andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Mittwoch, 04. März 2009, 23:44
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sexuelle Symbolik

Letztens in der U-Bahn lauschte ich (unfreiwillig) einem Gespräch zweier älterer Damen, die sich über die Verkommenheit der heutigen Zeit ausließen. Alles drehe sich nur noch um die Sexualität und nicht mehr um die wahren Werte, sagten sie wortreich. Die jungen Mädels liefen herum wie Bordsteinschwalben (den Begriff hatte ich schon lange nicht mehr gehört) und die Jungens könnten sich nur noch frech benehmen, prügeln und Frauen nach “billigen“ Äußerlichkeiten abschätzen. Da konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen, denn die beiden Damen saßen nicht gerade in Sack und Asche gekleidet auf ihren Sitzen (dafür war ihre Auftakelung aber bestimmt nicht billig gewesen).
„Alles dreht sich nur noch um Sex,“ meinte die eine. „Egal wo.“ – Sie flüsterte das böse Wort nur leise.
„Ja. Alle machen das nach und keiner fragt, ob das richtig ist,“ ging die zweite Dame (mit frischer Dauerwelle und Pelzmantel aus Zobel, wie sie beiläufig erwähnt hatte) auf ihre Sitznachbarin ein. – Das Fehlen des „Früher-war-alles-besser“ schmerzte durch die Aussage, ohne ausgesprochen werden zu müssen.
„Es geht nur noch um Äußerlichkeiten. Bauchnabel zeigen, knappe Höschen, Biercing an den unmöglichsten Stellen (sie sagte wirklich Biercing) und aufgedonnert wie Nutten.“ – Nein, kein zweites Mal “Bordsteinschwalbe“. Schade.
„Mit der Kunst ist es das Gleiche,“ wechselte Frau Pelzmantel auf eine andere Schiene (metaphorisch geht das in der U-Bahn). „Da sind nur noch nackte Frauen und Männer zu sehen. Deswegen mag ich Bauernmalerei.“
„Ja, ja, die ist schön. Obwohl ich die religiöse Malerei bevorzuge.“
Beide versanken in träumerische Schwärmerei.

Mir kam der Gedanke dort einzuhaken und etwas zu sagen. Aber was?
Auf die sexuellen Aspekte des Lebens hätte ich eingehen können. Darüber sprechen, dass es unbestreitbar ist, dass die Sexualität bei uns eine große Rolle spielt. Täte sie es nicht, wäre die Menschheit längst ausgestorben und würde sich nicht für diese zehn Minuten Gehampel tage-, ja monatelang, abstrampeln. Vielleicht würde sie sich aber auch nicht mehr so stark um das Erzeugen von Menschen kümmern, sondern um das Erhalten von Menschen.
Ich brauchte keinen Blick auf die beiden Damen zu werfen, um zu wissen, dass dieser Ansatz zum Thema nur Empörung hervorgerufen hätte. Pfui, so etwas sagt man doch nicht!
Ein anderer Ansatz wäre, die allgemeine Sexualisierung anzusprechen. Und zwar die Sexualisierung, die sich seit Jahrtausenden durch die menschliche Kultur zieht. Märchen fielen mir dazu ein, Architektur und Kunst. Ein junges Mädchen, das fast von einem bösen Wolf verführt wird, die Früchte im Korb zu vergessen; - ein Junge, der den Finger durch ein Gitter stecken muss, damit gemessen werden kann, ob er schon reif ist; - eine Prinzessin, die so lange schläft, bis sie von einem Mann wach geküsst wird … phallische Säulen, rankenverzierte oder kahle Eingangstüren, hoch aufragende Wohntürme, muschelförmige Protzbauten … Aktmalerei, antike Skulpturen, Liebesgedichte, versteckte Hinweise in Bildern und Texten … da sind halbnackte Frauen auf Motorhauben, die perfekte Hausfrau und Mutter und der erfolgreich wirkende Mann im dunklen Anzug, wie sie in moderner Werbung auftauchen, reichlich platt … Sexualität ist nicht nur nackte Haut. Sigmund Freud lässt grüßen.
Auch die Religion ist davor nicht gefeit. Es steht eine ganze Menge zum Thema Mann und Frau in den heiligen Schriften. Auch scheint es hier eine gewisse Häufung von Männern in Machtpositionen zu geben, was bei Biologen wohl so interpretiert wird, dass da ein Drang existiert ein “Alphamännchen“ zu werden. Und bei Alphamännchen geht es nicht primär darum, zuerst fressen zu dürfen … Erfolg ist attraktiv, egal wie Charakter oder Aussehen sein mögen.
Nun mag man einwenden, dass Attraktivität und Sexualität nur sekundär miteinander zu tun haben und es auch noch andere wichtige Aspekte im Leben gibt, für die die Attraktivität nützlich ist ... Klar, mit einem schönen Schwarzwälder-Schinken kann man sich auch die Wohnung dekorieren, einen schönen Gürtel basteln oder Frisbee spielen. Mir scheint aber, dass der primäre Reiz woanders liegt.

