KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Donnerstag, 11. September 2008, 18:07
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66 Thesen zur akuten Kunst

Ich fand die Thesen so interessant und voll Witz, dass ich sie hier vorstellen will. Vieles trifft auch auf die akute Lage auf KV zu und auf so manche Texte und so manchen Kunst(un)willen...

Autor: Kai Pohl k.pohl@pappelschnee.de
Herausgeber: Epidemie der Künste edk.pappelschnee.de
Ort/Datum: Berlin, Januar 2006

1. Lartyfartypourlartyfarty ist eine postreale Form des Surfens und Sampelns.
2. »Was gut, gut, gut ist, setzt sich durch.« Puhdys
3. »Gute Kunst setzt sich durch, weil man gut nennt, was sich durchsetzt.« Kapielski
4. »Wenn ich wüßte, was Kunst ist, würde ich es für mich behalten.« Picasso
5. »Alle Kunst ist nutzlos.« Oscar Wilde
6. Auf einer gigantischen Leinwand erscheint das Bild einer jungen Frau, ihr Haar ist in Strähnen aufgelöst, der Mund verzogen, als würde sie schreien. Die Kamera fährt an den Mund heran, bis er die Projektionsfläche ausfüllt. Kamerafahrt in den Mund hinein, das Bild wird schwarz.
7. Eine Orgie aus Lärm und Licht bricht los, begleitet von der Ankündigung: »Die Show beginnt!«
8. Die Kamera hat den Verdauungstrakt erreicht und löst sich zischend in der Magensäure auf.
9. Bildende.
10. Jedes Abbild von Wirklichkeit ist Wirklichkeit, sobald es einen Betrachter findet.
11. »Kunstwerke werden zu Sinnzusammenhängen, wofern sie Sinn negieren. Die Schwelle zwischen authentischer Kunst, welche die Krise des Sinns auf sich nimmt, und einer resignativen, aus Protokollsätzen im wörtlichen und übertragenen Verstande bestehenden ist, daß in bedeutenden Werken die Negation des Sinns als Negatives sich gestaltet, in den anderen stur, positiv sich abbildet. Alles hängt daran, ob der Negation des Sinns im Kunstwerk Sinn innewohnt oder ob sie der Gegebenheit sich anpaßt; ob die Krise des Sinns im Gebilde reflektiert ist, oder ob sie unmittelbar und darum subjektfremd bleibt.« Theodor Adorno
12. Jedes Kunstwerk ist eine Zumutung.
13. Kunst kommt von Künstlichkeit, nicht von Schönheit.
14. Kunst setzt Zeichen für das Bestehen einer Differenz zwischen menschlichen und außermenschlichen Gegenständen.
15. »Form ist auch nur Distanz.« Alexander Krohn
16. Affirmation des Bestehenden ist keine Kunst.
17. Kunst ist die einzig wirksame Antithese gegen alles und nichts.
18. Herrschaft ist die Selbstreferenz des gewaltig sich blähenden Nichts.
19. Im Vakuum ist es kalt.
20. Kunst ist radikale Antiherrschaft.
21. Kunst geht es nicht um das Ansehen.
22. Kunst macht Gewaltverhältnisse sichtbar.
23. Die Erhöhung der Reflexion bringt keinen Vorteil für das Leben.
24. Analyse tötet Spontanität.
25. Künstler sind Medien und keine Genies.
26. Jeder Künstler ist ein Mensch.
27. Erst kommt das Fressen, dann die Kunst.
28. Kunst kommt von Gunst, nicht von können.
29. Gewaltverhältnisse sind Beobachtungsverhältnisse.
30. Kunst als Wirklichkeit wäre Terror – Wirklichkeit als Kunst ist Befreiung vom Zwang der ästhetischen Verhältnisse.
31. Vernunft beruhigt, doch Wahnsinn ist interessanter.
32. Kunst bewirkt den Umsturz aller ästhetischen Verhältnisse, ohne ihn zu bezwecken.
33. Kunst, die sich unterwirft, erzeugt ästhetischen Terror.
34. Kunst kennt keine Kategorien oder Institutionen.
35. Kunst entzieht sich jeder Definition.
36. Es ist an der Zeit zu erwähnen, daß Kunst (gelinde gesagt) scheißegal ist.
37. Es geht heute nicht um Kunst, es geht um das Überleben.
