andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 23. April 2009, 15:35
(bisher 1.281x aufgerufen)

bestimmt

Das selbstbestimmte Leben ist ein Begriff, der nicht nur den Rechtschreibexperten Kopfzerbrechen bereitet, Logiker aufhorchen lässt, Biologisten verstört oder Soziologen ein entschiedenes „Na ja“ entlockt. Auch für viele religiöse Menschen ist dieses Schlagwort nicht ohne Probleme - und die Stellungnahme der Juristen ist absehbar.
Besonders die kritischen Faktoren sind mannigfaltig. Wo ist die Grenze zu ziehen zu den gesellschaftlichen Verpflichtungen und Interessen? Welche Entscheidungen sollten noch erlaubt sein? Welche Entscheidungen nicht mehr? Darf ein Erwachsener mehr bestimmen als ein Kind? Gibt es also eine Art “Reife“ für die Selbstbestimmung? Gibt es somit auch eine Unreife? – Wovon hängt das ab? Bildung? Intelligenz? Weisheit? Alter? Finanzielle Unabhängigkeit?
Unstrittig ist, dass nicht in jeder Umgebung gleich viel Selbstbestimmung möglich ist. Der Hauptfaktor der Einschränkung scheint also die Gesellschaft zu sein, die einen Rahmen vorgibt, in dem sich ihre Mitglieder bewegen, entwickeln und “selbstbestimmen“ können. Mehr sogar: sie wertet die unterschiedlichen Möglichkeiten der Entwicklung und gibt einen Kanon vor, der klar unterteilt ist in erwünschter, akzeptierter, tolerierter, abgelehnter und verdammter Verwirklichung. Daran wird auch die Selbstbestimmung gemessen.
Wird zum Beispiel die Selbstverwirklichung der Frau in einem religiös geprägtem Umfeld auf gewisse Normen reduziert, so gibt das gleich die Grenzen der weiblichen Selbstbestimmung vor. – Das ergibt von der üblichen Wortbenutzung sogar einen Sinn, man denke nur an: “seine wahre Bestimmung finden“, “die ursprüngliche Bestimmung des Menschen“, “es ist so bestimmt“ … da blitzt mehr als deutlich ein vorgegebener Weg durch. Ein höherer Plan, sozusagen.
Dabei sind es weniger die Moral und die Ethik, die die Richtung vorgeben. Auch Gesetze scheiden schnell aus und sogar die Mode (die es natürlich auch hier gibt) kommt vor der Ziellinie ins Pusten. Übrig bleiben eigentlich nur kurze logische (oder logisch klingende) Formeln, etwa: “das gehört sich nicht“, “das kannst Du dem/den Anderen nicht antun“, “das habe ich verdient/nicht verdient“ …

Das gilt natürlich auch für die geistige Selbstbestimmung und nicht nur für die materielle: erlaubt ist, was erlaubt wird. Der Grundsatz “Freiheit ist immer die Freiheit des Anderen“ wird dadurch ziemlich ausgehebelt, denn auch hier wird deutlich, dass es von dem Vermögen abhängt. Dem materiellen, wie dem geistigen.
Was aber, wenn ein wichtiger Faktor unberücksichtigt bleibt? – Immerhin nehmen wir als gegeben hin, dass unsere biologischen “Wünsche“ natürlich sind, aus uns selbst heraus kommen und für alle Menschen gleich gelten. Mag es auch in der Konsequenz Unterschiede im Wie geben, so erscheinen “Urlaub“, “Erholung“, “Liebe“, “Erfolg“, “Bestätigung“, “Anerkennung“ und “gutes Essen“ grundsätzlich angestrebt zu werden.
Doch darüber, wie diese Wünsche uns erreichen, durchfluten und lenken, schwebt ein diffuser Nebel des Mystischen. Irgendwie ist das einfach da – und fertig. Oder, wie ich es letztens noch so schön hörte:
„Das machen die Gene.“
„Und wie?“
„Sie schalten das beim Menschen ein.“
„Und wie?“
„Die sagen uns das. Fertig.“

