KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Dienstag, 29. September 2009, 15:13
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ICH-ZUSTAND

168. Kolumne

Für mich ist das Schreiben lebenswichtig, wenn auch nicht von Anfang an in meinem Leben. Im Studium der Germanistik hatte ich keine Lust und keinerlei Drang zu schreiben, von einigen wenigen Texten („Selbstmitteilungen“) abgesehen. In den ersten zehn Berufsjahren fehlte die Zeit, ich war vollkommen abgelenkt, bis ich merkte, dass ich die neuere Literatur nicht mehr kannte. Ich erinnere mich noch immer an einen sehr theaterbegeisterten Schüler, der meine Unkenntnis bloßstellte. Ich ging damals fast gar nicht ins Theater. Und die allermeisten meiner Kollegen, auch oder gerade die Deutsch- und Geschichtslehrer (meine Fächer also) gehen bis heute nicht ins Theater, auch nicht mit Schülern.
So hat jeder seinen Lebenslauf mit ganz frag-würdigen Phasen. Ich muss noch anfügen, dass ich mit meinem Studium fast gescheitert wäre wie damals als Schüler: Kurz vor dem Abitur blieb ich sitzen, in der 12. Klasse, mein Vater nahm mich von der Schule, ich ging 2 Jahre zum Bund, danach ein Gammeljahr, in dem ich meine Bundeswehr-Abfindung und das Geld meiner zu gutmütigen Großmutter auf den Kopf haute. Dann Externen-Abitur 1969 mit 24 Jahren. Danach Studium. Mittendrin Heirat. Kind. Berufstätigkeit. Fast schleuderte ich aus der Bahn. Erst 1978 machte ich mit Müh und Not Examen. Ich war ganz nah dran an meiner ‘gescheiterten Existenz’. Ich war in der Schule meist faul, nach der Bundeswehrzeit lethargisch, dann kam eine kurze Fleißphase - anderthalb Jahre lang ging ich im Verteidigungsministerium arbeiten und lernte Abend für Abend fürs Abitur - dann im Studium wieder diese Lethargie, ich vergeudete die Studienzeit im Kino, im Schachclub und in Liebesverhältnissen... Als die Referendarzeit begann, wurde ich konstanter, ich tat sehr viel, auch in den ersten Lehrerjahren. Als ich ohne große Vorbereitung unterrichten konnte, begann erst mein Engagement: Das Schülertheater, das war 1983. Und mit dem Schreiben begann ich genau zu der Zeit, als mein Sohn alt genug war und mich nicht mehr so sehr brauchte, da ging ich plötzlich ganz oft ins Theater, in Konzerte, in die Oper, ich entdeckte die Kunst (1985) und dann das Schreiben (1988). Die Phasen der Lethargie und einer grundlosen Melancholie kamen zwar immer wieder, aber ich lernte sie weitgehend zu beherrschen, und so ist das bis heute, nur dass die Gründe meiner immer noch ziemlich süßen Melancholie wuchsen: Die größere Nähe des Todes.
Ich will damit sagen: Es herrscht in manchem Leben eine etwas rätselhafte Dialektik, so ein eigentümliches Hin und Her: Einerseits Steuerung, Willenskraft, Mut, Selbstbewusstsein, Klarheit, Kraft, Fleiß, Zielstrebigkeit - und andererseits ein Sich-treiben-Lassen, Phlegma, Faulheit, Hedonismus, Lethargie, Stumpfsinnigkeit, Verzettelung, Dunkelheit... und das alles oft sehenden Auges, mal steuere ich, mal nicht, und in der Spur bleibt später oft nur der, der sich in einer solchen Spur einrichten konnte. Da hatte ich Glück mit meiner Anstellung als Beamter auf Lebenszeit.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Elén (23.10.09)
Gern gelesen. - Allerdings wirft mir der Text einige Fragen auf und zieht mir eine kritische Augenbraue hoch ob einiger Begrifflichkeiten. -

Was ist ein Ich-Zustand? - Wo ist Ich? - Trägt der Mensch es statisch in Form eines figurativen Blumentopfes am Kopf durch die Welt, oder als Gürtel um den Brustkorb oder als genoppte Einlagen im Schuh? Ist Ich Frequenz oder ein Stecken. Was ist ein Ich-Moment und was ist das prozesshafte des menschlichen Wesens? Also:

-

Selbstbemitleidende Texte sind Texte wie alle anderen Texte. Der Autor bringt sich in einer Welt zum Ausdruck. Er stellt sich ihr gegenüber und erkennt sich: als leidend. Was ist daran zu werten? Ist ein Shakespear'sches Drama, das das Leiden in Protagonisten hinein projeziert ästhetischer? Wer alleine leidet und das der Welt mitteilt sucht doch auf diesem Weg nur ein paar zeitgenössische Füxe, die einen Augenblich verweilen umd empathisch mitzuleiden. Ist sohin nicht Goethe, Schiller, ist nicht Th. Bernhard, Bachmann, Sartre, Kafka, ist das nicht alles: das große einsame Leiden an der Welt, das große Selbstmitleid?

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Was ist denn eine "gescheiterte Existenz"?

"

lg
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