38. Die Definition des Überlebens kennt jeder Idiot.
39. »Das Auge ist ein hungriger Mund, der sich von der Welt ernährt.« Jim Morrison
40. Einige Kamerateile durchwandern unbeschadet den Darm und werden mit den Verdauungsresten ausgeschieden.
41. Die Leinwand wird abgebaut, die Zuschauer bekommen ihr Eintrittsgeld zurück und gehen nach Hause.
42. Die Werke der postrealen Kunst sind abstrakt im Wortsinn – sie sind Realität als technischer Effekt.
43. »Hinschauen ist anstrengender als Anschauen, was erklärt, warum wir über alles Anschauungen und in beinahe nichts Einblicke haben.« Vilem Flusser
44. In niederen Speicherzellen formiert sich die Logistik der Wahrnehmung: nicht das Auge sucht den Eindruck – ein optischer Output fesselt den Blick.
45. Niemand mag die Werbeunterbrechungen, aber alle sammeln Bonusmeilen und Treuepunkte oder -herzen.
46. Entschuldigung, aber Werbung ist wirklich keine Kunst.
47. Zentralkategorie der Kunst ist die Installation (Gas Wasser Scheiße).
48. Installation ist das Beobachtbarmachen von Beobachtun-gen, von denen abhängt, was beobachtet werden kann (Licht).
49. Kunst ist nicht Ausdruck, sondern der Eindruck, den das Werkzeug im Material hinterläßt.
50. »Der kleinste gemeinsame Nenner von Kompetenz und Authentizität ist Substanz.« Bert Papenfuß
51. Ein Nanotechniker installiert aus den Resten der Kamera einen Roboter, der in Zukunft dafür sorgen wird, daß uns Hören und Sehen vergeht.
52. »Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt.« Walter Benjamin
53. Der Künstler wird zum Monteur/Installateur (Nahrungsbeschaffung Bekleidung Behausung Bewaffnung Gas Wasser Scheiße Licht Abfallbeseitigung).
54. Ein postrealer Beobachter kann sein eigenes Beobachten beobachten.
55. Das Kunstwerk entscheidet selbst über seinen Charakter, aber nicht über seine Bedeutung.
56. Der soziale Status des Betrachters hängt von der Bedeutung des Kunstwerks ab.
57. Verwurstung und Enteignung sind Formen einer entbehrlichen Kunst.
58. Entbehrliche Kunstthesen bestehen zu 99 % aus Marketing, zu 0,99 % aus Handwerk und zu 0,01 % aus Intuition.
59. Sponsoring und affirmative Kulturpolitik sind an die Stelle moderner Utopien getreten.
60. Die Postrealität ist an die Stelle postmoderner Utopien getreten.
61. Reale revolutionäre Utopien hat es nie gegeben.
62. Kunst vollbringt das Wunder, trotz bewußter Ablehnung aller akzeptierten Kunstformen neue Kunstformen hervorzubringen.
63. Das ready made ist der Höhepunkt und das Ende der Kunst.
64. In der Postrealität zerfällt die Konstruktion der Kultur, weil die Kunsterzeuger selbst das Publikum bilden (und umgekehrt).
65. An der Kunst sind nur Beteiligte beteiligt.
66. »Wie liest sich das mit Panik, Mädchen, statt Kunst?« frei nach Rolf Dieter Brinkmann


Quelle:
Replizierendes Sampling auf »99 Thesen zur aktuellen Kunst«
des Instituts für Soziale Gegenwartsfragen Freiburg und der Matthiessen-Wehmer-Gesellschaft, präsentiert im Rahmen der Veranstaltung »Art & Language & Luhmann III. What work does the artwork do?« des Zentrums für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, des Instituts für soziale Gegenwartsfragen Freiburg und der Jackson Pollock Bar (5.11.2005 – 8.1.2006).
http://on1.zkm.de/zkm/stories/storyReader$4609

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 IngeWrobel (26.09.08)
"Kunst ist immer ein Schrei: aus dem Untergrund der Gesellschaft - oder der Tiefe der Seele." (c) Inge Wrobel 2005
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