Ob ich auf die Symbolik hätte eingehen sollen? – Religiöse Malerei: Maria mit Kind (wo kommen Kinder her?), hübsche junge Frauen, selbstbewusst wirkende Männer, ältere Männer, die von einer höheren Potenz profitieren, körperliche Bestrafung und Belohnung (SM?) und das Prinzip “Heilige oder Hure“: die eine bekommt den Mann für ein Mal, die andere für immer. – Das brave Mädchen fängt den Wurm. (Doch … wer will schon einen Wurm?)
Oder lieber die Bauernmalerei?

Mit 19 habe ich meine letzten Erfahrungen zu diesem Thema gemacht. In einer Ausstellung unterhielten sich drei ältere Damen über die hübsche Malerei auf einem Bauernschrank – und ich konnte meine Klappe nicht halten.
Ein Blumenstrauß in einer kelchförmigen Vase, Blütenranken drum herum … an einem anderen Schrank Vögel und Schmetterlinge über einem achsensymmetrischen und herzförmigen Blütenarrangement … Ranken hier, Ranken da … ein Herz mit einer Rosenblüte in der Mitte und Ranken, die über dem Herz wuchern … - Zusammen mit meiner damaligen Freundin ging es an eine gespielte Diskussion über bäuerliche Kunst:
„Blüten sind die Geschlechtsorgane der Pflanzen,“ sprach ich die botanische Wahrheit sehr profan aus.
„Aber gemeint ist doch die äußerliche Ähnlichkeit zu den weiblichen Geschlechtsorganen,“ kam es zurück. „Schau doch mal genau hin. Diese Strukturen da, die Falten, die Blütenblätter …“
„Dann stehen die Schmetterlinge nicht für die Sexualität, die die Raupen nie hatten?“ fragte ich.
„Nein, es ist wie bei den Vögeln eher die sexuelle Freiheit, die durch das Fliegen symbolisiert wird. Sie fliegen über den Blüten, die für die weibliche Scham stehen. Und über den Ranken, die als Schamhaare verstanden werden sollen.“
„Na ich weiß nicht,“ spielte ich den Zweifelnden. „Das steht doch eher für Frühling und für Fruchtbarkeit im Allgemeinen. Und die Vase?“
„Der Kelch steht für die Frau. Ist ein uraltes Symbol für die Fruchtbarkeit.“
„Also doch nur die Fruchtbarkeit.“
„Dann schau Dir das Herz an. Sieht so ein menschliches Herz aus? An was erinnert Dich das … na? So mit der Blüte in der Mitte und den Ranken oder Haaren oben?“
„Keine Ahnung.“
„Was faltet sich bei der Frau denn auseinander wie eine Blüte – und sieht dann wie das Herzsymbol aus?“
„Du meinst, wenn es aufgeklappt ist?“
„Genau.“
„Diese Bauern malten ganz schön versaute Sachen.“

In der U-Bahn wäre so ein Dialog auch heute noch peinlich. All die angeblich so sexualisierten Jugendlichen bekämen rote oder große Ohren (oder beides) und die beiden älteren Damen würden genauso reagieren wie die drei Damen vor Jahren: sie würden empört zeternd davonstapfen.
Außerdem ist es nutzlose Provokation, da sich die Leute eh keine Gedanken darüber machen, was Bilder in einer Zeit bedeuteten, in der die wenigsten Menschen lesen und schreiben konnten. Nicht nur Worte können mehrdeutig sein.

Als meine Haltestelle heranrückte fragte ich mich, ob ein Filmzitat als Abschied helfen würde. Vielleicht wäre ein: „Hübscher Pelz, muss der regelmäßig gebürstet werden?“ etwas für die Dame im Mantel aus ermordetem Zobel gewesen … aber dann entschied ich mich lieber für die Keule und sagte vor dem Aussteigen zu meinem Hund: „Nein Paul, das sind keine Kaninchen, das sind Frettchen.“

Die Dame zuckte nicht einmal.



Andreas Gahmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Dieter_Rotmund (05.03.09)
Ich mag keine Kolumen, GAndreas, deren Ich-Erzähler sich moralisch über die (anderen) Personen des Textes erheben.
Und: Wenn du "Bordsteinschwalbe" piefig findest, dann darfst Du auch "in Sack und Asche" nicht verwenden...
wupperzeit (58)
(05.03.09)
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