andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 08. Februar 2007, 05:13
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echt egelig

Die Ausbildung von Lehrern (und Lehrerinnen) ist heute losgelöst von der theoretischen Wissensvermittlung. Es geht auch um Didaktik und Pädagogik – und um praktische Übungen. Einige dieser Übungen dienen sogar der Abhärtung.
„Abhärtung?“ werden sich jetzt einige fragen. - Na ja, es ist selbstverständlich nicht das Nahkampftraining für den Schulhof gemeint, sondern der Abbau von Hemmungen. Denn nichts ist demontierender für einen Wissensvermittler, als ein ängstliches Zurückschrecken vor versammelter Klasse, wo eigentlich ein selbstverständlicher Umgang nötig gewesen wäre.
Viele zukünftige LehrerInnen müssen sich keine Gedanken darüber machen. Geo-Dreiecke oder Blockflöten findet kaum jemand ekelig. Aber bei den Biologen sieht das schon anders aus: Kuhaugen sezieren, Insekten sammeln, Spinnen beobachten … da macht manch eine tapfere Seele schlapp.

An einer bestimmten Universität wird für diese Abhärtung regelmäßig ein besonders hartes Geschoss verwendet: ein sehr weiches Tier. Allein schon die Nennung seines Namens treibt manchen Menschen den Schweiß auf die Stirn und die übrigen Körpersäfte in tiefere Gefilde.
So sitzen also etwa 30 zukünftige Lehrer und Lehrerinnen (sie hoffen es zumindest) in dem Seminarraum und eine gewisse Aufregung ist unter ihnen zu spüren. Ein Rolltisch mit einem Aquarium wird in den Raum geschoben und darin schwimmen schwarze Tiere, die stark an sehr platte Nacktschnecken erinnern. Ein Vortrag über die Unbedenklichkeit von medizinischen Blutegeln folgt ...
Zwei Freiwillige werden gesucht, doch im ersten Anlauf meldet sich niemand. Erst nach einigen Minuten kommen (nach vielen Witzen, Wortspielen und Anzüglichkeiten mit “saugen“) eine junge Frau und ein junger Mann nach vorne. Seltsamerweise ist der männliche Freiwillige aufgeregter als der weibliche. Geradezu überdreht versucht er es zu überspielen.
Mehrere Blutegel werden aus dem Wasser gefischt und angesetzt, die Freiwilligen aufgefordert zu schildern, was sie spüren können. Währenddessen sollen sie genau hin schauen und so ihre Ängste verlieren.
„Es ist etwas kühl.“ - Mehr können die Beiden nicht sagen. Fasziniert beobachten sie, wie die wabbeligen Tiere langsam größer und größer werden, sich mit Blut volllaufen lassen (es ist ja kein Saugen) und dabei keinerlei Schmerz zu spüren ist.
Beim jungen Mann “läuft“ es etwas besser. Seine Egel wollen nicht einmal loslassen, als die der jungen Frau schon abgefallen sind. Witze macht er allerdings keine mehr. Er steht kreidebleich da und starrt auf das Blut, das jetzt rechts und links an den Körpern der Tiere vorbei über seine Arme läuft.
Die Assistenten entfernen die prallen Tierchen und setzen sie ins Aquarium zurück. Dann drücken sie eine Kompresse auf die Wunden und fixieren das Ganze mit Pflastern. Die Freiwilligen dürfen zurück auf ihre Plätze.
Gerade will der Professor die Größenunterschiede der satten Egel erklären, da rutscht der junge Mann von seinem Stuhl auf den Boden. Kompressen und Pflaster sind so vollgesogen mit Blut, dass sie schon durchnässen. Sofort wird der Notarzt gerufen, der den jungen Mann ins Krankenhaus transportieren lässt ...

Nun, die Abhärtung ist nach hinten los gegangen. Das Praktikum wird abgebrochen. Erst später stellt sich heraus, dass der Student einen recht hohen Alkoholspiegel hatte (er arbeitete am Abend zuvor offenbar an seiner eigenen Art von Abhärtung). Doch Alkohol verdünnt das Blut und hemmt die Blutgerinnung, was hervorragend zur schmerzstillenden und blutgefäßerweiternden Wirkung des Egelspeichels passte. Die Tierchen trifft keine Schuld.
Die Geschichte findet am nächsten Morgen ihre Fortsetzung, als die Putzfrau die Böden des Seminarraums und der anschließenden Labore und Büroräume wischen will. In einem der Büros findet sie Blutflecken auf dem Fußboden; besser beschrieben: eine kleine Lache, daraus hervorgehend eine dünne Schleifspur, dann wieder eine Blutlache, danach wieder eine Schleifspur und so weiter. - Als Reinigungskraft der biologischen Fakultät ist die Frau einiges gewohnt, aber das ist doch zu viel für sie: sie schreit Zeter und Mordio.
Der Hausmeister kommt angelaufen, sieht die Bescherung und denkt sofort an seine geliebten Fernseh-Krimis. Von dem angetrunkenen Studenten vom Vortag hat er gehört und zählt eins und eins zusammen. Selten wurde so schnell die Notrufnummer gewählt.
Die Polizei kommt, die Kripo folgt, dann die Mordkommission, die die Möglichkeit hat einen DNA-Schnelltest auf menschliches Blut durchzuführen. Immerhin befindet man sich bei Biologen: In fast jedem Raum stehen Aquarien, Tierkäfige, Vivarien oder Terrarien. Andererseits hat der angetrunkene Student am Abend zuvor das Krankenhaus auf eigenen Wunsch verlassen …

Es ist menschliches Blut!

