Lieber Kater

Brief

von  Elia

Januar 2024

Lieber Kater,

man könne, so wurde im Literaturwettbewerb ausgeschrieben, einen Liebesbrief schreiben, an wen man wolle. Dass man dabei auch ein Haustier als Adressat angemessen gefunden hätte, nehme ich nicht an. Ich glaube auch, dass Du diesen Brief nicht zu schätzen gewusst hättest. Dir lag viel an Mett, Sonnenschein auf der Terrasse und zuverlässigem Öffnen der Wohnungstür. Wärest Du zehnmal größer gewesen, hättest Du mich sicherlich zum Fressen gerngehabt. So musstest Du gernhaben, was ich Dir in Deinen Napf füllte. Ich habe Dich jedenfalls auch gerngehabt.

Es ist fast siebzehn Jahre her, dass Du als kleiner schwarzer Kater in meiner Familie Einzug hieltest. Du warst auf einem Bauernhof geboren, zu dem wir Kontakt hatten. Wir hatten versucht, in den großen Garten und den alten Kuhstall, der als Abstellraum diente, aber einige Wandlöcher aufwies, keine Katze mehr einziehen zu lassen. Der Verdacht, dass ein Nachbar, der Hobbyjäger war, alle Deine Vorgängerinnen auf dem Gewissen hatte, lag nahe. Nachdem die dritte Katze nicht wieder aufgetaucht war, wollten wir versuchen, ohne auszukommen. Die Mäuse tanzten also im alten Kuhstall einen Winter fröhlich umher und nagten sich durch die dort zwischengelagerten Müllsäcke. Es blieb keine Wahl, ohne Katze kamen wir nicht klar. Dass es nun gerade Du warst, ergab sich, weil der Bauer mitteilte, Du seist ein Außenseiter Deines Wurfs, etwas zu klein für einen Kater und selten mit den anderen zusammen.

Ich fand Dich nett anzusehen. Für mich ist der „gemeine Hauskater“ schön, wenn er ein tiefschwarzes glänzendes Fell und goldene Augen sein Eigen nennt und wenn er seiner Wege geht. So war es bei Dir und somit hieltest Du Einzug im Kuhstall. Hinter dem Haus stand Dir ein riesiger Garten und eine weitläufige Weidefläche zur Verfügung, die sommertags von Kühen bevölkert wurde. Die Kinder freuten sich über Dich und eiferten darum, Dich zu streicheln. Ich mahnte, Dir nicht zu nahe zu treten und Deinen eigenen Willen zu respektieren. Dieser tolerierte die Streicheleinheiten kurze Zeit und entlud sich dann in abwehrenden Tatzenschlägen. Du konntest Dich Deiner Haut recht effektiv erwehren.

Bei mir konntest Du sicher sein, nicht auf den Schoß oder Arm gehoben und festgehalten zu werden. Ich ließ Dich kommen und um die Beine streichen, beobachtete Dein munteres Treiben, Dehnen, Springen, Spielen, Markieren und Miauen mit mäßigem Interesse und sorgte stets für Futter. Dass ich Dich gern hatte, konnte man nicht daran erkennen, dass ich Dich kraulte, sondern daran, dass ich die Finger von Dir ließ und Dir stattdessen die unteren dreißig Zentimeter meiner Beine zwecks von Dir gewählten Körperkontakts zur Verfügung stellte.

Zu der Zeit, in der Du Einzug hieltest, war ich nach der Kinderpause gerade erst in meinem zweiten Beruf eingestiegen. Das war Dein Glück, denn schon ein halbes Jahr nach Deinem Einzug zeigte sich eine seltsame Verdickung an Deiner Schnauze. Die Tierärztin diagnostizierte Nasenkrebs und Du wurdest unverzüglich operiert, was wir uns wohl nur leisten konnten, weil ich es finanzierte.

Da wir Deinen Tumor früh entdeckt hatten, musste nicht tief geschnitten werden und Du erholtest Dich im Kuhstall schnell und gut. Deine Kastration stecktest Du ähnlich gut weg, wie die Nasenoperation, die Dich vorerst gerettet hatte. Dass der Nasenkrebs immer wiederkehren würde, wussten wir zu dieser Zeit, aber wir hofften, es würde dauern.

