andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 02. September 2010, 02:12
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… und schon wieder die Gene

Und wieder einmal geistern die Begriffe “Gene“ und “Rasse“ durch die Medien und durch die Köpfe der Menschen. Was ist eine Rasse? Was können Gene? Haben Juden eigene Gene? Sind Juden genetisch klüger? Sind Türken dumm?
Kaum kommt es noch darauf an, was ein schreibender Banker wirklich geschrieben oder gesagt hat. Alles verselbstständigt sich und findet Nahrung in anderen viel gedachten Gedanken, um sich dann weiter zu vermehren und zu verändern, als würde die Evolution mit ihren Mechanismen auch für Ideen gelten.
Vielleicht macht sie das sogar, denn es gibt nicht nur das “der-Fitte-überlebt“, das so gerne mit “der-Stärkere-gewinnt“ falsch übersetzt wird, es gibt auch den Vorteil der hohen Vermehrungsrate (was ja auch diskutiert wird), den Vorteil des simplen Aufbaus, den Vorteil der Anpassung, den Vorteil des Nichtanpassens (des Universellen oder Flexiblen), den Vorteil des Immerwiedergleichmachens (warum das Risiko des Neuen, wenn das Alte funktioniert?) und viele andere Methoden existent zu bleiben und sich zu vermehren. Das gilt natürlich nicht nur für materielle Dinge, sondern auch für Ideen und Gedanken. Da erscheint es besonders bedauerlich, dass sich die Evolution eben nicht auf richtig und falsch einlassen wollte.

Aber was machen Gene eigentlich? – Allgemein heißt es doch immer wieder, dass sie unser Aussehen bestimmen und unseren Körper formen. Sie scheinen eine Art Druckvorlage zu sein, nach der wir eins zu eins gebaut werden. Wäre es dann nicht logisch, dass sie auch die Intelligenz bestimmen, weil sie das Gehirn in der Form bauen lassen, die vorbestimmt ist?
Das klingt logisch, aber schon ein wenig Jonglieren mit den Zahlen lässt erkennen, dass es so nicht funktionieren kann:
Der Mensch hat 20.000 bis 40.000 Gene, doch so genau weiß das keiner und die geschätzten Zahlen ändern sich regelmäßig. Besser fassbar ist die Zahl von etwa 3 Mrd. Basenpaaren, die das menschliche Genom bilden, also auch die Gene.
Dagegen stehen etwa 100 Mrd. Nervenzellen im Gehirn, die mit geschätzten 100 Billionen Verbindungen miteinander vernetzt sind. Das bedeutet, dass die Gene schon von ihrer Menge nicht ausreichen, um als Vorlage oder Bauplan dienen zu können.
Und genau da liegt das Geheimnis der Gene: sie geben nur einen Anfang vor. Der Rest organisiert sich irgendwie selber (wie genau, da sind sich die Wissenschaftler bis heute nicht sicher). Ein sich selbst organisierendes System, eine faszinierende und kaum nachvollziehbare Angelegenheit.
Aber hier bietet sich auch der Raum für äußere Einflüsse, die einen wesentlichen Einfluss nehmen. So wirkt sich die Nahrung auf das Wachstum aus, wie allgemein bekannt ist, aber auch auf die Gehirnleistung und auf die Neubildung der Zellen und Verbindungen. Auch das ökonomische Prinzip ist stark beteiligt, denn es gilt, dass benutzte Bereiche wachsen und nicht benutzte Bereiche verkümmern (selbst bei Erwachsenen). Und damit sind nicht nur Muskeln gemeint, sondern auch innere Organe (Knochen, Lunge, Magen, Herz …) und natürlich die Gehirnzellen (oder vielleicht besser: die Gehirnregionen).
Das ist bekannter, als viele zugeben möchten. Warum spielen denn viele Mütter ihren ungeborenen Kindern klassische Musik vor oder meiden Alkohol und Nikotin? Sie wollen möglichen Schäden durch äußere Einflüsse vorbeugen und Anlagen zu Fähigkeiten unterstützen. Was sonst?
Es stellt sich also heraus, dass die klassische Frage, was uns mehr beeinflusst – Gene oder Erziehung? – einen entscheidenden Punkt vernachlässigt. Die äußeren Einflüsse sind nämlich keine Erziehung oder Prägung im klassischen Sinne und mit den genetischen Vorbedingungen haben sie auch nur bedingt zu tun. Sie stellen vielmehr einen ziemlich unberechenbaren Faktor dar. Noch unberechenbarer als die Prägung (etwa: frühkindliche Prägung), die auch schon kaum zu fassen ist.
Waren die Nachkommen von Johan Sebastian Bach deswegen Musiker, weil sie es in den Genen hatten? Oder wurden sie Musiker, weil sie schon als kleine Kinder Instrumente spielen lernten? Oder bildete sich das Gehirn musikalisch aus, weil die musikalischen Bereiche seit den ersten fötalen Entwicklungen unter musikalischen Dauerfeuer standen und quasi hochtrainiert wurden? – Aber warum kam dabei kein weiteres musikalisches Genie heraus? Und warum ist etwas Ähnliches bei anderen Musikerfamilien unbekannt?
Von Familienangehörigen kennt man zumindest die Ähnlichkeit der Gene und doch kommen recht unterschiedliche Veranlagungen heraus. Hochgerechnet auf eine Rasse muss der Einfluss der Gene eigentlich immer stärker abnehmen. Oder?
Aber es gibt da auch noch die Probleme mit der Rasse selber. Zuerst: kennen wir nichtkörperliche angeborene Fähigkeiten, die eine Rasse besonders ausmacht? Können wir zwischen Chinesen, Indios, Massai oder Inuit Unterschiede feststellen, die auf angeborene geistige Fähigkeiten schließen lassen könnten, wenn wir es schaffen würden die übrigen Einflüsse auszuschließen? – Sprachbegabung? Intelligenz? Mathematisches Geschick? Musikalisches Talent? – Mir ist keine auch nur ansatzweise seriöse Untersuchung bekannt. Die Unterschiede innerhalb der Rassen sind viel zu groß dafür, als dass sich jemand an das Thema heranwagen würde. Und: die genetische Vielfalt der Menschheit ist extrem gering, viel geringer als bei den meisten Tierarten.
In Mitteleuropa haben wir ein weiteres Problem, das jede Untersuchung von vornhinein ausschließt: es gibt nicht die reine Rasse des Mitteleuropäers, sondern nur Häufungen bestimmter Untergruppen einer “kaukasischen“ Rasse, die im Laufe Tausender Jahre ständig durchgemischt wurden. Jede genetische Vergleichsuntersuchung müsste also Zehntausende von Probanten haben, um überhaupt stichhaltige Ergebnisse liefern zu können.
Das dritte Problem ist die Frage nach der Unterscheidung von Volk, Religion, Sprache, Kulturgemeinschaft und Rasse (um nur fünf der großen Punkte anzusprechen), wo sich doch alles über die Zeit vermischt und vermengt hat. Sprache ist ein äußerer Faktor, der unser Denken bestimmt, Religion kann stark prägen, Kultur hinterlässt tiefe Spuren, doch wo sind die Grenzlinien und wo fängt ein Volk an – oder eine Rasse?

