andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Montag, 23. Juli 2007, 05:40
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vom Üpsilonn

“Viele Wege führen nach Rom“, heißt es. Nun denken einige Menschen, dass damit das mitteleuropäische Straßennetz gemeint wäre … tja … was soll man dazu sagen?
Nicht jeder kann (oder will) nachvollziehen, dass es zu einem angestrebten Ziel immer unterschiedliche Wege gibt. Egal, ob es die italienische Hauptstadt ist, die es zu erreichen gilt, oder um ein anderes Ziel, das auch mit Verkehr in Verbindung gebracht wird.

Als sich das Leben entwickelte …damals … lang, lang ist’s her (gut 6000 Jahre, wenn die Bibelrechner sich nicht irren … und wenn doch, dann irren sie sich ja nur um ein paar Nullen) … stellte sich ihm ein ziemlich großes Problem vor die Tür: „wie kann ich mich verändern, wenn ich immer nur Kopien von mir mache?“
Die Antwort ließ etwas auf sich warten, doch war schnell klar, dass es auf eine Art des Austausches hinauslaufen würde. Bakterien begannen damit, indem sie einfach Bruchstücke, die sie unterwegs fanden, bei sich einbauten. Keine sehr zuverlässige oder effiziente Methode, oder? Auch nicht sehr geschmackvoll … so mit Toten. Man weiß auch nie, was einem da so unter kommt.
Da war der bewusste Austausch mit einem lebenden Wesen der gleichen Bauart schon erfolgversprechender. Sogar erfolgreich: es wird immer noch gemacht.
Etwas später wurden dann die Geschlechter erfunden und im Laufe der Entwicklung wurden sie immer unterschiedlicher. Und das ist wichtig, sehr wichtig, denn die beiden Geschlechter beziehen daraus natürlich ihre unterschiedlichen Rollen und Verhaltensweisen. Nur darum kann gesagt werden: typisch Mann oder typisch Frau.

Die Träger dieser Unterschiede sind die Geschlechtschromosomen, ganz klar. Bei den primitiven Tieren wohl noch nicht so, aber bei den Säugetieren auf jeden Fall. Hier macht das Y den Mann und das X die Frau. Das Y-Chromosom ist sozusagen der Mann.
Die dazu gehörenden zweiten Chromosomen – bei beiden Geschlechtern X – werden ausgeblendet. Wir haben doch alle im Bio-Unterricht gelernt, dass es dominante und rezessive Gene gibt.
Jetzt mögen Forscher zwar einfache und eingängige Antworten genau so gerne wie alle anderen Menschen, aber für ihr Spezialgebiet möchten sie komplizierte Erklärungen vorweisen, damit sie auch für kompetent und unverzichtbar gehalten werden (das kennen wir auch aus Bürokratie und Politik). Dabei hilft es dann sehr, wenn nicht tief gegraben werden muss, um auf Widersprüche zu stoßen.
Das X-Chromosom ist groß, das Y-Chromosom dagegen winzig klein. Ein Umstand, der die Männerwelt schon lange wurmt und auch schon einige hässliche Bemerkungen zum primären Geschlechtsorgan hervorgezaubert hat. Sehr unangenehm – und auch nicht sehr logisch: die paar Gene sollen reichen?
Als dann in den 60’er-Jahren die Lyonisierung entdeckt wurde (von Mary Francis Lyon), mit der das “rezessive“ X-Chromosom von Säugetieren ausgeschaltet wird (darum auch X-Inaktivierung), atmeten viele Wissenschaftler auf. Zwar stellten sich später einige “Feinheiten“ heraus, die das schöne Bild wieder kippten, aber als Arbeitshypothese war das schon sehr hilfreich. – Allerdings nur für Frauen: das winzige Y gab es ja immer noch.

Dumme Sache …

So kamen dann findige Leute auf eine andere Idee: die Schlüssel-Schloss-These. Was, wenn gar nicht alle Gene auf dem Y-Chromosom wichtig sind? Reicht nicht vielleicht ein einziges Gen aus?
Viele Fachwörter wurden erfunden, viele Kandidaten in den Topf geworfen. DMRT1, AMH, DAX1, ZFY, Gli3, PAX-6, SOX9 und weitere wohlklingende Gene und “dosisabhängige Geschlechtsdeterminationen“ als Antwort gehandelt (den Preis für Kreativität bekommt bestimmt kein Biologe).
Lange führte SRY den Wettlauf an, denn hier schien sich Alles zu bestätigen: nur bei Männern gibt es SRY und es sehr aktiv. Es schien das perfekte Schlüssel-Gen zu sein – und dann kam eine Wühlmaus daher.
Ellobius lutescens … schon ein unschöner Name, nicht? – Und dieses Biest kennt nicht einmal ein Y-Chromosom. Nicht einmal beim Männchen! (ein Scherz)

