KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Freitag, 15. Januar 2010, 23:27
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AUS EINEM TOTENLEBEN - I. Prosa. Barbara Mundt (2)

Ich stelle heute nach längerer Zeit einen Prosa-Text vor, der Beachtung verdient. Unter dem Text steht meine Rezension.
Die deutsche Autorin, die in Portugal lebt, gehört nicht zu KV.

Textauszug
RÄDERGESANG
von Barbara Mundt

Ort der Handlung: Das Abteil eines Zuges
Personen: Eine Frau, Liliane,
Ein langer dünner Mann, Oskar
Ein Schaffner ohne Namen
Ein Mädchen mit vielen Namen, ca. neun Jahre alt

...


Oskar (verzweifelt): Ist denn hier keiner, mit dem man reden kann?
Man hört die eintönigen Fahrgeräusche. Dann hält der Zug mit quietschenden Bremsen, Türen schlagen, eine Durchsage, ein Bahnhof.
Eine Frau betritt das Abteil. Sie sieht genauso aus wie Liliane. Sie hat ein Kind dabei und hält es fest an der Hand: ein Mädchen mit dunklen Locken. Es trägt einen hellen Mantel, eine Mütze und hat einen Plüschhund im Arm.

Frau: Sind hier noch zwei Plätze frei?
Oskar schaut die beiden an, wie Gespenster und nickt wortlos. Die Frau und das Mädchen setzen sich ihm gegenüber.
Oskar (zu sich selbst): Die beiden sehen müde aus.
Er holt eine Plastikdose aus seiner Tasche, wischt verlegen einen Teller mit einem Tuchzipfel sauber. Räuspert sich.
Oskar: Eh, bitte. Haben Sie vielleicht Hunger. Ich hätte hier Kartoffelsalat und
Frikadellen
Das Mädchen lächelt freundlich: O ja, ich habe großen Hunger. Mmmh, Kartoffelsalat.
Frikadellen ... Schweinefleisch, danke, lieber nicht.
Oskar (eifrig): Neinnein, ich esse kein Schweinefleisch. Das ist mir zu fett und
verursacht Gicht.
Das Kind greift zu.

Frau: Wir können Ihnen doch nicht alles weg essen.
Oskar (leicht): Das macht doch gar nichts. Ich bin ja bald am Ziel. Außerdem habe
ich gar keinen Hunger. (Zu dem kauenden Kind):
Du siehst aus wie meine kleine Schwester, die einst verloren ging. Sie hatte ebensolche Locken. Aber sie war nicht meine Schwester, das habe ich bloß geträumt. Sie war meine Großmutter und ich habe nur ein Foto von ihr. Ich träume von ihr, wie sie mit vielen vielen in einen Zug einsteigen muss. Ein Zug ohne Fenster und in meinem Traum werden sie zu einer Viehherde. Und wie das Mädchen mit dem roten Mantel stehen sie dort auf dem Bahnsteig. Und dann höre ich eine einsame Klarinette, die immer die selbe Melodie spielt. Und immer wiederholt sich alles, neu und doch fremd. Es macht mir Angst und die Angst macht mich hungrig. Und immer die Züge, die durch die Nacht fahren auf schimmernden Gleisen. (Man hört die Zuggeräusche, Musik Steve Reich, During The War)

...

Rezension
zu Barbara Mundt, Rädergesang. Theaterstück in einem Akt

Die lyrischen Szenen in einem fahrenden Zug sind ein alptraumhaftes Stück Monotonie, ein trauriger Canto. Die Schienengeräusche in dieser Lebens-Parabel schlagen den Takt einer unbarmherzig fließenden Zeit. Das Leben ist eine Reise auf vorbestimmten Wegen, die Reisenden erscheinen passiv, ihrem Schicksal ausgeliefert. Eine Handlung gibt es zunächst nicht. Entscheidungen auch nicht. Veränderungen sind unmerklich und erscheinen unwesentlich, wie in der minimal music von Philip Glass, die die Dialoge begleitet. Nichts deutet auf den Schluss hin, der in der individuellen und kollektiven Tragödie eines angstvollen Totenlebens eine Katastrophe sein müsste. Rettung ist erst recht nicht in Sicht.

