Sehr geehrter Herr Marx IV

Text

von  GiraffeFolle

Sehr geehrter Herr Marx,
eine weitere Nachricht von mir erreicht Sie, und auch diesmal weiß ich zu Beginn noch nicht, wohin meine Gedanken mich in diesem Brief tragen werden. Diese sachte Orientierungslosigkeit wird durch ein allgemeines Gefühl der Unzugehörigkeit noch verstärkt. Ich kann mir nicht helfen. Der Frühling hat Einzug gehalten, und es ist möglich, dass meine geistige Sprunghaftigkeit damit zusammenhängt. Es sieht alles so viel weicher aus in diesem zarten Blütenlicht, von innen wie von außen, wenn Sie verstehen, was ich damit zu sagen versuche.
Neulich musste ich daran denken, wie wir einst über Gewohnheiten gesprochen haben. Sie hatten damals gesagt, dass Sie glauben, Gewohnheit sei eine Macht, die einerseits kaum zu durchbrechen, andererseits höchst durchbrechenswürdig ist. Ich kann diesen Gedanken mehr und mehr verstehen – Gewohnheiten fressen sich in uns hinein und bleiben in uns, verändern uns sozusagen von innen heraus, ohne dass wir es wirklich bemerken. Deswegen bilden sie in uns eine unbewegliche Macht, die wir, wenn wir sie erkennen, eigentlich nur schnellstmöglich wieder loswerden wollen. Allein weil sie diese Macht über uns selbst ausüben, die wir uns nicht erklären können (wir haben ja nicht mitbekommen, wie sie zustande gekommen ist), haben wir das Gefühl, sie durchbrechen zu müssen. Das ist berechtigt. Aber ich persönlich glaube auch, dass in Gewohnheiten noch sehr viel mehr zu finden ist, wenn man sie sich nur genau genug ansieht. Es steckt Angst darin, die Angst davor, wie es sein wird, wenn Dinge sich aus ihren schönen, ordentlichen Bahnen bewegen, wenn unsere kleine Puppenstubenwelt aus den Fugen zu geraten droht, aus welchen Gründen auch immer. Gleichsam finde ich aber auch Liebe darin, die Liebe zum Festen, Bodenständigen, zu den Aspekten des Lebens, auf die man sich immer wieder freuen kann, einfach weil man weiß, dass sie kommen und dass man sich auf sie freuen wird – das Bad zur gewohnten Zeit, der ersehnte Brief zum Geburtstag von einem Freund in der Ferne, der seit zwanzig Jahren regelmäßig immer gleiche Nachtisch nach dem Weihnachtsessen. Die Liebe zu der Fähigkeit, sich an festen Regelmäßigkeiten entlangzuhangeln, nach bestimmten Prinzipien und Grundsätzen leben zu können. Gewissermaßen der Stolz darüber, in der Lage zu sein, Mustern folgen zu können – es gibt so viele Menschen, die dies nicht können und ich weiß, wie kritisierenswert es ist, dass auch ich in vielerlei Hinsicht dazugehöre. Auch Wut und Reizbarkeit sehe ich im Phänomen der Gewohnheit, Ärger darüber, dass es Menschen gibt, die für unsere so hübsch zurechtgelegte Alltags-Pedanterie kein Verständnis aufbringen können, und den daraus resultierenden Trotz, der uns motiviert, weiterhin daran festzuhalten.
Die Gewohnheit ist für mich eine in so hohem Maße ambivalente Erscheinung, dass ich kaum wage, eine richtige Meinung dazu zu haben. Schon allein um das beschriebene emotionale Potential voll und ganz nutzen zu können, sollte ich mehr zu einem Gewohnheitsmenschen werden. Meine Sorge ist, dass ich schnelle und starke Veränderungen zu sehr gewohnt bin. Meine Gewohnheit besteht darin, in Panik zu geraten, sobald Dinge still stehen. In dem Moment, in dem in mir Ruhe herrscht, gerate ich in tiefste Unruhe. Ob die Dinge nicht anfangen, unbeweglich zu werden, steif, käfigsartig, fragt mein Herz dann, und mein Verstand vergisst, er selbst zu sein und sagt Ja stimmt, dagegen muss etwas unternommen werden. Mir scheint manchmal, ich könne nichts genießen – keine Ruhe, kein blödsinniges, simples Glück. Denn sobald dieser Zustand eintritt, scheint mir sogleich, ich könne nichts mehr empfinden, ich könne nur noch stupide glücklich sein. Vor beiden Varianten habe ich schreckliche Angst, egal wie lächerlich sich das anhört. Meine Gedanken arbeiten also immer, sind ständig damit beschäftigt, sich gegenseitig davon abzuhalten, in eine konkrete Richtung zu gehen, mit dem Resultat, dass ich nirgendwo ankomme, niemals.
