KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Samstag, 17. Oktober 2009, 10:31
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SPLITTERSTAUB

167. Kolumne

Dichten ist verbale Boulimie nach lexikalischem großem Fressen.

Und das Stärkste ist, dass wir alle so angefangen haben, und dass sogar davon etwas in uns bleibt: Dieses Überlebenwollen im Werk und in der Kommunikation mit anderen.

Der Lyriker ist der individualistische Versucher des kollektiven Bewusstseins.

Lyrik, die formalen Bindungen ausweicht, ist deswegen nicht wahrhaftiger. Wahrhaftigkeit kann sich auch in formaler Bindung behaupten und erzeugen lassen.

Es bleibt abzuwarten, ob eine Renaissance formal traditionell geprägter Lyrik wirklich präsent ist und Bestand haben kann. Vielleicht ja, weil fortgesetztes Jandln, Dadaisieren, Prosaisieren und Konkreteln längst in Sackgassen führte.
Es bleibt auch abzuwarten, ob Rückbesinnung auf Handwerkliches den Kunstbegriff und das Kunstgefühl erweitern hilft, oder ob es Haltsuche bedeutet in haltloser Zeit.

Das Sonett hat zerebrale Gefahren, öffnet narzisstische Fallen, ist also eine Art didaktisches Extremum.

Zeigen dass kann darf nicht sein, leicht muss das Sonett in seiner Schwere sein!

Das Richtige ist kein Maßstab, der genügt.

Der handwerkliche Akzent in der Literatur darf nicht zu scharf sein, so sehr heute Handwerkliches zu fehlen scheint. Handwerkliches Können wandelt sich außerdem. Heute sind es nicht Silben, Metrum, Reime. Die gegenteilige Wichserei im extrem langweiligen Experimentierexperiment ist auch nicht das rechte Maß der Kunst. Heutzutage ist im Grunde nur der Einzelfall beurteilbar.

Visuelle Poesie: Hier gelingt die schnelle Interpretation der Polyvalenz aus der Instant-Packung, da hat Pierre Garnier die Pop Art endlich in die Text-Sphäre reingezogen.

Die Syntax der Sprache wird weitgehend ersetzt durch eine Grammatik für Augen.

Konkrete Poesie: Da geht der Strich auf den Strich.

Wie sähe Poesie aus, in der alles sich verbindet: Eine Art visuelle Wortmusik?
(Die Idee des Gesamtkunstwerks auf minimalistischer Ebene.)

Was die Mixtur der Künste angeht, so ist jedes Gesamtkunstwerk-Streben und jedes Teilkunstwerk-Experiment in Ordnung. Aber ich befürchte, so mancher allzu platte Teil und die alles rettende und fliehende Ironie, dieser ganze nach innen umgestülpte
Hedonismus-Krampf, führen dazu, dass die Programme viel besser sind als ihre Inhalte, dass oft das Programm schon der ganze Inhalt ist, also kein Inhalt.

Nicht so leicht heute in der neuen Geniezeit aufzutauchen und nicht gleich wieder unterzugehen. Wer heute etwas sein will, muss schon als Legende anfangen, und die Legende muss sich bei näherer Betrachtung als rostfreier Stahl erweisen. Aber so war das schon immer, nur die Mittel (die Medien) ändern sich.

Manchmal denke ich, unser Denken hat doch recht viel zu tun mit der Quantenmechanik. Wir kombinieren alle Möglichkeiten der sprachlichen Elemente - in einem logischen Grob-rahmen, wo Freiheit Zufall ist oder Zufall Freiheit, und die Rückkoppelung (Reflexion) eine Ahnung vom Ganzen, eine Art Transzendenz by doing.

Wir sind gar nicht im Käfig, sondern umgekehrt!

Das Quantensystem reflektiert sich nun selbst, es würfelt sich selbst und wird umgekehrte Messapparatur, es existiert also durch sich selbst, es ist sich selbst transzendent, könnte man sagen, und solche Absurdität von Autopoiesis ironisiere ich.

An der physikalischen Weltanschauungskatze hänge ich, da die Quantenmechanik viel mit meiner Lebensanschauung zu tun hat, sowohl die Wahrscheinlichkeitsrechnung mit ihrer Mixtur aus Zufall und Notwendigkeit (Jacques Monod) als auch die Austauschbarkeit oder das gleichzeitige Vorhandensein von Materie und Idee (Schein und Sein, Form und Inhalt).

