2.2014 – 10.2014

Geschichte zum Thema Aufbruch

von  Terminator

Anfang Februar 2014 begann ich das folgende Buch zu lesen: Jaeschke, Walter / Arndt, Andreas: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785-1845. Es war ein aufschlussreiches Werk über die Wege und Irrwege des Deutschen Idealismus, aber vor allem war es harte Lesearbeit, mit großer Unlust verbunden. Doch der Wille, zu lesen und zu verstehen, war da, und das Buch war gut. Und doch fiel es schwer. Das Gehirn, lernte ich im September 2013 von Sergey Saveliev, dem kontroversen Biologen aus Russland, verbraucht beim Maulaffen Feilhalten, Fernsehen und an Gott glauben ca. 9% der gesamten Energie, die dem Körper zur Verfügung steht. Beim Denken steigt der Anteil des Gehirns (2% der Körpermasse) auf 25%. Auch ein Viertel des eingeatmeten Sauerstoffs geht für das Denken drauf. Das Gehirn tut also alles, um Denken zu vermeiden. Es verlässt sich auf Glauben und Intuition, um Energie zu sparen.


Am 27/28. Februar (ich lebte in jener Woche im Nachtrhythmus) hörte ich einen Vortrag des russischen Philosophen Alexander Dugin auf Youtube. Es ging um das Werk von Gilbert Durand Les Structures anthropologiques de l’imaginaire, in welchem régime diurne und régime nocturne unterschieden wurden, wobei régime nocturne in mystique und synthétique geteilt wurde. Anfang März begann die neue Erkenntnis zu wirken. Ich sah mir Dugins Vorlesungsreihen zur Tiefensoziologie, Tiefenpsychologie und Ethnosoziologie an. Außerdem begann er gerade eine aktuelle Vorlesungsreihe über politische Philosophie. Ich erwartete mit Spannung jede Woche eine neue Folge, wie vorher nur bei Serien wie Spartacus und Breaking Bad.


Am 13. März fing ich an, ein Gedankenprotokoll zu den neuen Erkenntnissen zu schreiben. Es waren nämlich so viele wichtige Erkenntnisse, dass ich sie unbedingt festhalten wollte, und ich wollte auch nicht zu lange warten, bis das bisher Aufgenommene verdaut ist, weil es einfach zu interessant war. Wo war auf einmal die Faulheit des Gehirns, das alles tut, um Denkanstrengungen zu vermeiden? Die Begeisterung hielt sich über Wochen und kannte keine Grenzen. Erst Mitte des Jahres mäßigte sich der Durst nach neuen Erkenntnissen im Bereich der anthropologischen Trias. Doch Saveliev irrte nicht. Es ist nur so: das, worüber du nachdenkst, muss existentiell wichtig sein, ansonsten wird es schwer fallen, das Gehirn zu überzeugen, dass es weiter lesen, weiter zuhören, weiter nachdenken soll. Und die Wiese des Deutschen Idealismus war nunmal abgegrast, daran konnte auch ein weiteres wichtiges Standardwerk nichts ändern.



Warten auf das Zweitgutachten, dann die Verteidigung, und ich bin ein Meister der Künste. Wie damals schon die Schulzeit, hatte ich mir auch das Studium anders vorgestellt. Aber, nunja: im Bachelor-Studiengang war ich schwer depressiv, im Master-Studiengang nur noch depressiv, was für eine Verbesserung! Wenn es so weiter geht, könnte es mir mit 40 geht so gehen. Mit 50 würde ich dann auf die Frage, wie es mir geht, wahrheitsgemäß antworten können: "Es geht".


Ich habe den Bachelor- und den Masterstudiengang mit der gleichen Note abgeschlossen, und das in doppelerlei Hinsicht: zweimal die Eins (Abschlussnote), zweimal die Null (Anzahl der schönen oder attraktiven Kommilitoninnen im Philosophie-Studiengang (aber auch in BA-Politik)). Dafür habe ich Ende April 2014 meine erste ENFP-Erfahrung gemacht. Wenn man eine ENFP-Frau vorher nie kennengelernt hat, kommt es vor wie eine andere Kultur. Das ist übrigens wahre Neurodiversität: diese definiert sich nicht durch neurologische Krankheiten, sondern durch Variationen im "normalen" Spektrum. Wobei auch ein Teil des autistischen Spektrums nicht pathologisch ist. Aber auch gesunder Narzissmus ist nicht krankhaft, die narzisstische Persönlichkeitsstörung schon.


Hitzewelle Anfang Juni. Ich spazierte am hohen Steppengras vorbei auf der Michelangelostraße im Prenzlauer Berg, und freute mich auf die nahe Zukunft. Doch zu früh. Es wurde erst einmal schlimmer, bevor es besser wurde. 2014, 2015 und 2016 passierte am 21. Juni immer irgendeine Scheiße. Aber am 11. Mai 2017 war der Fluch vorbei, und es ging mir nun in der Tat geht so, d. h. ich war nicht mehr depressiv, nicht einmal leicht. Melancholisch schon, aber das ist eine andere Geschichte. Mit dem Titel: "34!? Warum bin ich überhaupt noch am Leben!?"