Nein … es gibt einige Säugetierarten, die ohne Y auskommen, zumeist Nagetiere. Doch alle zeigen das SRY Gen auf einem der X-Chromosomen und erklären dadurch alles. Ausgerechnet die persische Wühlmaus hingegen … kein Y, kein SRY, kein anderer erkennbarer Unterschied …
Schon kam fast der “komplexe kaskaden- oder netzwerkartige Mechanismus“ wieder in Mode, der mit vielen hübschen Worten nichts anderes aussagen soll, als: „ich habe keine Ahnung, aber es hört sich doch sehr sehr kompliziert an.“.
Auch kamen wieder Leute daher, die an die bekannten Fälle von Geschlechtsumkehr bei Säugetieren erinnerten …

“Viele Wege führen nach Rom“ – genau. So entstand stattdessen die Erklärung, dass SRY nur der erste Schlüssel ist, der den Schlüsselkasten für die anderen männerbestimmenden Schlüssel aufschließt. Und dieser Schlüssel kann ja mal verloren gehen … dann braucht’s einen Dietrich.
Eine bequeme Erklärung, die davon ablenkt, dass nicht erklärt wird, wo dieser Schlüsselkasten hängt. Auf dem X-Chromosom etwa? Oder auf einem ganz anderen Chromosom? – Könnte es sein, dass praktisch keines der Männergene auf dem Y liegt? Könnte es sogar sein, dass die Frau gar nicht durch das X bestimmt wird? Tragen vielleicht alle Menschen – wie die primitiven Tiere – die Informationen für beide Geschlechter in sich und nur ein kleines Schlüsselchen entscheidet?
Keine schöne Vorstellung für die konservativen Rollenbildner.

Wir mögen doch so gerne unser Bild vom Individuum. Alle Menschen sind unterschiedlich. Auch ICH. Aber ICH bin auch normal und somit gebe ich den Rahmen vor, in dem sich “Normal“ bewegt.
Anders sind immer nur die vom anderen Geschlecht. Oder doch nicht?
Sind vielleicht die vom eigenen Geschlecht ganz anders und einige vom anderen Geschlecht ähnlich? Hat das vielleicht gar nichts mit den Geschlechtern zu tun, sondern mit anderen Faktoren?

Nein, nein … Zumindest die genetische Grundausstattung ist bei den Menschen eindeutig. Männer haben XY und Frauen XX. Alles andere sind Ausnahmen! – Nicht?

Gut … es gibt auch XXX-Frauen, XXY-Männer und XYY-Männer. Geschätzt kommt das aber nicht einmal in einem von fünfhundert Menschen vor. – Besonders auffällig sind diese Menschen nicht, vermehren können sie sich problemlos und getestet werden höchsten 0,001 % der Menschen darauf (wodurch die Dunkelziffer immens sein könnte).
Und dann gibt es noch das Swyer-Syndrom … grob geschätzt hat das eine von 1000 Frauen, die dann gerne XY-Frauen genannt werden. Sie sind auch extrem unauffällig, körperlich von keiner XX-Frau zu unterscheiden und sie besitzen das SRY-Gen, das Männer-Gen.
Dunkelziffer? – Das kann nicht einmal geschätzt werden.
Können sie Kinder bekommen? – Wer kann das sagen, wenn sie praktisch nur dann entdeckt werden, wenn sie es nicht können? (da kann man die Nutzer eines Zigarettenautomaten auch fragen, ob sie rauchen)

Spielst Du Lotto? Kennst Du die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen? – Jetzt kennst Du die offizielle Gewinnquote dafür ein “Tripple“ zu sein: 1:250 als Mann und 1:500 als Frau. Dafür kannst Du als Frau mit 1:1000 auch ein genetischer Mann sein … - Das sind Wahrscheinlichkeiten, von denen Glücksspieler nur träumen können!
Und bedenke: das sind nur die Geschlechtschromosome; wir haben noch 22 weitere Chromosomenpaare. Was bedeutet da noch “normal“?

Viele Wege führen nach Rom … von Norden, vom Süden, vom Osten, vom Westen …


Quellen:
 Michael Miersch, die ZEIT
 Annette Baumstark
 Evolution und Struktur von Geschlechtschromosomen
 Annette Baumstark, Dissertation

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