Drei

Text

von  Lilo

Der qualifizierte Entzug würde drei Wochen dauern. Enno und ich hatten drei Wochen miteinander verbracht. Wir hatten uns beinahe jeden Tag gesehen. Nur die drei Tage, die wir gewartet hatten, ich auf die SIM-Karte, er darauf, dass eine angemessene Zeit verstrich, hatten wir ohne einander verbracht. Es kam mir vor, als sei seitdem ein ganzes Jahr vergangen. Er war jetzt schon ein anderer Mensch als damals. Wir wohnten zwanzig Minuten voneinander entfernt. 1, 5 Kilometer, davon knapp 200 Meter durch den Görlitzer Park. Ich mochte den Wrangelkiez, die schlesischen Straßennamen, nach den Orten benannt, aus denen meine Großeltern stammten, die rote Kirche in der Taborstraße, das Stammgrüppchen von angolanischen Dealern und Obdachlosen vor dem heruntergekommensten Rewe Berlins, den türkischen Laden, aus dem es nach gebrannten Mandeln und Turkish Delight roch. Schon bevor ich wusste, dass Enno hier wohnte, war ich gerne durch seine Straße gelaufen und hatte mir heimlich gewünscht, selbst dort zu wohnen. Monatelang ging ich auf dem Weg zu der Wohnung, in der regelmäßige Meditationstreffen stattfanden, an seinem Haustor vorbei. Dann wohnte ich drei Wochen lang fast wirklich dort. Ich wusste nicht, ob ich die Straße die kommenden drei Wochen meiden würde. Was, wenn ich ihn treffen würde, wenn er gar nicht in der Klinik war?

 

Zu seinem ersten Termin war er nicht erschienen. Abends hatte er angerufen: „Ich gehe morgen hin, ich bin nicht fertig geworden, mit allem, was ich vorher noch zu erledigen hatte. Kommst du noch mal vorbei morgen früh?“ „Soll ich dich bringen?“. „Das würdest du tun?“. Um Punkt 06:33 stand ich vor seiner Tür. Er kam gerade aus der Dusche. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Wir legten uns ins Bett. Er war zappelig und warm. Seine Haut war rau und aufgekratzt. Er roch nach Teebaumöl. Es war noch so viel Lebendigkeit in diesem Körper, eine ungeordnete Lebendigkeit, haltlos, zittrig, wackelig, sich selbst überschlagend, einknickend. Die Mutter seiner Ex-Freundin hatte seine Augen diabolisch genannt. „Ich kann in deinen Augen nichts Teuflisches erkennen“, hatte ich gesagt, „ich sehe die Augen eines kleinen Jungen“. Die Bilder zu seinen Geschichten waren in meinem Kopf eckig und nahmen keine Farbe an. Wie Schatten hackten die Figuren aus seinem Drogenalltag an meinem inneren Auge vorbei. Ich erkannte den Menschen, den ich erlebte, darin nicht wieder. Beim Namen seiner Ex-Freundin bekam ich einen metallischen Geschmack im Mund. Ich meinte, eine Rüstung quietschen zu hören.

Die Bilder aus seiner Kindheit waren hellgrau. Er war dieser Junge aus Schleswig-Holstein, Sohn des Dorfkneipiers, der Angst vor dem Schulweg hatte. Exakt vier Monate und zwei Tage älter als ich. Wir hatten beide ein schönes, rundes Geburtsdatum. Enno hatte es ein paar älteren Mädchen aus dem Dorf zu verdanken, dass er aufs Gymnasium durfte. Die Eltern hatten sich gesperrt: „wenn er die paar Meter zur Grundschule nicht allein schafft, wie soll er die Busfahrt schaffen?“. Vier ältere Mädchen hatten sich zusammengeschlossen und den Eltern versprochen, in abwechselnd abzuholen und zu begleiten. „Es ist so lieb, dass du mir anbietest, mich zu bringen“, sagte Enno, „aber ich muss es alleine schaffen, ist das ok?“. „Ja“.

 

Ich hätte ihn gerne gebracht. Aber es war schöner, dass er es selbst versuchen wollte. Wenn der qualifizierte Entzug erfolgreich wäre, würde darauf die Entwöhnung folgen. Die Entwöhnung dauerte drei Monate.


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Kommentare zu diesem Text


 uwesch (11.11.23, 13:03)
Eine ehrliche Geschichte gut erzählt. LG Uwe

 S4SCH4 (04.12.23, 20:21)
Nüchern und kühl. Cocktail aus unsicherem Mitleid und Hoffnung und Aussichtslosigkeit. Wirklich gut getroffen.
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