andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Mittwoch, 02. September 2009, 23:17
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Doping für alle

Der Mensch hat sich selber homo sapiens genannt und übersetzt es als “der vernunftbegabte Mensch“. Rein technisch ließe sich sapiens auch durch “weise“ oder “einsichtsvoll“ ersetzen, aber offenbar gibt es eine gewisse Scheu so weit zu gehen. Vielleicht liegt es daran, dass Misstrauen aufkommt, wenn jemand sich einen ausgedachten Titel schenkt, eine selbstgeklöppelte Krone aufsetzt und sich dann auf dem eigenhändig zusammengebastelten Thron lümmelt.

Titel und Namenszusätze werden bei uns normalerweise nicht durch Selbstverleihung erworben. So etwas erbt man oder bekommt es dann, wenn ein Bildungsstand abgeprüft, eine gewisse Fähigkeit bewiesen oder Macht angehäuft wurde. Oder schlichtweg dann, wenn Geld den Besitzer wechselt.
Das wird gemeinhin gerne unter der Rubrik “Leistung“ verbucht (auch das Ererbte und Gekaufte), hat aber nur eine einzige Gemeinsamkeit: die Gesellschaft ist daran beteiligt (durch Akzeptanz, Regeln u.a.). Oder anders ausgedrückt: anerkannte Titel werden nicht selber zusammengebastelt, sondern vergeben.
Wundert es da, dass homo sapiens eher vorsichtig übersetzt wird?

Selbsternennungen sind verpönt. Ernannt (oder akzeptiert) wird von der Gesellschaft oder von einer Gesellschaftsgruppe (stellvertretend für die Gesellschaft), denn nur hier macht es einen Sinn eine Art Werteskala einzuführen.
Denn: Ein Einsiedler in der Wüste braucht keine Titel oder gesellschaftliche Anerkennung. Klar.

Die Orientierung erfolgt über Normalwerte, die nach oben und unten noch erlaubte Spielräume lassen, aber nur nach unten eine echte Ausgrenzung kennen (wobei auch extreme Ausrutscher nach oben nicht uneingeschränkt bejubelt werden).
Wer in den Normalwerten extrem absackt … nun ja, der muss bestraft werden (wie auch immer).
Wer in den Normalwerten einen Überflug macht … nun, es finden sich schon Makel, die denjenigen wieder auf ein normales Maß zurechtstutzen.
Im Grunde ist nämlich die Normalität nicht nur das Maß, sondern auch gleich das Ideal. Ausreißer können durch Ausreißer in die andere Richtung ausgeglichen werden, aber das gefühlte Gesamtbild muss ausgewogen sein.

So weit, so gut. Es ist eine in sich logische gesellschaftliche Angelegenheit, die die Regeln für diejenigen vorgibt, die sich innerhalb der Gesellschaft bewegen wollen. Schwierig wird es nur dann, wenn jemand nicht mitspielen möchte, aber dennoch Teil der Gesellschaft sein oder bleiben will. Hier gibt es nur ganz oder gar nicht.
Heutzutage wird es aber auch zunehmend schwierig, weil sich immer mehr Gruppen innerhalb der Gesellschaft bilden, die eigene Normalitäten entwickeln. Dadurch wird aus einem anscheinend fest definierten Wert plötzlich eine ziemlich schwammige Angelegenheit.
Als Beispiel mag mal die Computer- und Internetnutzung stehen: große Teile der Bevölkerung sind hier sehr aktiv und kennen sich gut aus, doch erhebliche Bevölkerungsteile haben keine leise Ahnung davon. – Wenn nun aufgrund der mehrheitlichen Kenntnisse (= normal) eine Art Pflichtbenutzung eingeführt wird, kann nur eine Ausgrenzung die Folge sein. Genau das findet statt.

Beim Auto und Führerschein wurde es schon vorgemacht: wer nichts dergleichen hat, kann froh sein, wenn er/sie nur mitleidig belächelt wird. In vielen Bereichen ist auch mit starken Einschränkungen oder sogar Nachteilen zu rechnen. Etwa bei der Jobsuche, der Wohnungswahl, dem Partnerfinden, der Nutzung von Freizeitangeboten und, und, und.
So zieht sich das durch viele Bereiche unserer Welt: äußere Erscheinung (Kleidung, Mode, Frisur), Bildung (man denke nur an die Fähigkeit lesen und schreiben zu können), Berufsausbildung, Anzahl der Kinder, Benehmen, Fernsehbenutzung …

Lustig in diesem Zusammenhang ist, dass sich die Normalitäten in den Gesellschaften unterscheiden und wiederum – zumeist auf dem unschönen Weg des niedrigsten gemeinsamen Nenners – auf eine Art Supernormalität angeglichen werden müssen (das versteckt sich auch unter der Globalisierung). So fallen plötzlich ganz entscheidende Wertevorstellungen durchs Raster und praktisch niemand nimmt das zur Kenntnis.
Kinderarbeit etwa … in Deutschland und Europa ist sie (weitestgehend) geächtet (soweit es nicht die Pflicht ist zu büffeln, bis der Schädel raucht), aber weltweit ist sie völlig normal. Vorschläge, die Produkte aus Kinderarbeit zu verbieten, gibt es zwar immer wieder, aber …