Also sind Gene nichts weiter als kleine Kobolde, die in unseren Zellen hocken und uns ständig etwas einflüstern. Kein sehr erquicklicher Beitrag zum Thema Selbstverwirklichung oder Selbstbestimmung, der den vielgelobten eigenen Verstand somit gegen zwei große Boxer in den Ring steigen lässt: die gesellschaftlichen Vorgaben in der linken Ecke, die kleinen Kobolde in der rechten Ecke. Der Verstand dazwischen.
Sieht ganz nach einem ungleichen Kampf aus, nicht?
Von links werden wir mit simplen Antworten und Floskeln bombardiert, von rechts kommen winzige Hormone und Botenstoffe, die im Auftrag der Kobolde unterwegs sind. Die einen haben die Schlüssel zu unserer Erinnerungs- und Erziehungswelt, die anderen haben die Schlüssel zu unserer Körper- und Gefühlswelt (wobei beide unter der Gürtellinie zuschlagen können). Wie bei einem Automaten werden die Funktionen hin und her geschaltet. Dazu kommen noch die vorher abgeschlagenen anderen Faktoren, die die Schwäche des Kämpfers wittern und ihre eigenen Waffen in Stellung bringen: die Mode schießt mit Verheißung, die Religion mit Belohnung und Strafe, die Esoterik mit Verlockung, die Sitte mit eigener Anerkennung oder Ächtung, das Gesetz mit erhobenen Zeigefingern (oder schwedischen Gardinen) … ein wilder Kampf, in dem der Verstand mehr Schlachtfeld als Teilnehmer ist.
Und dann kommen neueste Meldungen, die die Vermutung reifen lassen, dass es noch völlig andere Kämpfer geben könnte, die sich einmischen. Sie benutzen (wenn sich der Verdacht wirklich erhärtet) ähnliche Waffen wie die kleinen Kobolde. Nur mit dem Unterschied, dass sie ausschließlich eigene Interessen verfolgen.
Gemeint ist das Forschungsgebiet von Jaroslav Flegr, einem Evolutionsbiologen an der Universität Prag, das sich um Krankheitserreger und Parasiten dreht. Flegr hat das bekannte Wissen zusammengetragen, als er einige Auffälligkeiten bei seinen Studien entdeckte. Bekannt sind etwa eine Reihe von Parasiten, die das Verhalten ihres Wirts (oder Zwischenwirts) massiv beeinflussen, indem sie winzige Zysten im Gehirn bilden und sehr spezielle Botenstoffe abgeben. So klettern Ameisen nicht aus innerer Überzeugung an die Spitze von Grashalmen, um sich dort von Schafen fressen zu lassen (die natürlich nur das Gras verspeisen wollen und nicht den kleinen Leberegel in Ameise). Und auch bei den angstlosen Mäusen, die geradewegs auf Katzen zugehen, handelt es sich nicht um Individuen mit missionarischem, suizidalen oder sexuell gestörtem Eifer. Hier handelt der Parasit toxoplasma gondii für die Mäuse und lässt sie auf direktem Weg zu seinem nächsten Wirt tappen.
Ausgerechnet diesen Parasiten hat Flegr auch im Menschen gefunden. Ziemlich häufig sogar: etwa in jedem dritten Menschen. Das wirft Fragen auf (gehört der Mensch zur Beute der Katze?), aber auch gewisse Befürchtungen. Was etwa, wenn diese Plasmodien auch das menschliche Verhalten beeinflussen? Und was, wenn die Plasmodien nicht die einzigen Fremdbestimmer sind?
Flegr vermutet, dass etwa der Syphilis-Erreger zu den Kandidaten gehört (Steigerung der sexuellen Triebe, damit er sich fortpflanzen kann) und dass da noch ganz andere Boxkämpfer im Schatten lauern. Zum heiklen Thema Selbstbestimmung würde das dann prima passen und endgültig jede Chance auf einen übersichtlichen Kampfverlauf zerstören. Wer wäre dann Sieger nach Punkten?


Andreas Gahmann

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Dieter_Rotmund (23.04.09)
Vieles wird nur angerissen, aber in einer Kolumne ist ein ausufernder Bericht ja auch nicht gewollt; warum der Text gerade mit Parasitenbefall beschließen muß: Hmm. Ich hätte mir mehr einen Schluß gewünscht, daß Selbstbestimmung, wenn wir ehrlich sind, nur in sehr engen Grenzen möglich ist und die alles tolerierende Gesellschaft Illusion, wenn nicht sogar Lüge und Selbsbetrug ist. Aber sonst: Gut&flott geschrieben! Besonders gut hat mir die Boxkampf-Metapher gefallen!
wupperzeit (58)
(23.04.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Bergmann (24.04.09)
Mit Interesse gelesen!
Überhaupt eine enorme Kolumne, die zweitälteste und zweitumfangreichste. Respekt, Administrator! Herzlichst: Uli
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram