KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Freitag, 01. April 2011, 10:40
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eje winter

245. Kolumne

Die Bonner Dichterin eje winter arbeitet an einem literarischen Werk, das alle wesentlichen Gattungen umfasst: Lyrik – Prosa, darunter Erzählungen, Reflexionen, Miniaturen, poetische Briefe – Hörspiel/Drama – Roman (Arbeitstitel: „Kaspar“ ist im Entstehen).
Viele Texte publiziert sie in der Literaturzeitschrift DICHTUNGSRING und in anderen Literaturzeitschriften und Anthologien. In den letzten Jahren veröffentlichte sie im Ludwigsburger POP-Verlag ihre wesentlichen Arbeiten.

Nicht alle Texte sind einer einzigen Textgattung zuzuordnen – sie sind nicht etwa übermütig oder überheblich, sondern sie stehen, obwohl primär Prosa, über den Textgattungen. Das wird zum Beispiel in „beginn“ (HYBRIDE TEXTE) deutlich. Diese zwei Seiten lange Parabel wird formal in Versen erzählt. Es ist das kleine Epos einer Reise von unten nach oben, hinauf zum Gipfel des Berges, die Flucht eines Mannes vor den Pflichten und aus den Ebenen eines ehelichen Alltags, weg von der Frau, die er, um sich von ihr zu lösen, zu Fall brachte, die sich wehrte, der er schließlich unterlag. Vielleicht bestieg er sich selbst – aber die Selbstsuche endet im Abendschatten. Da oben in der Nähe des Gipfels, den er offenbar nicht erreichte, „wurde die nacht frisch /“, und im Bilde führt die traumhaft beschriebene Reise in eine (neue) Dunkelheit hinein. Es ist die Geschichte von Mann und Frau, deren Liebe nicht gelingt, und es ist die Geschichte des Mannes, der verzweifelt versucht mündig zu werden.

Hier werden die wesentlichen Themen eje winters deutlich: Vertiefung der Frage, in welchen Realitäten wir stehen, in denen wir leben und uns in der Tat und im Schreiben reflektieren.

Der Text „von der auflösung und der entfaltung des erzählaktes“ (in zwei Teilen: auflösung und entfaltung) – bezeichnet das Folgende als einen Essay, aber der Essay ist angewandtes Erzählen, das der Autor im Konjunktiv enden lässt, in der Vorstellung des Todes... Im zweiten Teil entfalten sich die Vorstellungen in den Wörtern, der Tod, der anscheinend unerzählbare, ist permanent präsent: Immer wieder erscheint der Vers: „einst wird er sterben“, der Ich-Erzähler sieht sich in der Distanz der dritten Person. In der entfalteten Erzählung lebt jede Perspektive – hier erzählt der Erzähler das Unmögliche, seinen eigenen Tod.
Überhaupt ist der Tod ein wichtiges Motiv in eje winters Texten, deren klare und genaue Bilder alle Sinne des Lesers beanspruchen. „farlo. farfallone. (gattungsumspannend)“ = Tu’s! Schmetterling, liebe! (begattungsumspannend) … erzeugt sich in Schachtelungen:

„dieser mann zeugt sich. diese frau gebiert sich. im text. ein doppelakt …“

Zeugungsakt dreifach: Der Autor erzeugt seinen Text, die Figuren entstehen darin, die Figuren lieben sich… Aber dieses Leben vergeht in einem Totentanz – und der Ich-Erzähler „…war nur kronzeuge.“ Leben und Schreibwelt werden ineinander gesteckt in solchen Texten – es ist, als entstehe Dichtung im Beischlaf des Dichters mit der Welt – homo scribens incubus… eje winters Lyrik und Prosa handelt vom Werden und Vergehen, vom ungefähren Begreifen des Lebens, von eros und thanatos als dem Hauptverhältnis des Dichters und aller Lebenden zur Welt – also endet „herzstreit“ so:

„ich bin der lust nachgekommen und habe euch die situation eines ehepaares dargestellt / es ist nun an euch den stoff wie es euch beliebt abzurunden / sagte die erzählerin und legte die hände in den schoß /“

– der Schoß ist eine feine Anspielung auf die zweifache Zeugung: In unseren Köpfen und Körpern. Wir sehen auch: Die Ich-Perspektive verwandelt sich in die dritte Person, vom Subjektiven ins Omnipotente. Der allwissende Erzähler ist am Ende der Leser – er erzählt sich im Lesen das Erzählte neu und er erzählt es sich weiter, so wie er lebt und sich selbst leben muss in seinen Wirklichkeiten.