Im Laufe der Jahre zogen die Kinder aus. Du bliebst und verlagertest Deinen „Ort“ allmählich aus dem Kuhstall ins Wohnzimmer. Anfangs sprangst Du noch auf die Fensterbank und erweichtest einen mit Blicken, Dir die Terassentür zu öffnen. Später hocktest Du vor dieser und begehrtest ausdauernd miauend Einlass. Im Lockdown störtest Du so manches Digitalmeeting, das zwecks Einlasses oder Auslasses des Katers unterbrochen werden musste. Inzwischen verfügtest Du über ein festes Kuschelnest in der Farbe Schwarz, denn es zeigte sich, dass Du bevorzugt einen Ort aufsuchtest, an dem Du nicht sofort entdeckt wurdest. Das hatte auch Nachteile: Manches Mal wurdest Du versehentlich eingesperrt, im schlimmsten Fall dauerte es vier Tage. Du hattest Dich im Zimmer unserer einige Tage abwesenden Tochter eingeschlichen und auf ihrem besten schwarzen Kuschelpulli niedergelassen, leider nicht nur zum Schlafen, sondern auch, um ihn im Laufe der Tage als Katzenklo zu zweckentfremden.

Die ersten zehn Jahre gab es kein Problem mit Deinem Bewegungsapparat. Immerhin warst Du so gut erzogen, dass Du nicht auf Tische, Fensterbänke oder Küchenschränke sprangst und auch nie irgendwelche umherstehenden Nahrungsmittel angeknabbert hättest, bis auf das eine Mal. Ich hatte Fleisch zum Auftauen auf einen Teller neben einem Tortenboden positioniert und wurde bald darauf eines demenzbedingten Aktes verdächtigt: Was mir eingefallen sei, das Fleisch zum Auftauen auf den Tortenboden zu legen? - Dass Du das noch tiefgefrorene Fleisch mittels eines Prankenhiebs einfach zwanzig Zentimeter weiter nach links gekickt hattest, wurde offensichtlich für unwahrscheinlicher gehalten als meine vorgebliche Zerstreutheit.

Im Laufe Deiner siebzehn Lebensjahre wurdest Du dreimal an der Nase operiert. Weihnachten 2022 entdeckten wir den neu gewachsenen Tumor. Zu dieser Zeit quälte Dich bereits die Arthrose. Das Schmerzmittel musste ins Futter gerührt werden und, um Dich zum vollständigen Verzehr zu bewegen, bestand dieses nicht mehr aus dem sommertags unzumutbar duftenden Dosenfutter, sondern aus frischem Mett. Nachdem die Tierärztin aus dem Weihnachtsurlaub zurückgekehrt war, folgte dann die Operation. Es dauerte dieses Mal sehr lange, bis die Wunde an Deiner Nase zugeheilt war. Für Dich war es eine schlimme Zeit, weil Dir der Trichter um den Hals, der Dich davor bewahren sollte, die Wunde aufzukratzen, sehr lästig war. Ebenso lästig war es Dir, im Haus verweilen zu müssen. Es tat weh, Dich stundenlang innen vor der Terassentür sitzen zu sehen, ohne Dich hinauslassen zu können. So war ich froh, als Du im Frühsommer endlich wieder befreit werden konntest.

Im Mai 2022 sah ich Dich in der Abendsonne sitzen, den Blick auf die Weide gerichtet, offensichtlich auf einen schönen Mäusebraten lauernd. Ich wusste, dass es Dein letzter Sommer sein würde, denn nach Abheilen der Nase zeigte sich, dass der Tumor nicht ganz verschwunden war. Kurz danach war die Nase wieder blutig. Die Tierärztin legte Dir erneut einen Trichter um den Hals und verordnete weitere zwei Wochen Hausarrest. Dieser veranlasste Dich, neben die Toilette zu pinkeln und ins Wohnzimmer zu kacken, wobei ich Dir zuvorkam, um Deine Kürtel mit einem eilig aus dem Schrank gezogenen Teller aufzufangen. Es ging Dir nicht mehr gut, nur manchmal, wenn die Sonne die Dielen auf der Terrasse wärmte, räkeltest Du Dich dort und machtest einen recht zufriedenen Eindruck.

