KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Donnerstag, 14. Juli 2016, 23:15
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wortmaler

520. Kolumne

Holger Benkel

wortmaler

zu ulrich bergmann / doris distelmaier-haas, Meine Hand malt Worte / Gedichte aus China / deutsch-chinesisch. Bacopa Verlag, schiedlberg/österreich 2015.
[152 seiten, 14,80€]

dachte ich bisher an china, sah ich zunächst die ferne der dortigen kultur zu unserer. man betrachtet andere kulturen anfangs wohl zwangsläufig als fremder und von außen. menschen sind halt, leider, zuallererst das produkt ihrer verhältnisse. bei nietzsche heißt es: „Unter den Reisenden unterscheide man nach fünf Graden: die des ersten niedrigsten Grades sind solche, welche reisen und dabei gesehen werden – sie werden eigentlich gereist und sind gleichsam blind; die nächsten sehen wirklich selber in die Welt; die dritten erleben etwas infolge ihres Sehens; die vierten leben das Erlebte in sich hinein und tragen es mit sich fort; endlich gibt es einige Menschen der höchsten Kraft, welche alles Gesehene, nachdem es gelebt und eingelebt worden ist, endlich auch wirklich aus sich herausleben müssen, in Handlungen und Werken, sobald sie nach Hause zurückgekehrt sind.“

2014 hielt ulrich bergmann – chinesisch 包悟礼, d. i. herr bao wuli, das heißt „der durch die Riten Erleuchtete“ –, angeregt und beraten vom sinologen, schriftsteller und übersetzer wolfgang kubin, etwa durch dessen „Geschichte der chinesischen Literatur“, einen sommerkurs unter dem titel „Kafka und die Moderne“ vor germanistikstudenten der „Ocean University of China Qingdao“ an der ostküste chinas, wo er unter anderem deutschsprachige autoren wie goethe, büchner, rilke, kafka, benn, brecht, ernst jandl oder heiner müller vorstellte und besprach. kafkas texte bewegten die studenten besonders.

schon der titel der buchausgabe – „Übersetzt von Ulrich Bergmann / Gemalt von Doris Distelmaier-Haas / Übersetzungen aus dem Deutschen von Dehui Braun / Mit einem Geleitwort von Wolfgang Kubin“, „Meine Hand malt Worte“, man beachte: worte, nicht wörter – verbindet das bildnerische mit dem literarischen. die malerischen arbeiten der künstlerin, lyrikerin, erzählerin und übersetzerin doris distelmaier-haas transformieren die chinesische schrift ins phantastisch bildhafte, wobei die bilder, die teils auch in musiknoten übergehn, oft etwas schwebendes bekommen. „Übersetzen ist ein schwieriges Geschäft. Jeder meint, darüber urteilen zu können, wenige lassen sich darauf in der Praxis ein. Übersetzen ist Deuten. In diesem Sinn ist Malen ebenfalls Übertragung und Deutung. Wir begegnen also in diesem Buch zwei Übersetzern, der eine bemüht das Wort, die andere den Pinsel.“, vermerkte wolfgang kubin in seinem geleitwort „Furor Sinensis“.

die meisten der gedichte stammen aus der zeit der tang-dynastie, unter anderem von li bai (701 bis 762), der zur legendenhaften figur wurde, meng hàorán (689 oder 691 bis 740) sowie du fu (712 bis 770), die gemeinsam mit li bai durch china wanderten. während der tang-dynastie (618 bis 907) gab es zunächst positive entwicklungen von landwirtschaft, handwerk, handel und künsten, zudem breitete sich der buddhismus in china aus, ehe das chinesische reich zeitweilig zerbrach, unter anderem wohl aufgrund ungelöster konflikte zwischen feudalmacht und bauern. li bai, du fu und andere dichter der tang-dynastie kritisierten früh gesellschaftliche mißstände. aus dem 20. jahrhundert kommen gedichte von lu xun (1881 bis 1936), mao zedong (1893 bis 1976) und dem 1955 geborenen dichter yáng liàn hinzu, der seit längerem in europa lebt. bei wolfgang kubin heißts: „China ist das Reich der Poesie. Bereits um 1000 v. Chr. wartet es mit gereimten Gedichten auf! Wohlgemerkt, der (End)Reim kommt im Abendland erst mit dem späten Mittelalter auf. Als klassische Periode für die Dichtkunst gilt heute die Tang-Zeit [...].“

die klassische chinesische poesie betont das universelle und ganzheitliche. der mensch ist hier noch ganz teil der natur und findet sein gleichgewicht darin.
das gedicht „Besteigung des Storchenturms“ von wang zhihuan (688 bis 742) geht so:

Die Sonne sinkt und rollt zum Fuß des Berges,
so mündet auch der Gelbe Fluss ins Meer.
Wer tausend Meilen weiter sehen will,
der steige noch ein Stockwerk höher.

das strömen des flusses, das dem werden und vergehen entspricht, wird dem tagundnachtzyklus gleichgesetzt. vielleicht ist das stockwerk höher auch eines der erkenntnis.

