andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 08. November 2007, 03:21
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Sieh doch hin!

„Mensch, sieh doch einfach mal genau hin,“ hörte ich vor ein paar Tagen eine Frauenstimme im Supermarkt. Der genervte Unterton war eindeutig über viele Jahre an einer Schar Kinder geschärft worden – oder an einem Ehemann, was oft das Gleiche ist. Auch das leise Seufzen passte dazu, es erzählte innerhalb einer Sekunde eine lange Geschichte, die mit „muss ich Dir denn immer alles tausend Mal erklären“ begann und mit vielen Beispielen, wie: „weißt Du noch, damals in Hamburg, da hast Du nicht einmal den Bahnhof gefunden“, gespickt war. Nur ein Happy End fehlt solchen Geschichten.
„Wir kaufen immer den Mais von Bondüll, nicht dieses billige Zeug,“ ging es weiter. Jetzt konnte ich auch den Angesprochenen erkennen: einen älteren Herrn in den Sechzigern, der im schwarzen Anzug etwas unpassend für den Ort gekleidet war.
„Ich seh’s einfach nicht,“ rechtfertigte er sich. „Es muss ausverkauft sein.“
„Mach’ die Augen auf. Hier ist er doch.“ Die Frau, eine aufgedonnerte Endvierzigerin, die auf etwa acht Zentimeter Absatz balancierte und in ihrem braunen Pelzmantel noch unpassender für den Einkauf gekleidet war.
„Männer haben kein Auge für so etwas,“ fügte sie schnippisch hinzu und stellte gleich vier Dosen in den Einkaufswagen.

Mir kam ein Artikel zum Thema Wahrnehmung in den Sinn. Was hatte da noch gestanden? Die selektive Wahrnehmung des Menschen ist nur zum Teil angeboren und zum weitaus größeren Teil erlernt? – Musste so stimmen, denn Konservendosen mit Mais standen noch nicht in jedem steinzeitlichen Supermarkt bereit. Und vor der Steinzeit war der Vertrieb bestimmt noch schlechter organisiert.
Erlernt heißt natürlich, dass Muster ins Gehirn gestanzt werden. Nicht die komplette Dose Mais mit dem vollen Textinhalt, sondern das Erscheinungsbild und einige Besonderheiten (Maker) werden registriert. Darauf reagiert das Auge – oder besser: das Gehirn, denn dort findet das Sehen statt. Ansonsten sind es noch die Veränderungen zum “Normalen“, die wir wahrnehmen; denn an das Übliche gewöhnen wir uns einfach.

Als ich wenige Minuten später das schneidende „So etwas kauft man nicht!“ hörte, das die Frau im Pelzmantel ihrem Mann zum Thema Billig-Salzstangen ins Ohr flötete, wurde mir auch sehr bewusst, dass dieser Gewöhneffekt nicht allein auf das Sehen beschränkt ist …
Beim „Nicht so schnell!“ kam mir ein Professor in den Sinn, der über Relativität gerne die Anekdote zum Besten gab, dass er im Angesicht einer Polizeiaktion gegen Temposünder sagte: „Wie? 20 Kilometer pro Stunde zu schnell? Wissen sie eigentlich, dass sich unser Sonnensystem mit mehr als 70.000 km/h bewegt? Was machen da noch 20 km/h mehr oder weniger aus.“ – Es funktionierte nicht wie erwünscht, denn der Polizist erwiderte: „Soll ich die 70.000 noch dazu rechnen?“
Der Ehemann von der Frau im Pelzmantel war nicht so schlagfertig (oder vielleicht hatte er sich die Schlagfertigkeit auch ihr gegenüber abgewöhnt … wer weiß?). Er brummelte nur etwas von „Das sieht doch eh keiner, wenn die in der Schüssel liegen.“ vor sich hin. Die preiswerten Salzstangen legte er währenddessen brav weg.
Recht hatte der Mann trotzdem, auch wenn seine Frau das nicht anerkannte. Die Wahrnehmung hat viel mit der Erwartung und dem “Normalen“ zu tun. Vieles wird einfach ausgefiltert oder ausgeblendet. Und nicht einmal das Unerwartete oder Überraschende fällt uns auf, wenn es nicht ins Gesamtkonzept passt. Billig-Salzstangen bei den Eheleuten Pelzmantel? – Nie im Leben!

