KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Dienstag, 16. Oktober 2018, 14:20
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Erinnernde Verse - Marlies Schmidl. Lyrik (51)

528. Kolumne


Erste Gedanken zu Marlies Schmidls Gedichten
[Es ist nie ein anderer Ort, Rhombos-Verlag 2012]

Einen wirklich feinen Brief hat sie mir geschrieben, und ihre Lyrik ist so überzeugend einfach, genau und sprachlich gekonnt, dass ich immer noch begeistert bin! Die Verse hallen nach, nicht wirklich, aber geistig: Lebensläufe, dicht dran. Komprimiert. Gefiltert. Extrakte des Wesentlichen. Ich habe sie alle gelesen, diese wunderschönen Gedichte, alle mit Freude am Wort, mit Staunen über die genaue Kürze.
Marlies Schmidl soll noch mehr darüber schreiben, was sie erlebt (hat), auch kurze Prosa eignet sich, sie soll es unbedingt versuchen: kleine Geschichten knapp erzählen in Prosa-Versen. Sie schreibt ja Sätze wie Verse und Verse wie Sätze. Da lässt sich was draus machen. Mich interessiert auch, wie sie (längere) Dialoge schreibt. Dialogische Lyrik und Prosa, lyrische Dialoge, prosaische Metaphern. Und das nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über unsere Gegenwart – und Zukunft!
Marlies Schmiedl hat mich hinein gezogen in ihren Gewürzgarten, raus aus den verfickten Gossen Bukowskis, raus aus demTempel Thomas Manns und dem Wagner-Gestrüpp.


Kollwitzstraße

Hinterhofkühle
Von der küche
die mein zimmer war
sah ich auf die brandmauer
zugedeckt mit wildem wein
und spatzengeschwätz

Kohlen gab mir die wirtin
sparsame wärme
Auf einem stuhl über dem herd
saß ich und lernte
Der alte schrank an der wand
knarrte mir durch die träume

Eine etage tiefer
wohnte die junge frau
Ich sehe ihr schreien
blutspuren
Später hat ihr mann sie
umgebracht

Nach fünf jahrzehnten
zurückgekehrt
Ich laufe langsamer
Gaststätten
werfen namen
in die nacht

Nur wenige schritte entfernt
von den platanen
ein kleines lokal
Spielkartenbilder an den wänden
schmal die bänke
küche mit hausgemachtem

Gehe ich hinein
bleibt eile draußen
Ein Du wärmt
Abends lesung
preisgegebener gefühle
Lyrik-Café in der Kollwitzstraße


Das Gedicht „Kollwitzstraße“ von Marlies Schmidl – feine Einfachheit. Ein wenig kapriziert ist die Klein-/Großschreibung, etwas verwirrend die Zeit-Kausal-Folge in der dritten Strophe, aber vertretbar (erst Verletzungen/Blutspuren, dann Ermordung). Rückkehr, ein gewisser melancholischer Ton. Die dritte Strophe assoziiert vielleicht eigene Verletzungen, zuletzt klingt an: Alter, nachlassende Vitalität, ein wenig Ausgeschlossensein, Einsamkeit. Als ob das eigene Leben nicht so toll gelaufen wäre. Der Romantik des Anfangs (erste Strophe) entspricht die letzte Strophe eher durch Verkehrung. Anfangs Tag, Aufbruch, Eingebundensein in Natur, Stadtleben, Wärme, Zukunft – zuletzt Abend, Nacht, das Wachsen von Nicht-mehr, Ausblick auf Ende. Das Licht in die Nacht wärmt nicht „draußen vor der Tür“. Ein formal leises und doch lautes Gedicht im Beginn eines (enttäuschten?) Abschiednehmens. Die Erinnerungen sind mächtig, der Zauber des Beginns wird schmerzlich erkannt. Ein sehr schönes, wahres, ergreifendes Gedicht.

Ich werde mehr über Marlies Schmidl schreiben.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 W-M (23.09.16)
Ja, tu das! Es ist ein gutes Gedicht, sie ist eine gute Lyrikerin. Habe natürlich gleich mal gegoogelt, weil ich Marlies Schmidl bisher noch nicht kannte.

http://www.rhombos.de/shop/buecher/es-ist-nie-ein-anderer-ort.html

Dort gibt es auch eine Leseprobe. Über die Autorin erfährt man allerdings recht wenig im Netz. Aber, sie lässt ihre Gedichte sprechen!
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