ulrich bergmann konstatierte im „Nachwort“ eine „erstaunliche Nähe zur europäischen Literatur des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit – Themen, Metaphorik und gedankliche Pointierung zum Schluss der Gedichte. Der Schwerpunkt liegt bei den frühen Gedichten auf der subjektiv erfahrenen Welt (Li Bai), bei den Gedichten der Moderne wird stärker der unaufhebbare existentialistische Konflikt des Einzelnen in einer gebrochenen Welt gesehen (Yang Lian) oder die Rettung ins Kollektive (Mao Zedong). Die Dichter der Moderne träumen wie die alten Meister in Bildern der Sorge und Angst und der Hoffnung. Weiterhin bleiben Naturmetaphern wichtig. Melancholie und Resignation der Tang-Zeit reicht bis in unsere Gegenwart (Yang Lian), nur bewusster. [...] Es ist der romantische Ton der Sehnsucht, der uns heute noch aus manchen der alten Gedichte anweht, teils sanft-ironisch gebrochen.“

der klassischen chinesischen lyrik folgen in „Meine Hand malt Worte“ einige gedichte von mao, der ebenfalls in dieser tradition stand, etwa „Changsha – 1925“. erstaunlich ist darin das schlußbild, das eher transformatorische veränderungen der gesellschaft nahelegt.

Wisst ihr noch:
Wir schlugen mitten in der Strömung auf das Wasser,
und die Wellen bremsten den Flug unsres Boots.

und tatsächlich kann die entwicklung eines riesenreiches wie china sinnvollerweise nur evolutionär vernünftig gelingen. was der konfuzianismus anbietet und fordert, die kunst der verwandlung und der transformation sowie den vermittelnden ausgleich zwischen antipoden, könnte auch dem künftigen china gut tun. vorm zerbrechen hat das chinesische bewußtsein wohl besondere angst.

im gedicht „Die Höhe des Traums“ von yáng liàn, dem ulrich bergmann in bonn persönlich begegnete, heißt es:

... der Mensch in deinem Traum,
von einer Rippe in den Himmel hochgeschleudert,
ist noch da und schweift und schwirrt herum wie eine Melodie.
Ein Traum wirkt hin und wieder länger als ein Leben.
Manchmal trotzt ein Felsen dir, der macht in einer andren Zeit dich alt
und schwach ... Das dunkle Ende deines Lebens -------
wenn Finsternis unweigerlich dich aufnimmt.

hier klingen wiedergeburtsmotve an. aus adams rippe soll gott eva erschaffen haben. viele mythen, etwa altindische und griechische, erzählen von geburten aus felsen. christus wurde „Eckstein der Kirche“ genannt. es ist anzunehmen, daß ein gleichermaßen chinesisch und europäisch gebildeter dichter wie yáng liàn solche zusammenhänge kennt.

in seinem text „China auf der Suche nach der optima res publica?“ (MATRIX – Zeitschrift für Literatur und Kunst, Nr. 39,2015, S. 109-116), der zunächst von europäischen sichtweisen ausgeht, fragt ulrich bergmann: „Könnte es sein, dass andere Länder und Kulturen andere Gesellschaftssysteme entwickeln als wir? Ist die westliche Demokratie wirklich der geeignete Maßstab für die ganze Welt? ... Man kann dem europäischen Moralismus, der Menschenrechte in aller Welt einklagt, nur skeptisch gegenüberstehen. Wer den Gedanken der Selbstbestimmung eines Landes ernst meint, der muss hinnehmen, dass andere Länder und Kulturen andere Gesellschaftssysteme entwickeln.“
an anderer stelle (MATRIX 37,2014, S. 127-147) schrieb er: „Ich vermute, China wird auch wegen seiner vorherrschenden Mentalität wieder ein Riese. Lebensfröhlichkeit, Geduld, Gelassenheit, Flexibilität, Spontaeität, synthetischer Sinn sind Stärken der Menschen dort.“ gegen demokratie und menschenrechte läßt sich wenig sagen, wenn sie erfüllt werden. sofern demokratie, freiheit und menschenrechte jedoch zur rechtfertigung von kriegen herhalten müssen, ersetzen sie bloß frühere legitimationsphrasen wie gott, vaterland und kaiser.

ulrich bergmanns übersetzungen, die, respektvoll behutsam übertragen, sprachlich elegant und leicht wirken, zeigen viel hineindenken und einfühlung ins chinesische wahrnehmen. er selbst schrieb: „Dass Übersetzen immer zugleich Übertragen, also neuschaffendes Nachschaffen ist, wird jedem evident beim Übersetzen. [...] Übersetzen ist ein Grattanz, den man ins dialektische Gleichgewicht bringen muss, um nicht abzustürzen in die Wüste der Akribie oder in die Schlucht blühender Phantasie. [...] Jeder Übersetzer will seinem Gedicht auch wiederbegegnen in der Ewigkeit. Seine Übersetzung soll die Moden seiner Zeit überdauern, das ist sein inniger Wunsch.“ genau genommen gleicht jeder lyriker einem übersetzer, der sich bild für bild und schicht um schicht dem original nähert, das beim dichter das eigene ist. übersetzen bedeutet ja eigentlich, an ein gegenüber liegendes oder jenseitiges ufer zu gelangen. auf der schwelle und im abgrund jener zwischenreiche, die entrücken und entgrenzen, entsteht poesie, eben weil sie unentstehbar scheint. das ist dem übersetzer mit „Meine Hand mal Worte“ geglückt.


[März 2016]


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