Es bilden sich Nischen innerhalb der Supernormalität, in denen (nach klaren Regeln) eine kleine vorgegaukelte Welt ohne die reale Normalität existieren kann.. Das mögen Hobbyverbände von Mittelalter-Freaks sein, die eine spielerische Welt leben. Das mögen Religionsgruppen sein, die dieses Eigenleben schon weitaus ernster nehmen. Oder es sind Länder wie Deutschland, die eingepuffert durch ähnliche Gruppen (Länder) ihre eigene Welt noch viel realer und normaler empfinden. Oder noch größere Gruppen wie etwa Europa, die schon soviel Macht besitzen, dass sie Supernormen vorgeben können (oder die anderen zwingen die echte Normalität nicht an die große Glocke zu hängen).
Global funktioniert das auch, zum Beispiel beim Sport. Weltweit hetzen überall Mannschaften aus elf Spielern oder Spielerinnen hinter einem Lederball her und richten sich dabei nach Regeln, die in ihrer begrenzten Welt fundamental sind. Die meisten dieser Regeln sind außerhalb des Rasenplatzes völlig weltfremd und doch gibt es sogar Regeln, die das Leben dieser Menschen durchgehend bestimmen.
Das mag seltsam erscheinen, hat aber eine sehr logische Erklärung: die Normalität kann von außen bestimmt werden, was einen unglaublichen Reiz hat. Normalerweise bestimmt nämlich die Gesellschaft selber ihre Normalität und ist darin nicht nur unberechenbar, sondern auch Strömungen, Moden und unkontrollierbaren Entwicklungen unterworfen.
Doch komischerweise beeinflussen solche kleinräumigen Regelwerke das Denken der Gesellschaften. Fairplay, Foul, Teamgeist und Doping zeugen davon (der “Einwurf von der Seitenlinie“ natürlich nicht), denn irgendwie nistet sich das Bild einer idealen und leicht zu überblickenden Normalität in den Köpfen ein. Was auf dem Fußballplatz gut ist, kann doch auf dem Lebensplatz nicht schlecht sein …

Wir wissen alle, dass es Fairplay im normalen Leben kaum gibt (Nachtreten hingegen sehr häufig). Fouls werden nicht abgepfiffen und von Teamgeist kann keine Rede sein. Der Einzelspieler zählt und nur der persönliche Erfolg ist wichtig, wobei es nicht um das Schießen von Toren geht.
Und das Doping?

Bisher hält sich der Mythos, dass es im Sport sauber zuginge und dass es im Leben kein vergleichbares Problem gibt. Das ist natürlich ausgemachter Quatsch. Wir steuern mit offenen Augen auf eine Zeit zu, in der das Doping-Verbot nur noch auf den Sport begrenzt sein wird. Schon heute werden Wachmacher, Psychopharmaka und Beruhigungsmittel häufiger von Gesunden als von Kranken benutzt. Sie dienen der allgemeinen Leistungssteigerung (bei Prüfungen, bei der Arbeit und beim Sex) und dem Funktionieren innerhalb der Gesellschaft, was im Rückschluss zu einem Anstieg des Normalitätswertes führen wird. Und damit zur Benutzung bei der Mehrheit der Bevölkerung (die sich ja innerhalb dieser neuen Normalität bewegen will).

Es geht vielleicht doch um selbstbastelte Titel, Kronen oder Throne. Es wird weiterhin so bleiben, dass nicht der einzelne Mensch bestimmt was er ist. Er hat nur eine Mitbestimmung bei dem Grad seines Funktionierens innerhalb der Gesellschaft.
Nehme ich die Pillen, die meine Konzentration zehn Stunden anhalten lassen? – Wähle ich für meine Kinder die “besseren“ Gene, damit sie später Erfolg haben? – Kaufe ich das eigentlich unnötige große Auto, das die Umwelt verpestet, aber den Arbeitskollegen neidisch macht? – Nehme ich die Pillen, die mir die Ängste nehmen? – Achte ich darauf, ob Kinderhände meine Hose genäht haben? – Erlaube ich mir eine eigene Moral, obwohl ich dadurch extreme Nachteile erleiden werde? – Oder nehme ich schnell die Pille gegen Gewissensbisse?

Homo sapiens oder homo pharmaciensis ?



Andreas Gahmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 IngeWrobel (03.09.09)
Ein ausgezeichneter Artikel!
Manchmal bin ich froh, manchmal ein Freak zu sein. ,-)
Inge

 Dieter_Rotmund (04.09.09)
Also hier einen Begriff der Supernormalität zu prägen, finde ich für eine Kolumne auf einer kleinen Lyrik-/Prosa-Internet-Seite sehr ambitioniert. Aber okay, Andi, kannste natürlich machen!
Interressant ist, dass gerade auf das (gutgewählte) Beispiel der Mittelalterfreaks offenbar gleich schlafende Hunde geweckt wurden.... Wobei diese oft so sehr in ihren Eskapismus verwoben sind, dass ich kaum glaube, dass sie ihre Welt als "spielerisch" emfpinden, wenn schon der durchschnittliche War-of-Worldkraft-Nerd seine War-of-Worldkraft-Erlebnisse als reale Erlebnisse empfindet.
Das mit dem nicht anerkannten Einssiedler in der Wüste ist interessant, geht in Richtung Rousseau, aber auch hier kann ein Kolumne nur ein bisschen anreißen, oder?
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