Im Dezember 2023 war die Nase so groß geworden, dass wir uns sorgten, sie könne Dir die Luft abschneiden. Außerdem bemerkte ich, wie schwer es Dir fiel, Dein Nest zu verlasse, umherzugehen, aufzustehen oder Dich hinzusetzen. Die Tierärztin befand, es sei keine Operation der Nase mehr möglich. Am nächsten Tag würde sie in ihrer Mittagspause kommen, Dich einzuschläfern.

Es war ein seltsamer Tag. Am Vormittag war ich wegen eines Termins außer Haus, kehrte am Mittag zurück und musste dann noch einen weiteren Termin wahrnehmen. Bevor ich wegen des Nachmittagstermins das Wohnzimmer verließ, schaute ich Dich ein letztes Mal an und Du schautest zurück. Ich tendiere, ehrlich gesagt, definitiv dazu, die Sterbehilfe, jedenfalls in Form der Beihilfe zur Selbsttötung, zu befürworten, aber über Deinen Tod zu entscheiden und bewusst die letzten Stunden zu erleben, ließ mich zweifeln.

Ich war nicht zuhause, als die Tierärztin kam. Sie war Dir wohl ohnehin nicht geheuer, denn Deine letzte Tat war, Deinem Katerpapa vor der Narkose in die Hand zu beißen. Die Tierärztin brauchte nicht lange, zehn Minuten später erklärte sie Dich für tot, aber bis sich Dein letzter Muskel entspannt hatte, verging wohl eine quälend lange Zeit. Zum Glück musste ich das nicht mitansehen. Als ich nach Hause kam, stand ein Karton auf dem Balkon und in diesem lagst Du, eingewickelt in ein gelbes und ein grünes Baumwolltuch. Der Katerpapa stand im Garten und grub im Schweiße seines Angesichts ein neunzig Zentimeter tiefes Loch. Dort beerdigten wir Dich, da, an der Stelle auf der Wiese, wo Du im Frühsommer auf eine mausefrohe Nacht gewartet hattest. Es gibt für Tiere Möglichkeiten, auf die ein Mensch verzichten muss.

Du bist, lieber Kater, das Haustier gewesen, dass uns am längsten begleitet hat. Sehe ich etwas Schwarzes auf der Erde liegen oder bewegt sich etwas vor der Terassentür, denke ich an Dich. Auf Dein Grab habe ich tatsächlich einen kleinen Kranz aus Fichtenzweigen mit einer weißen Rose und einer Schleife gelegt.

Du hast mir in den letzten Monaten mehr gefehlt als die beiden Menschen, die im letzten Jahr gestorben sind. Das zu sagen, ist gewiss ein wenig taktlos, aber wenn ich am Sonntag allein in meinem Wohnzimmer sitze, weil die Kinder fort sind und der Katerpapa arbeiten muss, fehlt mir Dein gelegentliches leises Schnarchen und die Aufforderung alle zwei Stunden die Terassentür zu öffnen und zu schließen.  Du gehörtest täglich dazu und es war gut, dass es Dich gab.

Deine Katermama, distanziert, respektvoll und in liebevoller Erinnerung



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Kommentare zu diesem Text


 Rosalinde (29.01.24, 06:02)
Liebe Elia,

ein schönes Gedenken an ein liebes Haustier. Vielleicht etwas zu umfassend, da du auch die halbe Familiengeschichte der Tierhalter
in deine Geschichte einbeziehst. Ansonsten schön geschrieben,
ich kann es einschätzen, ich hatte auch jahrelang Katzen, und meine Nachbarn nannten mich die Katzenmutter. 

Lieben Gruß, Rosalinde

 Elia meinte dazu am 29.01.24 um 18:50:
Danke.

 Dieter_Rotmund (29.01.24, 17:51)
Ist das autobio?

 Dieter Wal antwortete darauf am 29.01.24 um 18:48:
Ja. Elias Kater tippte selbst.

 Elia schrieb daraufhin am 29.01.24 um 18:52:
:)
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