andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 02. April 2009, 00:41
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Gewöhnung

Der Mensch neigt dazu, dass er eigene Erkenntnisse und Erfahrungen verallgemeinert. Irgendwann sind sie so verinnerlicht, dass sie sogar als grundsätzliche Richtlinien des Lebens angesehen werden, als Realität oder als “so-ist-das-nun-einmal-und-darum-müssen-sich-alle-daran-halten“. Dabei spielen Kriterien wie “richtig“, “gesund“ oder “vernünftig“ keine große Rolle … oder besser gesagt: sie können nur von außerhalb eingebracht werden, wenn eine Veränderung erfolgen soll. Traurigerweise müssen solche Veränderungen auch meist mit Druck und Zwang durchgesetzt werden, weil kein Einsehen zu erwarten ist.
Der eine mag das jetzt für eine Binsenweisheit halten, der zweite winkt uninteressiert ab, der dritte schüttelt den Kopf, der vierte meint, dass dies nur bei einigen Menschen so wäre (womit man niemals selber gemeint ist) und der fünfte mag vielleicht sogar sagen: „So ist das nun einmal …“.

Mir wurde das Ganze heute wieder bewusst, als ich eine Führung durch die DASA erleben durfte. Nicht, dass ich Arbeitsschutz als typischen Anstoß für weitergehendes Denken bezeichnen würde, aber es war schon sehr auffällig, dass viele Dinge, die hier angesprochen wurden, auch in völlig anderen Bereichen angewendet werden können.
Nehmen wir etwa die Einsicht.
Da arbeiten Menschen viele Jahre lang unter miesen Umständen, ertragen Schmutz, Staub, Hitze oder Lärm, und dann ist die erste Reaktion, wenn ihnen Kopfhörer, Atemmasken oder Schutzkleidung angeboten wird: „brauche ich nicht. Man gewöhnt sich daran.“. – Dabei ist es gar keine Gewöhnung im hinlänglich gemeinten Sinne, sondern eine Gewöhnung durch Abstumpfung.
Bei Geräuschen ist der Unterschied sehr leicht zu erkennen. So musste ich mir als Kind häufig am Telefon die Frage anhören, was denn da so laut stören würde … gemeint war die große Kuckucksuhr, die ziemlich penetrant tickte, und die ich längst ausgeblendet hatte. Das ist Gewöhnung. Die ArbeiterInnen aber, die an lauten Maschinen arbeiteten und das erste Mal mit einem Gehörschutz konfrontiert wurden, meinten im Grunde nur den Verlust des Hörvermögens. Das ist Abstumpfung (oder Anpassung).
Das zieht sich als roter Faden durch das gesamte Thema Arbeitsschutz: lästige Schutzhelme, zeitraubende Turnübungen für den Schreibtischarbeitsplatz, Sicherheitsbestimmungen der Feuerwehr und so weiter. Wer holt denn schon eine Leiter, wenn mal eben ein Ordner aus dem oberen Fach des Regals gebraucht wird? Und wer widerspricht dem Chef, wenn er etwas anordnet, das knapp (oder weniger knapp) an den Schutzvorschriften vorbei schrammt? – Da wird die Vernunft für einen kurzen Moment ausgeblendet und die Bequemlichkeit (oder die Angst vor Konsequenzen) gewinnt die Oberhand. Aber ehe man sich versieht ist die Abstumpfung da und die Sache wird nicht mehr als Bruch wahrgenommen, sondern als Normalität.
Und das gilt nicht nur im Arbeitsbereich oder übertragen auf Unfälle in der Freizeit. Das gilt auch für praktisch alle anderen Bereiche des menschlichen Lebens. – Schauen wir nur einmal auf das Rollenverständnis (Genderfrage) in unserer Gesellschaft: sind wir daran gewöhnt, dass die Frauen noch immer weniger verdienen und meinen sich aufbrezeln zu müssen? Oder ist es so, dass die Mahner gegen die Windmühlen der Abstumpfung anrennen?
Sind wir nun gewöhnt an die verbreiteten primitiven Formulierungen, an die grammatikalischen Fehler und an den Verlust ausgefeilter Sprache? Oder sind wir schon beim nächsten Schritt, dem: “So-ist-das-nun-einmal-und-darum-müssen-sich-alle-daran-halten“?
Zumindest bei den Themen “Arbeit und Geldverdienen“ und “Wirtschaft gegen Umwelt“ ist es eindeutig. Niemand kann behaupten, dass er nichts wüsste oder nur mal kurz ausgeblendet hat, dass es unlogisch und gefährlich ist die Arbeitsanforderungen immer weiter zu erhöhen, die Löhne zu reduzieren und dann über hohe Arbeitslosenzahlen und fehlende Kaufkraft zu wettern. Und niemand kann es als kurze Modeerscheinung abtun, dass Umweltschutz immer nur über Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden kann und sogar einschläft, wenn über hohe Kosten gejammert wird. Das ist reinste Abstumpfung, die darin pervertiert, dass es plötzlich als normal und “vernünftig“ bezeichnet wird, dass Lastwagen durch die Gegend stinken und die nicht arbeitende Bevölkerung als Schmarotzer und Parasit gilt.

Der Arbeitsschutz hat mit der Gewohnheit zu kämpfen, hat aber den Vorteil, dass die Wirkungsketten klar und eindeutig sind. Bei schweren Handarbeiten reagieren die Nerven in den Händen zuerst mit Überreizung, dann mit Taubheit und zum Schluss damit, dass sie absterben. Das lässt sich ziemlich genau belegen und nachweisen.
Bei Gehör-, Geruchs- und Augenschäden funktioniert das auch noch, also immer dann, wenn die Sinneswahrnehmungen betroffen sind (im Gegensatz zu vielen Langzeitschäden an anderen Organen). Was aber, wenn die Wahrnehmung nicht so fundamental bemerkt wird und nicht so leicht zu testen ist? Stumpfen und töten wir inzwischen mit Überzeugung ganz andere Gefühle ab, weil wir meinen, uns an Intoleranz, Ungleichheit, kurzfristiges Denken, wirtschaftliche Logik und Leistungsdenken gewöhnen zu müssen?

Bei Schwerhörigen kommt es häufig vor, dass sie sich so normal empfinden, dass sie dem Gegenüber sagen: „Sprich nicht immer so leise. MAN versteht Dich ja gar nicht.“ – Vielleicht ist es ja schon ein Indiz, wenn nach einer Steigerung gerufen wird? Wenn es heißt: „Mehr, mehr.“ – Egal wo.



Andreas Gahmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

wupperzeit (58)
(03.04.09)
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 Dieter_Rotmund (03.04.09)
Hat mir auch sehr gefallen!

Im Grunde ein Plädoyer dafür, daß Toleranz überbewertet wird; Chapeau!
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