KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Mittwoch, 23. März 2016, 13:35
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Tod in Venedig. Ein Beitrag zur Kunsttheorie

504. Kolumne


Ein Maler aus der Max-Ernst-Stadt Brühl, den seine Frau verließ, kurz vor der Goldenen Hochzeit, fiel im kalten März beim Fotografieren am Ende einer Bootsanlegestelle in den Canal Grande, samt Kamera und schwerem Mantel. Zwei Gondoliere versuchten ihn aus dem Wasser zu ziehen, doch der große schwere Mann ging unter. Als man ihn später barg, stellte der Leichenarzt fest, dass der Maler nicht ertrunken war, sondern unmittelbar vor oder vielleicht sogar beim Sturz starb. Gehirnschlag. In den Lungen war kein Wasser.

Es gibt kaum eine schönere Stelle am Canal Grande als die bei der Kirche Santa Maria del Giglio – mit Blick auf die beiden bedeutenden Kunsttempel gegenüber: die Accademia und das Peggy-Guggenheim-Museum. Der Maler, hart angeschlagen in der Tiefe seiner verlassenen Seele, schaute zuletzt noch in die Augen des Models, das er fotografierte – die Kamera fiel auf den Landesteg und blieb unbeschädigt. Das Bild zeigt das Gesicht einer Frau, deren Augen sich sacht zu weiten beginnen – in diesem einen Moment entfaltet sich unübertreffliche Schönheit –, sie bergen eine Ahnung oder ein Geheimnis, das wir nicht lesen könnten, wüssten wir nichts von der Entstehung des Bildes.

Viel schwerer zu beantworten ist die Frage: Spielt es eine Rolle, ob der Maler ertrank oder am Hirnschlag starb? Für ihn selbst wohl kaum, denn er ist tot. Für wen dann? Vielleicht für uns, die wir von der Geschichte hören und den morbiden Zauber der Lagunenstadt im Sinn haben und uns vorstellen, wie der Maler so unbewusst inmitten eines wirklichen Bildes die Bitternis seiner hässlichen Vorgeschichte überwand? Nur schmerzt der Gedanke, dass der Gestorbene nichts davon mitbekam ... Wir aber retten uns in den Reiz dialektischer Spannung, die zwischen Komik und Tragik liegt, und lachen oder weinen. Und atmen auf.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 loslosch (08.04.16)
erinnert mich an plinius den älteren, der vom schiff aus im golf von neapel den speienden vesuv beobachte und (nach der überlieferung) urplötzlich verstarb.
Graeculus (69)
(08.04.16)
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 Lala (08.04.16)
Ach Bergi,

du verstößt immer wieder gegen das ehernste, eisernste und ernsteste Gesetz der Kunst. Es ist eine Schau in welchem Maße Du es missachtest. Oder sollte ich Dich jetzt siezen, weil ich gar keinen Kompromiss finden will? Ich meine wir kennen uns ja nicht. Aber doch. Schon. Wer ist schon ich und wer bist Du? Wer uns hier gelesen hat, der kennt uns und daher kennen wir uns in dieser Box auf jeden Fall. Ewiglich. Erst recht wenn keiner uns zuguckt. Wir wären ja trotzdem da. immerwährend solange diese Box hier online ist oder wir irgendwie in einem Kontext - oder Narrativ wie es heute heißt aber hier bessser thread heißen sollte - magnetisch zusammenge(k)lebt bleiben. Wie auch immer. Tod in venedig. Nein nicht Tod in venedig, Tod vor dem Bildschirm durch Leseinfarkt. Der Maler, der im Augenblick seines Todes ein Foto seiner Muse macht und dabei in Venedig in den Kanal fällt. Puh. Und die Gondoliere haben gesungen? Mozart? Ach Bergi, das sterben und der Tod sind kein großes Ding, wenn man schon Jahrzehnte auf der Erde verschnarcht und/oder verlebt hat. Als ob wir täglich unser Leben wagten und lebten? Nein, tun wir nicht. Obwohl wir morgen nicht nur beim Fotografieren in venedig sondern auch beim onanieren in Kleinkunstforen tot vom Stuhl fallen könnten. Ohne Foto. Ohne aufatmen. Einfach so. Nur ungewagt tot. Wobei: meistens dauert das Hineinfallen in den Tod ja doch deutlich länger.Da gibt es Vorboten. Unpässlichkeiten, Beschwerden, Diagnosen, Unausweislichkeiten. Zäh halt. Wie Zeitlupe. Das Hinwegraffen von einem Klick auf den anderen Klick ist eher gnädig. Da bin ich neidisch. Einfach so ausgeschnippst zu werden und dazu noch in Venedig während man eine göttergleiche Fee vor der Linse gehabt hat? Großartiger Tod. Wer da erleichtert aufatmet, weil er nicht nolens volens tot umgefallen ist und sich dennoch spießig an sein eigen Ticken klammert, der ist ja schon tot gewesen bevor er aufatmen konnte. Der hat ja vergessen, dass er, als er aus seiner Mutters Möse herauspresst worden ist, den Schmerz seines Lebens erlebt hat, der hat vergessen, dass er in der Hebamme Arme geschiren hat, weil sich sein Herz gerade erst zusammengepappt und sich seine Lunge auf einen Schlag, wie ein Airbag, voll entfaltet hat. Das nenne ich einen Grund aufzuatmen.

 loslosch (10.04.16)
in der kürze liegt die würze.

das vergessen einige kommentatoren und versalzen die (eigene) suppe.
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