Der Tatort wird abgesperrt, die Angestellten zurück gehalten. Vorsichtig werden Spuren gesichert und Fotos gemacht. Mehrere gekippte Fenster werden entdeckt und sogar einige unverschlossene Türen. Das gesamte Gebäude wird durchsucht und die Freianlagen durchkämmt.

Stunden vergehen. Viele Seiten in Notizbüchern werden gefüllt, Telefongespräche geführt. Die Fahndung nach dem Studenten läuft. Dann endlich werden die Schränke verrückt, vor denen die Blutspur endet. Nur drei Zentimeter ist der Spalt zwischen Schrank- und Fußboden, aber vielleicht sind irgendwelche Indizien dahin gerollt.
Doch es findet sich nur eine klebrige Masse, die an eine zertretene schwarze Nacktschnecke in einer Pfütze Blut erinnert. Rätselnd stehen die Polizisten da und lassen endlich den BTA (Biologisch-Technischen-Angestellten) in den Raum. Es ist sein Arbeitsplatz. Vielleicht kann er es erklären.
Der BTA ist etwas verunsichert von der versammelten Staatsmacht, nickt aber bloß, als er die Flecken sieht. Vorsichtig, den Blutspuren ausweichend, geht er zu einem Aquarium mit hellrosa Wassertrübung und zählt die Tiere darin durch.
„Ja, es fehlt einer. Er ist wohl ausgebüxt.“ – Mehr sagt er nicht.
„Erklären sie das,“ fordert der leitende Beamte.
„Einige der Egel hatten sich offenbar übernommen. Das verdünnte Blut wohl.“
„Und das hier?“
„Egel, die sich überfressen haben, würgen so lange Blut hervor, bis sie sich wieder gut fühlen.“
„Aber doch im Aquarium, nicht?“
„Lieber an Land, um keine Raubfische anzulocken. Nur im Notfall im Wasser.“
„Und das hier?“
„Würgen, kriechen, würgen, kriechen, kotzen … ähm … würgen …“
„Das klingt seltsam.“
„Schauen sie die im Aquarium. Hier, die schlanken Kleinen, die etwas schlapp herum liegen.“
„Und warum … ?“ – Ein ruderndes Zeigen auf die klebrige Masse.
„Hat kein Wasser gefunden und vertrocknete dann. Oder er ist an Alkoholvergiftung gestorben. Machen sie doch eine Autopsie!“
Fünf Minuten später befindet sich kein Polizist mehr im Gebäude.

Dieser Lehrerjahrgang wird mit den Abdeckungen aller Tierbehälter vorsichtig umgehen. So eine Geschichte lässt einen nicht mehr los. Nur einer, der junge angetrunkene Student, der wird wohl auch die Egel nicht mehr los.


(Und NEIN, es ist nicht meine Geschichte! – Allerdings könnte ich aus dem eigenen Fundus berichten. Von der toten schwangeren Rättin auf dem Seziertisch etwa … ähm ... das wäre dann wirklich ekelig.)


Nachbemerkung zur Kolumne: zum Jubiläum habe ich mir mal eine richtig lange Geschichte gegönnt. Hab’ ich verdient, finde ich. *sektkorkenknallenlass*

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Theseusel (08.02.07)
puh...das war ja richtig spannend:) Erst dachte ich:"Gleich kommen die Vogelspinnen!" ... da hätte ich nicht weiter gelesen, denn meine Arachnophobie schreibt eigene Geschichten *g* ... jetzt kommt der Bader schon per Kolumne;) Es ist kurzweilig geschrieben ...einen Jubi zum Laeum - Gerd

 Maya_Gähler (08.02.07)
Ich habe bis zum Schluß durchgehalten... *lach
das ist doch was... hatte heute wohl einen guten Abend... weil sonst wird mir bei solchen Geschichten immer sehr schnell übel... das kommt daher, dass ich mir immer alles bildlich vorstelle... aber heute habe ich tapfer weitergelesen... es ist sehr spannend und kurzweilig geschrieben...
Herzlichen Glückwunsch zu Text und Jubiläum
von der Maya, die eigentlich gar keine Zeit hat, um zu lesen, aber das hier wollte ich mir doch nicht entgehen laßen
wupperzeit (58)
(08.02.07)
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