schnitt“. Man findet ihn in Stanley Kubricks „Odyssee 2001“ aus dem Jahr 1968: Ein Menschenaffe wirft einen Knochen, mit dem er gerade einen Artgenossen im Kampf um die Wasserstelle erschlagen hat, triumphierend in die Luft. Der Knochen wirbelt aus dem Bild in die Höhe. Schnitt: Ein Satellit in der Erdumlaufbahn hoch am Himmel, der den Flug des Knochens scheinbar „fortsetzt“. Millionen von Jahren sind übersprungen. Die Distanzwaffe Knochenkeule und das Weltraumgerät bilden ikonisch Menschheitsgeschichte ab.

 Der wirbelnde Knochen

Was tut Hitchcock? Tollkühnes und Komisches und Ernsthaftes und Treuherziges und Raffiniertes.
Der dramatische Rettungsversuch wird nicht auserzählt, Kitsch und Sentimentalität und Glorioses bleiben außen vor oder innen drin drunter. Mit einem Ruck zieht Roger Eve nach oben in die Schlafkoje eines Schienenzuges.


Abb. 10: Hochzeitbett im Zug

Der Southern Pacific rast in einen Tunnel hinein.


Abb.12: Der moralische Production-Code wird unterlaufen

Kein Abgrund mehr, sondern das sichere Hochzeitsbett im Schlafwagenabteil. Weit weg von der ländlichen Einöde der Maisfeldkreuzung, weit weg von der politischen Hochebene präsidentieller Monumentalität. Und mitten im lustvollen Sabotieren der puritanischen Filmcodes der Fünfziger Jahre.


Abb 13: Ein meisterliches Ende

(Nächstens vielleicht mehr)

Nachweis:
Roger O. Thornhill will abends eigentlich nichts Besonderes, nur mit seiner Mutter ins Theater. Aber dann begibt er sich ungewollt auf eine heldenhafte Irrfahrt. An deren Ende weiss er, wer Kaplan ist, hat eine blonde schöne Frau aus den Fängen von landfremden Schurken befreit und zieht sie mit einem kräftig-zärtlichen Ruck nach oben ins Hochzeitsbett des mächtig-geschmeidigen Zuges auf der Fahrt weg vom gebirgigen Schrein der Präsidenten in die pulsierende Stadt New York.
Filme erzählen Geschichten mittels Bildern. Bilder sind für ein vertieftes Verständnis unerlässlich.
Dem weiß sich auch diese Kolumne verpflichtet. Die Bilder sind überwiegend "Stills" aus NORTH BY NORTHWEST (Alfred Hitchcock, MGM, USA 1959).
Die Plakatbilder sind public domain.

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Nachwort von Dieter Rotmund

Was für ein Film!
North by Northwest ist ein Meilenstein der Filmgeschichte, ein zeitlos schönes Werk. Die abgegriffenen Begriffe wie „Klassiker“ oder gar „Kultfilm“, schon für weitaus schwächere Film benutzt, verbieten sich bei diesem Werk aus dem Jahre 1959 eigentlich. Drehbuchautor Ernest Lehman und Regisseur Hitchcock haben darin einen amerikanischen Jedermann der 50er und 60er Jahre geschaffen, den wir zwar aktuell anders gestalten würden, aber noch als solchen erkennen. Ein „Werbefuzzi“, wie man vielleicht heute sagen würde, Roger Thornhill (Gary Grant) gerät durch einen dummen Zufall in große, ihn in seinem Berufsalltag grotesk anmutende Schwierigkeiten zwischen zwei Rivalen und ihre Organisationen, die auch vor Mord und Totschlag nicht zurückschrecken. Wer hat sich nicht so etwas schon einmal getagträumt? Und niemand will ihm glauben! Nicht einmal seine Mutter Clara (herrlich: Jessie Royce Landis) tut das und verdreht zum wiederholten Male die Augen. Man sagt, zu den Grundängsten der Menschen gehöre es, grundlos auf offener Straße von Unbekannten erschlagen zu werden. Das ist trotz allen Humors in North by Northwest Hitchcocks Leitmotiv für das erste Drittel des Films.

Was nach dem ersten Verwirrspiel für Thornhill folgt, ist die Jagd des Gejagten nach der Wahrheit, die sich nur langsam enthüllt. Ins kollektive cineastische Gedächtnis hat sich dabei die „Maisfeldszene“ eingebrannt und wurde seitdem oft kopiert, ohne die hohe Gesamtqualität von North by Northwest zu erreichen. Sie bleibt aber eine deutliche Metapher für den schutzlosen Jedermann Thornhill, der nur mit Glück nicht zwischen den Fronten aufgerieben wird. Seine Waffen sind ein seriös aussehender Anzug und eine immer perfekt sitzende Frisur, zur Not drückt er dem Gegenüber (übrigens auch seiner Mutter!) ein paar Dollarscheine in die Hand, um notwendige Gefälligkeiten zu bekommen.
Mich persönlich hat eher die Mount Rushmore-Szene als das Maisfeld fasziniert. Was für eine Idee, die finale Verfolgungsjagd über die steinernen, riesenhaften Gesichter vergangener Präsidenten zu führen! Der Schauplatz ein Monument, ein Monument auch der Film.

Roger Thornhill: I don't like the way Teddy Roosevelt is looking at me.

Nachdem ich den Film in meiner Jugend im Kommunalen Kino meiner Heimatstadt sah, konnte ich ihn in den 1990er Jahren abermals von einer 35mm-Kopie anschauen, in einem schon lange nicht mehr existierenden Kino in der Kölner Theobaldsgasse. Nun habe ich ihn für diese Kolumne auf DVD und in OmU wiederangesehen, mit großer Freude. Es gab auch für mich etwas Neues zu entdecken: Die Schauplätze sind meisterhaft ausgesucht, es sind – wenn auch oft unauffällige – Ikonen des modernen Designs und der Architektur. Schon der Hintergrund des Intro: Eine gläserne Wolkenkratzerwand. Das Haus am Mount Rushmore von Architekt Frank Llyold Wright, die Automobile sehen aus wie Ausstellungsstücke und selbst einfache Gebäude-Foyers sind die heimlichen Stars des Films. Wer etwas Ähnliches in gleich guter Qualität sehen will, dem sei Hitchcocks vier Jahre jüngerer To Catch a thief empfohlen, oder auch Edward Dmytryks Mirage (deutsch „Die 27. Etage“, 1965) mit Gregory Peck und der wunderbaren Diane Baker in den Hauptrollen.

Clara Thornhill: You gentlemen aren't REALLY trying to kill my son, are you?

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