Der Tod ist anwesend auch in den Geschichten „mariechen warum weinest du“, wo der Priester in allerkonsequentester Nächstenliebe mit einer Sterbenden schläft, oder in dem Text „ach mutter erzähl“ – darin fordert das Kind die Mutter auf zu erzählen von seiner Geburt und von ihrem Tod:

„ach mutter / erzähl wie’s dir ging als du starbst / und die mutter sprach / … mit der zeit holte der tod mich ein / als er mich lächelnd berührte sah ich wem er glich / er glich dir und mir / mein kind /“

Nicht immer dominiert das Todesmotiv: Die „experimentelle romanze in achtzehn botschaften oder immerhin zärtliche beweisführung über die unmöglichkeit des möglichen“ – eine Art balladeskes Stationen-Gedicht – ist ein ‚heller’ Text, in dem ein wirklich mögliches und zugleich unmögliches Leben voller Liebe und Erleben, Gefühle und Reflexionen mit einigen humoresken Spitzen erzählt wird, bis zum Schluss dann wieder, aber ganz leise, kaum übersetzbar, die Botschaft vom Ende steht:

„denkopfnachtwach / überschrifttagkalt / die kniehauttaub / bleichichohngefühl /“

eje winters Gedichte und Texte sind in einer subtilen Weise über-mütig: Sie versuchen mit dem Tod fertig zu werden. Am klarsten zeigt das der letzte Text des Bandes, „der ort der verwandlung“. Er beginnt so:

„ich möchte dir einen ort zeigen, der in dieser welt liegt. … der ort befindet sich fernab jeder straße. drei arten, ihn zu erreichen, sind mir bekannt.“

Die Lebensreise führt hinauf zum Gipfel, zur Selbsterkenntnis. Oder über den Berg – hinab ins Vergessen. Oder, die leichteste: Zu zweit mit einer Seilbahn hinauf, ins Leben hinein, ins Jetzt, in die Buchstabenwelt, in den Konjunktiv, der Leben und Tod umfasst. Und erst im Tod werden die Liebenden sich so nah, wie sie es im Leben nicht durften und nicht konnten. In der Erde,

„nun, im april, traten uns die ameisen aus den augen, zart und lebhaft, tränen gleich, daß wir geburtstag feiern konnten wie tote.“

Sehr deutlich wird an der zitierten Sprache und den beschriebenen Textstrukturen und Schreibmodi, wie artifiziell und zugleich einfach und prägnant Sprache und Inhalt den Leser erreichen. Es ist im übrigen eine Sprache, die sich besonders in den Gedichten oft auch neuartig formiert, in Neologismen und unerhörten Bildern (LIEBESLAND).

In den „lettres poétiques“ (BLATTGOLD EIN ÜBERN ANDERN TAG) wird deutlich, dass die lyrische Schreibart auch in den wirklichen Briefen an ausgewählte Freunde sich wie von selbst konstituiert, obwohl kein Brief im Hinblick auf Veröffentlichung geschrieben wurde. In den Briefen ist die Sprache besonders einfach - und sie wirkt dort im knappen Zitieren von Weltstücken besonders berührend. Das liegt zum Teil an der Form, der Dreiteilung Motto und Anrede, Mitteilung, Schlussformel. Die behutsame Redaktion lässt den Brief-Dokumenten ihre Authentizität. Die Auswahl der Briefe und ihre Themen (mit der Literatur und dem Tod im Mittelpunkt), der Verzicht auf den Brief-Dialog leuchtet sofort ein. Die Anonymisierung der Namen und Orte wurde vollkommen konsequent durchgeführt, um nicht abzulenken vom Wesentlichen des Ichs, seinen Gedanken und Gefühlen.

