Quermöwenbriefe

Skizze zum Thema Alleinsein

von  Iv0ry

Mensch in der Ferne,

heute haben mich Deine Zeilen erreicht. Ich hatte nicht mehr mit ihnen gerechnet. Warum Du sie auf die Rückseite eines Puzzles geschrieben hast, erschliesst sich mir nicht ganz. Das Motiv ist jedoch bewundernswert - Liebe bei Nacht. Dabei hatte ich Dir noch garnicht geschrieben, dass Deine Worte mich in Paris erreichen. Nicht dass es einen Unterschied machte. Ich schlafe tagsüber und durchforste nachts die Museen - ich liebe die geänderten Öffnungszeiten - ebenso wie den kleinen Kaffee mit der alten Dame in der Statuenhalle des 18. Jahrhunderts.
Morgen werden wir uns einen Besuch in Rodins Wandelgarten gönnen - auch wenn ich dafür die Sonne wieder einmal sehen muss. Es wird sicherlich ein spannender Ausflug sein. Wir sprechen kaum, sind uns des Alterns des Atems zu bewußt, wissen um den Schmerz in jedem Blick, während wir fröhlich tanzende Kinder in der Ferne hören.
Nachts umtanzen uns nur die Kunstlichter, die extra für uns gedimmt wurden. Wir sind die ersten und letzten Besucher.

Es passieren seltsame Dinge, während ich auf der Suche nach einem ästhetischen Bauplan für eine neue Leichenhalle bin. Die Mausoleen hier, die sich zwischen allen Alleen finden lassen, überzeugen mich nicht ganz. Ich suche eine Eisdiele, die auch nach Mitternacht noch Pfefferminzeis verkauft - dabei ist mir eine Krähe zugeflogen. Sie riecht nach frischen Erdschollen und in ihren Augen steht eine Frage, deren Antwort ich früher einmal auf der Haut trug.
Sie scheint sich daran zu erinnern, während ich sie mit Puzzleteilchen füttere, nachdem ich sie entziffert habe.

Dein Bild verblasst. In der Ferne sieht selbst der Horizont aus wie eine Armee grauer Hochhäuser.
Paris ist eine einsame Stadt, ohne Jazz, ohne Blues, und die alten Chansons schmiegen sich nicht an meine Seele.
Ich schlafe bei offenem Fenster und vermisse das Quietschen der Strassenbahnen. Ich schlafe tief und fest bis die Sonne untergeht und eine weitere Nacht beginnt.
In der Dunkelheit schreibe ich. Buchstaben, die ich nicht sehe, Liedtexte, die nur meine Krähe zu hören bekommt. Sie krächzt mit Begeisterung, und weigert sich mir in die schweigenden Kunsthallen zu folgen.

Wie ich mich weigere Dir zu folgen.
Auch deshalb diesmal Hauptpostlagernd, da ich Deine Reisen nicht mehr auf der Karte verfolge. Mein Globus verstaubt und meine Welt verwandelt sich immer mehr in eine Scheibe, an deren Rändern ich Schnittspuren vermute.

Eine Welt in der es keine Religion geben kann, keinen Gott, keinen Schöpfer - und auch keinen Mann wie Dich.


Ich verbleibe, ohne Erwartungen.

Dein K.

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Kommentare zu diesem Text

Mirjam (27)
(16.05.08)
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