Das ist das Paradoxon unseres Lebens: Es ist einerseits Gewohnheitssache, andererseits dürfen wir uns an nichts zu sehr gewöhnen. Man muss einerseits gewisse Bräuche annehmen und pflegen, da man sonst verrückt wird, andererseits darf man den Sinn für Veränderung nicht verlieren. Es darf nichts zu wechselhaft sein, man muss nach Ordnung und soliden Fähigkeiten – Wurzeln! – streben, aber andererseits darf es einem nicht langweilig werden. Ich persönlich finde das sehr schwierig, vielleicht die schwerste Aufgabe, die das Leben an uns stellt: uns einerseits selbst zu Felsen in welllenbrechenden Brandungen und andererseits zu frei herumfliegenden, abenteuerlustigen, nachtaktiven kleinen Fledermäusen zu machen und ihm, dem Leben, dafür auch noch dankbar sein zu müssen.
Meinen Sie, mein sehr verehrter Herr Marx, dass man Unterstützung anfordern darf? Schon diese Frage ist heikel, das ist mir bewusst, sie impliziert, dass der Fragende den Gefragten darauf festnageln will. Eine ganz subtil in eine vollkommen andersartig aussehende Frage eingepackte Forderung, sozusagen. Darum geht es mir nicht, denn auch Um-Hilfe-Bitten kann zur Gewohnheit werden, und bevor ich möchte, dass mir das passiert, meistere ich meinen Weg lieber völlig ohne Hilfe. Doch manchmal beobachte ich Menschen und denke mir dabei, wie es sein kann, dass sie so gut mit ihrem Leben zurechtkommen. Es gibt Menschen, die sind nicht wie wir, sie leben, ohne den Anspruch zu stellen, es besonders gut zu machen, und wenn sie merken, dass sie es nicht schaffen (und das müssen sie einfach irgendwann merken – sehen Sie, mich beispielsweise veranlasst schon die einfache Frage danach, was Gewohnheiten bedeuten, Ihnen einen solchen Brief zu schreiben und tagelang darüber nachzudenken, wie doppelwertig unser Leben doch ist) – kann es nicht sein, dass sie das einfach zugeben und jemanden darum bitten, ihnen zu helfen?
Um ehrlich zu sein, ich kann mir nicht vorstellen, dass es so ist. Ich glaube nicht, dass wir in einer Welt voller Um-Rat-Frager leben – wenn es so wäre, würden die Menschen nicht immer so ratlos dastehen, mit hängenden Schultern und völlig überrumpelt von dem, was das Schicksal sich mal wieder ausgedacht hat, aus der Bahn geworfen von Gefühlsangelegenheiten und sich unpassend fühlend in Situationen, die sie als unangenehm empfinden. Ich glaube ganz einfach, dass die meisten Leute sich daran gewöhnt haben, über ihre Probleme hinweg zu leben, und darin liegt das ganze Geheimnis. Konfliktbewältigung ist keine echte Kunst, sie ist etwas, das man nebenbei lernt, indem man es einfach ausübt. Ich würde einigen Menschen – nicht zuletzt mir selbst – so gerne sagen, dass man keine Angst davor haben muss, dass es das Beste ist, sich ganz einfach darauf einzulassen und irgendwann würde man es schon beherrschen. Aber ich scheitere, wie Sie sehen, bereits an der Frage, ob Gewohnheiten überhaupt gut sind und wenn ja, wieso ich sie nicht als das akzeptieren kann.
Ich kann Sie nicken sehen, wenn ich die Augen schließe und mir vorstelle, wie Sie diesen Brief lesen, und in einem Ihrer Mundwinkel schlummert ein kleines Lächeln, während auf Ihrer Stirn – es ist ja alles doppelwertig – eine Sorgenfalte sichtbar wird. Sie haben eine andere Lösung, vielleicht eine bessere, aber definitiv eine, die Sie weiterbringt, die es Ihnen ermöglicht, Ihren Weg zu gehen, ohne nennenswert davon abzukommen. Ich frage mich manchmal, ob ich eines Tages auch eine haben werde und ob es Ihre sein wird, weil ich Ihnen dann nahe genug gekommen bin, um Ihr Geheimnis zu entschlüsseln oder es mir zumindest genau ansehen zu können. Vielleicht ist es doch einfacher, wenn man nicht allein ist mit seinem Kopfzerbrechen. Die meiste Zeit hofft der Mensch, dass seine zwischenmenschlichen Mühen nicht umsonst sind, bin ich überzeugt. Ich hoffe, dass Sie wissen, wie berechtigt diese Hoffnung ist.
Mit Hochachtung,
Ihre Frau Giraffe


Anmerkung von GiraffeFolle:

25. Mai 2007

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Kommentare zu diesem Text

n8s (49)
(09.08.07)
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