KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Freitag, 01. Januar 2016, 23:36
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Tresenkraft und Kiezkauz - ein Nekrolog? - Florian Günther (Lyrik 45)

491. Kolumne


Florian Günther, GENUG ZEIT ZU VERLIEREN. Neue Fotos, gebrauchte Gedichte. Mit Textbeiträgen von: Miriam Spies, Heyne Winterfeld und Peter Wawerzinek. gONZo / Edition Lükk Nösens, Berlin 2015.
256 Seiten, Klappenbroschur, Fadenheftung, 23 x 17 cm, ca. 150 Abbildungen.
Preis 24,80 €

Dieser Bildband ist ein Gedeck mit Wortschnaps, ich habe die Fotos und Texte weggesoffen in einem Zuge! Und oft gelacht. Tresenkraft – was für ein Wort! Auf den meisten Bildern ist die Schattenseite mitgezeichnet, du siehst auch Kneipen-Könige von der traurigen Gestalt, nicht jeder ein Don Quixote. Sozialpsychologische Röntgenbilder sind das, die Armut, Frustration, Enttäuschungen, Lebensirrtümern und diesen erahnbaren Lebensgeschichten einen sonderbaren Charme mitfühlender Erkenntnis verleihen. Solche Bilder stehen nicht nur in der besten Tradition zu den Schwarzweiß-Fotografien, die Helga Paris von den DDR-Menschen in Halle veröffentlichte (Häuser und Gesichter. Halle 1983-85) – Günther wagt es in Farbe, neben Schwarzweiß-Aufnahmen, zu seinen Porträts szenische Bilder zu stellen, manche wirken wie Gemälde, etwa „Bert, Spelunkier“ (Bert Papenfuß) mit Tresen-Kulisse oder „HEL, Dichter“ (Herbert Laschet) in einer Tischecke der Höhlenwelt, die zum unterirdischen Palast wird.
Manche freilich wirken tatsächlich wie Tresen-Könige, gefasst und kraftvoll, etwa Jacky, Tresenkraft, oder lebensvoll-verführerisch lächelnd wie André, Tänzer und „Lebenskünstler“, – und immer schwingt ein Aber mit, nicht nur in Gänsefüßchen. Daneben Gesichter voller Zweifel, Unsicherheit, Misstrauen, Hilflosigkeit ... Manchmal bleibt es in der Schwebe wie bei der Fernfahrerin Vera oder bei Joe, „das Brandenburger Tor“ – so heißt er wegen seiner Zahnlücken im Oberkiefer. Kommt vom Rauchen, denkt jeder Betrachter. Aber was ist eine Kneipe ohne Raucher? Eine Plastikwüste à la Starbuck! In der Verschworenheit, in der freiberufliche Träumer einander begegnen, wird die Kneipenhöhle zum Schloss, vor allem in der Dunkelheit der Nacht und beim Glitzern der Gläser und beim Blinken der Metalle am Tresen. Aus dem goldenen Zapfhahn – der wie ein Bohrturm überm Bierfass in den Bier- und Schnapshimmel ragt – fließt das helle, bernsteinfarbene Quellwasser, das Abendvitamin, das die Seele weichspült und den Geist gefügiger macht – zum Aussprechen dessen, was wirklich bewegt, was nicht so ist, wie es sein sollte, und nun für Momente in einer manchmal wunderbaren Gemeinschaft fremder und naher Menschen ausruhen darf, während sich Gedanken entwickeln, die eine andere Welt entwerfen. Auch der Schein ist etwas Reales – und kann Trost geben. Das gilt für die Kneipe wie für Literatur und Kunst, jedenfalls ist das auch ein wichtiger Aspekt.

Heyne Winterfeldt schreibt in der Mitte des Buchs ein Plädoyer für die Kneipe als Ort, in dem die Entfremdung der Seelen wenigstens temporär aufgehoben wird – ein grandioser, geistvoller Essay. Er zitiert Sigmund Freuds Wort: „Die Absicht, dass der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten.“ Und: „Der kürzeste Weg zum Glück ist die Droge.“ Der Weg zur Literatur ist etwas beschwerlicher, er verlangt miterlebendes Beobachten. Das gilt insbesondere für den Schreiber der Verse in diesem Band.