lieber p.

hab ganz vielen dank für deinmein gedicht
die renovierungsarbeiten sind so umfangreich
daß die wohnung frühestens nach weihnachten wieder
gesäubert werden und vielleicht an umzug gedacht
werden kann
m. und ich schreinern zwar nicht
versorgen aber rund um die uhr ein zuweilen drei bis
vierköpfiges arbeitsteam mit essen und trinken
also mutter einer garküche zu sein ist auch nicht ganz
einfach wie ich nun erfahren darf
du wirst zum schriftsteller und ich kann den prozeß
mitverfolgen
so lange kennen wir uns jetzt schon
das finde ich sehr schön
ob ein schriftsteller wie ein fallensteller ist die wörter
jagend und fangend und ausstellend in der kleinen
arena des dorfzirkus
die sonne soll dir helfen ab sofort die dunklen stunden
aufzuhellen
bis bald
mit ganz vielen herzlichen wünschen
dich verschüttend

deine e.

„das versenden des ich“, schreibt eje winter, „... kein geringerer als novalis sprach davon, dass ‚der wahre brief’, also der nicht nur der reinen kommunikation dienende, ‚seiner natur nach poetisch’ sei. der wahre brief soll das gemüt des adressaten erregen und hat natürlich beim verfassen auch das gemüt des briefschreibers erregt, denn ‚poesie ist’ nach novalis ‚gemüthserregungskunst’...“

In geheimer Weise korrespondieren die Bücher eje winters miteinander: LIESBESLAND, KUNSTWÖRTER und HYBRIDE TEXTE antworten dialektisch auf das Briefbuch.

Ich sehe in der erregenden Schönheit des Worts immer auch die Wahrheit und den zu Erkenntnis treibenden Anstoß. Schmerzliche Lebensumstände sind nicht ausgeklammert und stehen in einem Spannungsverhältnis zur metaphorisch beschriebenen Natur von Welt und Umwelt, das immer wieder reflektiert wird.

Oft sind die Bildgedanken wie Perlen aneinandergereiht. Motive kehren in anderen Briefen wieder, manches wiederholt sich absichtlich – wie der Himmel, der sich von uns Menschen entfernt, wenn wir ihn plündern.

Das ist in den Gedichten nicht anders als in den poetischen Briefen. Wenn das lyrische Ich den Himmel mit Händen fassen will, schwebt das Gedicht und wird leicht, dann gelingt es und pflügt wie ein Segelschiff mit tiefem Kiel die Wolken, was der Segelnde nicht spürt. Am Ende stürzt der Fliegende ab, kaum hat er sich in den Himmel verliebt, als wäre er die Erde. Das ist wahr, weil es zeigt, dass das lyrische Ich genauso gut sterben kann, wie es lebt.

Immer lassen sich die Gedichte – mal mehr, mal weniger explizit – auch wie poetologische Abhandlungen lesen, es sind kleine, sehr feine Vorlesungen, die sich der Leser selbst geben kann.

eje winter legt schon jetzt ein bedeutendes dichterisches Lebenswerk vor. Dabei hat die 69-Jährige ihren Roman, „Kaspar“, noch gar nicht vollendet. Vielleicht wird dieser ihr opus magnum. In dem Roman geht es um Erzeugung und Selbsterzeugung von Figuren und Wirklichkeiten, um Erzeugung und Selbsterzeugung von Dichtung, da schreibt ein episches Ich um sein Leben, und der Leser wird hineingezogen in diesen Malstrom von autopoesis und dunklen und hellen Erkenntnissen.
Es ist liegt im Werk der Dichterin eine erstaunlich einfache und zugleich komplexe Sprache vor, die das Lyrische und Epische miteinander verflochten erscheinen lässt, das Dramatische oder Dialogische schwingt immanent mit, das betrifft auch die metaphorischen Inventionen und die Welthaltigkeit des Geschriebenen, Themen und Realitätsebenen.

Ulrich Bergmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

Werner Blanke (62)
(05.04.14)
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9lYRQf arqwumaleepu, [url=http://citvbpkdpphk.com (9)
(23.06.14)
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