Die Personen des „Rädergersangs“, der mir wie ein Hörspiel vorkommt, erscheinen archetypisch für Situationen nach einer Katastrophe, der die nächste Katastrophe folgt: Liliane – eine alleinstehende Frau, die Mutter sein könnte, steht unter der Last einer schweren Vergangenheit, die sie nicht bewältigt. Sie hat einen Vater, der ein Kriegsheld war, der sie nie liebte und den sie nicht annehmen kann. Sie hat Sehnsucht nach Geborgenheit und der Liebe eines Mannes. Erst in der Begegnung mit dem kleinen Mädchen, in der sich irgendwie ihr Schicksal spiegelt, handelt sie.
Oskar – ein Mann, der offenbar seine Frau verlor, der den Mangel an Liebe und seine Einsamkeit fortwährend mit Essen kompensiert und sein Leben zunächst nicht formulieren kann, redet in sinnlos erscheinenden Monologen. Dieses Reden sucht immer deutlicher nach Befreiung von Einsamkeit.
Ein verlorenes Kind, namenlos, beziehungslos, taucht unter lauter möglichen Namen auf: Erst jüdische, dann türkische, schließlich deutsche und jüdische und türkische Vornamen... In einer weiteren Szene ist es unsichtbar, es ist immer da, auch wenn wir es nicht sehen. Es gehört nicht zur Gesellschaft im Zug, es ist eine potentielle Figur, die zum Schluss eine denkbare Hoffnung verkörpert.
Diese drei Personen könnten eine Familie bilden, aber sie bleiben allein.
Der Schaffner repräsentiert das mit gesellschaftlichen Regeln und Zwängen geschiente Leben. Die Abhängigkeit seiner eigenen Existenz vom sozialen Überbau kompensiert er mit Willkür und Bestechlichkeit im Amt.

Liliane entscheidet sich für ein anderes Leben, als sie sich entschließt, dem vom Schaffner bei einem Zwischenhalt abgeschobenen Kind zu bleiben – sie springt vom langsam anfahrenden Zug und ruft: „Das ist doch unser Kind...!“ Liliane steigt aus dem bisherigen Leben aus in der Erkenntnis, dass alle Menschen eine Familie bilden, egal welcher Nation oder Religion sie angehören. Oskar bleibt in dieser Situation noch handlungsunfähig.

Später steigt eine fremde Frau mit einem Mädchen in den Zug; es könnte Liliane sein, jetzt in einer anderen Wirklichkeit, die durchgespielt wird. Nun bekommt Oskar eine Chance für Mitmenschlichkeit – er gibt dem Mädchen von seinem Essen ab, ein erster Schritt zu seiner Selbstheilung oder gar Menschwerdung: In einem Monolog der Mitteilung redet er sich frei von seiner schweren Vergangenheit; seine Worte in einem für ihn bisher ungewohnt lyrischen Pathos, die Musik von Philip Glass („Different Trains, Part 2, During the war“) und die Erwähnung der Klarinette assoziieren die Rampensituation der KZ-Juden: „Und immer die Züge, die durch die Nacht fahren auf schimmernden Gleisen.“

Der Deus ex machina ist zum Schluss das kleine Mädchen mit den vielen Namen, das die Kinder aus aller Welt repräsentiert, das eigentlich namenlose, einsame und verlorene Kind einer utopischen Hoffnung. Es zieht die Notbremse und beendet unser eingleisiges Schicksal. Das Ende unseres Totenlebens wird in einem traumhaften Happy-End beschworen, das nicht ironisch gemeint ist – durch die uns innewohnende weibliche Kraft der Selbstgeburt: Denke um! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Verlasse die Gleise eines vorbestimmten Schicksals, dessen Todesstrecke mit allen Angststationen schon festgelegt ist. Verlassen wir diesen Zug, der nicht zu unseren Zielen führt, sondern in die Fremdbestimmtheit einer ungewissen Zukunft, sprengen wir die gesellschaftliche Enge, die Zwänge, die Einsamkeit und die monologische Kälte. Wage es, aus der Reihe zu tanzen!

Diese auf das Wesentliche konzentrierte Bühnen- oder Hör-Parabel zeigt in realer Alltagssprache eindringliche Bilder von der Absurdität unseres fremdbestimmten oder untätig hingenommenen Seins und die notwendige Verwandlung unseres Bewusstseins, um ein menschenwürdiges Leben zu erzeugen. Manches erinnert hier an die dichte Atmosphäre, die Günter Eich in seinen Hörspielen erzeugt. In unseren Wünschen, in Sehnsucht und angstvollen Erinnerungen gewinnt die Sprache der Opfer und sich Befreienden fast die Qualität eines lyrischen Heroismus. Ein subtil konstruiertes, starkes Stück!

Ulrich Bergmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

barbara-marie mundt (59)
(15.01.10)
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