FRIEDRICHSHAINER KONKURRENZ Eines Mittags, / als ich mit / einem schweren Kater / zu mir kam, war / das Erste, was / ich durch das offene / Fenster / hörte, dieser Mann: // Franziska! Ich / hab dich / gesagt, du sollst / oben kommen, wir müssen / noch bei ALDI! // Der Mann hat / Stil, dachte ich. / Wenn / der Gedichte / schriebe, könnten / eine Menge / Leute packen.

Florian Günther besitzt „diese elegante Art, Alltägliches auszuschneiden ...“, schrieb ich vor elf Jahren nach dem Lesen seiner Gedichtbände Nuttenfrühstück und Dicker Max & Co. Diese lyrische Prosa in Versen formuliert sehr genau die Tatsachen am Tresen und außerhalb der Kneipe. Die Pointen kommen leicht daher und treffen mit ihrem Witz ins Herz des Lesers. Ihre Leichtigkeit ist teils hart erlebt oder beobachtet. Sie kommt aus der Erkenntnis der sozialen Wunden, die Voraussetzung ihrer Heilung ist. Ob die Heilung gelingt, steht auf einem anderen Blatt. Allein am Tresen wird die Seele nicht genesen.

SCHEIN UND SEIN Heute las / ich in einem Gedicht / von einem Punk /aus Darmstadt, mir / würden die / guten Sachen nur / so rauspurzeln. // Daß ich nicht lache. // Jedes Komma / ist ein verlorenes / Jahr. // Jeder Punkt / eine Frau, die mir / davongelaufen / ist. // Jeder Bindestrich / ein Bulle, / Boss, Kellner, / Ladenschwengel, / der mir auf / der Seele rumgetrampelt / ist. // Jedes Wort eine / Handvoll / Tabletten vor dem / Einschlafen. // Jeder Satz / ein Schrei aus den / kalten / Hinterzimmern / meiner Angst.

Das ist vielleicht das stärkste Gedicht. Davor und dahinter Gedichte wie kleine moderne Alltags-Anekdoten mit Schwungkippe an der Reckstange der Subtilität, die sich unmerklich verwandeln zu Fabeln oder gar Parabeln.

KEIN PROBLEM Er war pleite, / und in der Jobvermittlungsfirma / sagten sie ihm, du kannst / bei Bahlsen anfangen; / drei Schichten, 5,60 Euro / die Stunde. / Netto? fragte er. / Brutto. Aber daß du mir / ja pünktlich bist! // Er nickte und / bekam den Job. // Na? fragte / ihn seine Alte. Hast / du was gefunden? // Klar, erwiderte / er ihr. Ich hab dir doch / gesagt: Einen / wie mich suchen / sie immer.

Im Ganzen ist da viel Trauer – ich frage mich, ob das Buch letztlich schon der Beginn eines Nekrologs ist, den die Wirtschaft (genauer: unser Kapitalismus) schon längst vorbereitet hat. Oder sterben nur die Typen aus, die eine Kneipe brauchen? Geht die Nachfrage ein? Erleben wir wirklich schon den allmählichen Untergang des Tresenlandes oder nur einen zweifelhaften Zwischensieg der „Bionade-Bourgeoisie“ (Winterfeldt)? Florian Günther im Gespräch mit Peter Wawerzinek am Schluss des Buchs: „Ich wäre ärmer ohne die Menschen dort.“ Etwas später sagt Wawerzinek: „Die Stadt wirkt auf den Bildern oft abwesend. Man hat ... das beklemmende Gefühl, alle anderen Bewohner wären längst weggezogen und nur du und die Menschen, die du fotografierst, harren hier noch aus.“ – Günther: „Tatsächlich? Das würde mich freuen.“ – Wawerzinek: „Warum?“ – Günther: „Weil es so ist!“ – Ich klammere mich an den Gedanken, dass ein solcher Band wie der vorliegende nur möglich ist, wenn noch genug Leben da ist, um GENUG ZEIT ZU VERLIEREN – ein Luxus, den sich die Raucher und Nichtraucher leisten können, die frei sein wollen.

Ulrich Bergmann

https://gonzoverlag.wordpress.com/2015/10/07/florian-guenther-genug-zeit-zu-verlieren/

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