Serien sind, sobald man reingefunden hat, interessanter als Filme. Gute Serien sind die Romane unserer Zeit. Und so wagte ich bei Game of Thrones, das damals auf dem Höhepunkt seiner Qualität war, den dritten Versuch: zweimal hatte ich jeweils im Jahresabstand die Pioltfolge nach wenigen Minuten abgebrochen, weil mir das Geschehen zu abstrus erschien, und mich weder die Charaktere noch die Handlung mitreißen konnte (bei Breaking Bad war ich nach 5 Minuten drin, bei Spartacus: Blood and Sand schon nach einer Minute). Ich quälte mich durch die ersten drei Folgen, und von da an machte Game of Thrones nunmehr Spaß. Und zu dem Zeitpunkt sah ich oder hatte bereits gesehen: The Walking Dead, Dexter, True Blood, Justified, Homeland, Boardwalk Empire, Hannibal, und, natürlich, Vikings.


Die Serie wurde zum Paradigma der erotischen Phantasie. Nachdem das Undenkbare geschehen war – ich war 30 geworden –, dünkte mich, der letzte Zug in den stolzen jugendlichen Suizid sei nun abgefahren. Mir deuchte, nicht bloß wie Cioran aus der Zeit herausgefallen zu sein, sondern selbst noch aus dem Herausfall aus der Zeit. Ich bewegte mich lebenssinntechnisch im absoluten Niemandsland. But why? Gab es nicht die weltenbewegende moralische Wende 2012 mit Kant? Brach da nicht mein Zeitalter des Guten an? Schon. Und doch: das Zeitalter des Guten steht auf dem Boden des Wahren. Und das Wahre der (endlichen) Welt ist das Nichts.


Also ran an die Sinnlichkeit! Da echte Akte zu schneller Erschöpfung mit Todesfolge führen würden – der sinnliche Genuss der Gewalt war wenigstens nach außen denkbar –, und Sex mit echten Personen moralisch verboten war, baute ich mit übermenschlichen geistigen Kräften einen virtuellen Sexsimulator: eine systematische Phantasie, die die pragmatische Form der Serie annahm. Gäbe es Emmies und Golden Globes für Erotikserien, ich hätte sie alle abgeräumt. Nicht nur visuell, also vorstellungstechnisch, sondern auch dramaturgisch gab es fast jede Woche eine neue beste Serie aller Zeiten. Immer wieder verzweifelt, das Gedachte und Vorgestellte nicht in transhumaner Manier – im Virtual-Reality-Sexsimulator – erleben zu können, schraubte ich mich phantasietechnisch in immer luftigere Höhen – und zu immer dickeren Eiern. Neidisch auf den realen Sex realer Leute war ich nie: allein schon das Aussehen der subalternsten Figuren meines erotischen Kopffernsehens hatte (nicht hätte) die schönste real existierende Frau in den Schatten gestellt.


Der Sommer 2014 war ein Sommer der Erotik – im Kopf. Ich war schließlich Kantianer. Manche Figuren wurden von echten Models zwar inspiriert, aber: erstens waren diese Models alle auf den Photos bereits nachbearbeitet, und zweitens bearbeitete ich selbst die gephotoshoppten Photos noch weiter nach. Was die Realität nicht mehr hergab, besorgte die Phantasie. Meine inhirnierte Graphikkarte war oft dem Absturz nahe. Aber ich hatte auch Ablenkung: ich traf meine Freunde, etwa im Neuen Museum in Berlin, tanzte neuerdings (seit dem 22.6.2014) in den Discos, trank und schaute die Fussball-WM. Und ich las. Und, noch wichtiger: die ultimative Goldmine des Geistes, eröffnet mit der Ende Februar 2014 gehörten Vorlesung Dugins über die drei Regimes von Gilbert Durand (später in der Tradition Bachofens als solar, lunar und chthonisch-tellurisch bezeichnet), war sehr ergiebig, anders als die abgegraste Wiese des Deutschen Idealismus. Neue Erkenntnisse kamen täglich und mühelos, und so steckte ich voller Freude meine ganze Kraft in die erotische Phantasie.


Was kommt eigentlich nach Obama? Außenministerin Clinton war in der zweiten Amtszeit des Change-Präsidenten nicht mehr Secretary of State, sie bereitete sich selbst auf eine Präsidentschaftskandidatur vor. Als würde das Establishment dem Volk sagen: So, jetzt hattet ihr euren Change, und nun sind wir wieder dran! Aber es gab eben keinen Change, dieser war nur ein Verkaufstrick. Obama bekam ganz am Anfang seiner Präsidentschaft für seine Versprechen sogar einen Friedensnobelpreis. Aber er hat sie nicht gehalten, und es hat backfired.


Die Ukraine-Politik der USA führte zum Putsch und der Abspaltung der Krim. Putin zögerte nicht und annektierte die russischsprachige Halbinsel. Mit China bahnte sich ein Handelskrieg an. Auch innenpolitisch war das Jahr der Midterm elections ein katastrophales Jahr: war erinnert sich? Trumps brillante Idee war schließlich, im nächsten Jahr seine Kandidatur als Anti-Establishment-Präsidentschaftskanditat bekanntzugeben. Normalerweise hätte er keine Chance, aber der Normalzustand war spätestens seit der Finanzkrise 2007/08 vorbei, und schon Obama gewann mit dem Versprechen, das Land gründlich zu changen.


Ich wurde nach meinem Masterabschluss in Philosophie vom Jobcenter angeschrieben. "Warum haben Sie überhaupt studiert?" wurde ich angesichts meiner kasachstandeutsch-russischen Herkunft und trotz einer 1 gefragt. Durch Erfahrungen wie diese wusste ich, was echte Nazis sind, und fand es lächerlich, wenn Rechtskonservative pauschal als Nazis verunglimpft wurden. Ich habe nichts dagegen, wenn Einheimische Zuwanderer kritisieren, die seit Jahren im Land sind, von Sozialhilfe leben, sich nicht an die Gesetze halten, und religiöse Intoleranz und Antisemitismus mitbringen.




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