Social Beat ist zu 99% das, was man fühlt, wenn man um die 20 ist, und was man besser nicht zu Kunst formen soll, wenn man immer noch keine Ahnung von Kunst hat... alle diese Durchschnittsgedanken, dieses ausgekotzte Nichterwachsenwerdenwollen: Selbst-Punktieren der Hirnflüssigkeit und Verteilen der Gedanken und Gefühle mit breitem Pinsel auf viele Blätter. Trocknen lassen. Dann die Blätter zerschnipseln und nach Reizwörtern collagieren. Kleine gesuchte Witzigkeiten sind Trumpf. Small talk, Sozial-Getue, leeres Kulturgehabe diese Selbstumarmungen. - Auf nicht-intellektuelle und im Grunde schon anti-intellektuelle Art intellektuell sein wollen - nee!

Mir gefällt das Kommunikative, die Musik des Rap und der Fluss der metaphysisch hingerotzten Gedanken, jedenfalls dann, wenn sie nicht vollkommen verlogen sind.

Ich hätte von Straßenkindern mehr gelernt als in der Schule und im Elternhaus. Die Mängel des breiten Bildungsbürgertums haben einen größeren Schaden in der Geschichte nicht nur des deutschen Volkes angerichtet, als man annimmt. Zu positiv wird selbst der Schatten puren Bildungswissens bis auf den heutigen Tag gesehen.

Wolf Biermann sagt das Wahre immer so entsetzlich schief, dass es dadurch wieder falsch wird, Biermanns Dialektik ist schizophrene ungehobelte Scholastik.

Ein neuer Sozialismus, der das Grundgesetz ändern will, weil muss, ist andererseits erforderlich... Aber ich misstraue der Revolution, weil der Mensch so was nicht konsequent durchhält...Wir Deutschen sind für die Weltveränderung völlig ungeeignet. Ich will weder eine Bewegung à la Hitler noch diese langweilige, unsinnliche Stagnationsscheiße à la Ulbricht und Honecker. (Gysi hat ein charmantes Köpfchen, aber das genügt nicht.)

Also: Ein neuer Sozialismus muss her, ein ganz neuer, raffinierter, sinnlicher, und ich bin optimistisch, dass so etwas in ein oder zwei Jahrzehnten wenigstens elementar-ideologisch heranreift.

Meine Sorge ist nur, dass immer der Körper den Geist verrät, weil er stärker ist, es sei denn der Höchstkapitalismus ist Geist, aber das will ich nicht glauben. Oder alles Geistige ist nur eine andere Form des Körpers, das befürchte ich schon eher. In dieser schrecklichen Wahrheit richte ich mein Leben ein als Traum oder Lüge in meinem kleinen Glück. Lebenserträglichkeit. Glückliche Zufälle erlauben mir so eine Denkweise. Das historische Wissen und das tägliche Studium der Mitmenschen warnen mich vor systematischer Solidarität, die erst den einzelnen, dann immer mehr, bald alle in ihrer Umarmung erstickt. Aber relative Solidarität ist lebensnotwendig - hier fehlt ein pragmatischer politischer Weg.

Dichtung darf nicht zu direkt sein. Sie soll ein moralisches Fundament haben, aber auf diesem Fundament muss etwas stehen, das nicht die Verlängerung des Fundaments bis zum Dach ist.

Politik soll Dichtung sein. Dichtung teilt mit, schildert, beschreibt genau, klagt, klagt an, ist Werk, ist Kunst, ist Kosmos im Kleinen. Dichtung führt zur Imagination neuer Bilder, Gedanken, Denkweisen, insofern ist sie auch lehrhaft, sie schreit, singt, weint, sie schweigt sogar manchmal, in subtiler Weise erzeugt und verstärkt sie die Solidarität unter den Menschen, begleitet moralische Wandlungen im historischen Wandel und gibt, aber nicht als billiges Opium fürs Volk, Trost und Hoffnung, deutet Lebenssinn und gesellschaftliches Sein, ergreift Partei und setzt immer die Freiheit des Andersdenkenden voraus. Dichtung verändert indirekt, oft heimlich und unbewusst, getragen von einer (moralischen) Idee, aber in Bildern, die dem Leser Freiheit lassen.

Zeitmitte: Ich bin noch in der goldenen Aue zwischen zwei Gebirgen, die Aue kommt mir sehr breit vor, ich durchquere sie diagonal, einem zweiten Gipfelmeer entgegen.

[An HEL 1993-2000]


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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Theseusel (16.10.09)
"Konkrete Poesie: Da geht der Strich auf den Strich."

wow ... Du kannst ja richtig auf den Punkt kommen oder sogar auf dem? *ggg*

[ Zuhälter ] sind wichtig wie ich sehe ... gern gelesen!
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