Inzwischen gibt es Vermutungen, dass viele Autisten einen Fehler in dieser Filterfunktion haben, ja sogar, dass Autismus immer ein Fehler in einer Filterfunktion ist. Photographisches Gedächtnis, Rechenkunststücke, absolutes Gehör … hier wird praktisch jede Information eines Teilbereichs abgespeichert. Verständlich, dass für andere Kapazitäten kaum noch Platz ist. Die Vereinfachung auf Muster schützt halt auch vor Überflutungen.
Da frage ich mich natürlich, ob mein schlechtes Gedächtnis dafür spricht, dass mein Gehirn besonders gut funktioniert …

Frau Pelzmantel und Anhang verlor ich aus den Augen und traf sie später an der Kasse wieder. Die Zwei standen vor mir und der Mann räumte brav den Inhalt des Einkaufswagens aus, während seine Frau die anderen Kunden musterte und meine Bronchien mit einer Parfümwolke quälte. Bei den Maisdosen zögerte der Mann kurz. Dann umspielte ein leichtes Lächeln seine Lippen.
„Wollten wir nicht Mais kaufen?“ fragte er unschuldig und stellte vier Dosen mit einer chinesischen Gemüsemischung auf das Fließband, die den Maisdosen des gleichen Herstellers zum Verwechseln ähnlich sahen (zumindest in Farbgestaltung, Größe, Logo ...).
„Habe ich eingepackt. Sogar das hast Du durcheinander gebracht.“ – Frau Pelzmantel schaute nicht einmal hin.
Der Mann senkte trotzdem den Kopf, damit seine Gattin das Grinsen nicht sehen konnte.

Den kleinen Triumph gönnte ich ihm. Er würde später noch genug Buße tun und mit Sicherheit vier Dosen Mais besorgen müssen …



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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Maya_Gähler (08.11.07)
Oh! Solche Herr und Frau Pelzmantel gibt es bei euch auch?

Amüsiert gelesen und eine Flut von Erlebnissen der ähnlichen Art haben mein Hirn überschwemmt.
Schön, wenn man Informationen auf erheiternde Weise vermittelt bekommt.

 bluedotexec (08.11.07)
Spontan fühle ich mich erinnert an eine Szene an einer Edeka-Schlange. Vor mir stand eine Dame höheren Alters, hinter mir ein Pärchen zwischen 18 und 20. Ich hatte zwei Schokoladenosterhasen gekauft, einer wurde gerade gescannt, der andere lag unglücklich auf einer gedachten Grenze zwischen meinen Waren und den des hinter mir wartenden in Glück schwelgenden Paares. Ich ging schon an der Scannersektion vorbei, das Portemonnaie angriffsbreit im Anschlag, als die Kassendame Anstalten machte, den Hasen zu scannen. Sie sah wider Erwarten nicht mich, sondern den Herrn aus dem glücklichen Paar an und fragte: "Ist das Ihr Hase?"
Er sah sie völlig desillusioniert an, blickte zu seiner Freundin und wieder zurück, als sei ihm der Blitz in die Osterglocke geschlagen, dann sah er wieder seine Freundin an, drückte ihr einen (dem Gesichtsausdruck des weiblichen Parts zufolge feuchten) Kuss auf die Stirn, sah wieder zu der Kassiererin und meinte:
"Ja."

Vermutlich fand auch hier eine selektive Wahrnehmung statt, und zwar gleich zweifach.
1. Aufgrund meiner damals noch guten Figur nahm die Kassenfrau vermutlich an, dass ich nur einen Hasen essen wollte. Daher schloss sie im Unterbewusstsein mich als möglichen Käufer aus.
2. Entschied sich der junge Herr nach kurzem Überlegen dafür, dass es, sollte sich seine Annahme bewahrheiten, ratsam wäre, seine Freundin zu wählen und nicht den Hasen. Wenn er mit seiner Annahme recht gehabt und dennoch den Hasen als seinen Hasen bezeichnet hätte, wäre seine Freundin sicherlich tödlich beleidigt gewesen. Oder eifersüchtig. Oder sie hätte sich zu dick gefunden.

liebe nächtliche Grüße,
patrick

PS: Ich höre aus diesem Text verwunderlicherweise einen feinen Humor heraus, der, was man selten findet, auf beeindruckende Weise von Eloquenz geprägt ist. Fast wie der typische Nuhr-Humor. Und fast hätte ich meine Meinung dazu vergessen - ein toller Text, und ich musste sehr Lachen, als ich ihn las. So sehr, dass die Nachbarn sich durch Klopfen mit dem Besenstiel beschwerten.

 BrigitteG (08.11.07)
"Ist das Ihr Hase?" - DAS ist witzig!
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