Bei all dem Durcheinander und der Komplexität des Problemkreises ist es vielleicht gar nicht so schwer den Grund für das Anhalten der Debatte über genetische Über- und Unterlegenheit zu finden. Die Idee ist simpel und leicht verständlich, nimmt nicht zu viel Platz im Kopf ein, gibt Selbstbewusstsein und kann sich schon durch einen intellektuellen Quickie in andere Gehirne vermehren. Ein klarer evolutionärer Vorteil.


Andreas Gahmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Jorge (02.09.10)
Ich habe die betreffende gestrige Fernsehsendung nur vom Nachbarzimmer häppchenweise mitverfolgt und fand es bemerkenswert, wie wenig demokratisch man mit Thilo S. umging.
Dieser Kommentar erhellt erfreulicherweise mein Grundwissen um die Bedeutsamkeit der menschlichen Gene und macht mich für den September wieder etwas gescheiter.

 AlmaMarieSchneider (02.09.10)
Ich denke Herr S. hat versucht politische Versäumnisse wissenschaftlich den Betroffenen unterzujubeln. In den 60er Jahren wurden einfache Handlanger in den deutschen Produktionen gebraucht. So verließen arme Bauern und Menschen ihre Heimat, die hier sich eine Ernährungsmöglichkeit für ihre Familien zu Hause erhofften. Da gab es keinen Deutschunterricht oder eine Einweisung in die deutsche Kultur. Friß oder stirb hieß es für diese Gastarbeiter. Die Deutschen ihrerseits wußten auch nichts über diese Menschen. Es brauchte sogar etliche Jahre bis Werkskantinen begriffen, daß Muslime kein Schweinefleisch aßen und Bier ablehnten.
Jahre später kamen Frau und Kinder nach, die auch kein Deutsch sprachen und so traf man sich unter sich und blieb unter sich. Was hätten sie sonst auch tun sollen. Erst die hier geborenen haben Chancen und 14% nutzen sie bereits.
Mit Genen hat diese Sache nicht viel zu tun. Eher mit sozialem Gefälle, das Generationen braucht um aufgehoben zu werden.
München zeigt wie es geht.
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