Massenhysterie

Text

von  qwert

Die Uhr tickt penetrant und kündigt ihnen an, dass der Moment mit jeder Sekunde näher rückt. Sie drücken ihre kleinen Brüste an verschwitzte Rücken anderer Menschen. Wie die Motten schieben sie sich zu dem grellen Licht, das ihnen entgegen strahlt.
Jeder Meter zählt.

Sie kennen einander nicht, aber liegen sich in den Armen. Über ihnen steigt feuchter Dampf empor und es riecht nach Schweiß, Zigarettenrauch und billigem Deo aus ein paar Hundert Achselhöhlen. Blickt man in ihre Gesichter, zeigt sich ein Gruselkabinett der Extraklasse. Von Akne gepeinigt und von Gott gestraft. Sie pressen ihre Fettwürste in knallenge Kleidungsstücke, tragen Schuhe, in denen sie noch weniger laufen können, als ohnehin schon und haben sich mit Filzstiften das Gesicht bemalt.

Man hört sie kichern, kreischen und lauthals schluchzen. In zittrigen Händen klebt das Bild der Ikone, für welche sie sich heute versammelt haben. Manche halten ein voll gerotztes Kuscheltier umklammert. Tage zuvor haben sie dem Teddybär den Bauch aufgeschlitzt und einen parfümierten Zettel mit ihrer Telefonnummer hinein transplantiert.

Es war ein langer Weg, um hier zu sein. Sie haben gebettelt, erpresst, geplündert und mit Selbstmord gedroht. Kein Preis ist zu hoch. Es geht um alles und vor allem um die Chance von ihm gesehen zu werden. Aufgeregte Zeigefinger vibrieren durch die Luft und deuten zu der Kulisse vor ihnen.

Verheulte Augenpaare fesseln ihren Blick und starren gebannt zur Bühne. Man ergreift Hände, um Halt zu finden. Man rammt sich Ellbogen zwischen die Rippen, um noch einen Schritt weiter in die Nähe der Erscheinung drängen zu können. Die Körper zittern, manche klappern epileptisch mit den Zähnen und ringen nach Luft. Man sollte meinen, sie wären Insassen eines Zuges, der gerade verunglückt ist.

Eine dünne Stimme kreischt auf und schwirrt durch die Reihen.

Es wird dunkel und man kann kaum die Hand vor Augen sehen. Plötzlich ist es ganz still. Nur das schwere Keuchen und leise Schluchzen zerreißt den Mantel der Spannung und stört diejenigen, die andächtig an den Gittern klammern. Die Sekunden schleichen dahin und dicke Kinderhände ballen sich zu Fäusten. Irrsinniger Weise stellen sie sich auf die Zehenspitzen um besser sehen zu können.

Sie brüllen seinen Namen. Erst vereinzelt, dann im Chor. Es ist wie eine ekstatische Meditation. Die Rufe werden immer lauter und verzweifelter. Fast schon aggressiv schallt sein Name durch den Saal. Irgendwo schlägt eine Stirn auf das kalte Gitter und reibt sich kurz darauf benommen über die blutende Wunde. Man reicht Plastikflaschen mit Wasser durch die Reihe, gießt das kühle Nass über einen Kopf und empfängt einen Faustschlag mitten ins Gesicht. Schminketuis werden gezückt und fette Gesichter nachpoliert.

Die Hysterie greift um sich und erfasst jedes Kinderherz, das bis zum Hals schlägt und kurz darauf in die Röhrenjeans sackt. Plötzlich flackert ein Licht auf und man lässt die Taschenmesser wieder in die Tasche gleiten. Sein Name schallt durch den Raum und wird von den Wänden zurück geworfen. 

Als die Musik einsetzt sind sie nicht mehr zu bändigen. Mit ihren Patschhänden schlagen sie gegen die Gitter oder in die Hände. Sie zünden Feuerzeuge an, wedeln mit bunten Postern, auf denen in krakeliger Kinderschrift “Fick mich” oder “Ich liebe dich” steht oder trennen sich von ihren Teddybären.

Mit einem lauten Knacken erstrahlen die Scheinwerfer und blenden in ein Meer aus Gesichtern. Als er auf der Bühne erscheint und die Arme in die Höhe reißt, schlagen ihre Fäuste versehentlich auf irgendwelche Hinterköpfe. Sie brüllen sich beharrlich die Seele aus dem Leib und heulen bis der Tank leer ist.

Er begrüßt sie und eine Welle der Begeisterung schwappt eisern durch den Mob. Es ist die erste Unterhaltung, die sie mit ihm führen und voller Stolz schwellen die Brüste an. Es wird immer enger und man hat kaum noch Platz, die Hand zum Gesicht zu erheben, um sich den Rotz von den Wangen zu wischen.

Als er sich danach erkundigt, wie es ihnen geht, erreicht ihre Stimmgewalt den Höhepunkt. Ein triumphierendes Lachen bahnt sich auf sein Gesicht.  Dicke, dünne und behaarte Arme stecken sich ihm entgegen und winken unkoordiniert durch die Luft. Er bewegt sich geschmeidig am Rand der Bühne entlang und blickt in einzelne Gesichter. In zugehörigen Leibern entflammt die Hoffnung, er hätte sich in diesem Moment verliebt. Sie fangen an zu jodeln und klatschen rhythmisch in die Hände.

Unmerklich nickt er ihnen zu und ergreift das Mikrophon. Es herrscht Chaos und wenn er in die Menge sieht, erkennt er nur  eine bedrohliche Anzahl von Maden, die sich durch den Dreck wühlen.

Sie kennen das Lied und lallen den Text automatisiert mit, als er anfängt zu singen. Trotz der beklemmenden Enge versuchen sie zu tanzen und wiegen ihre unförmigen Körper im Takt des Liedes. Manche sind so berührt, dass warme Tränen über die Wangen kullern. Viele sind hässlich, wenn sie weinen. Verzerrte Gesichter glotzen empor zu dem Vorbild einer ganzen Generation und öffnen ihre Münder, als wollten sie ihn mit Haut und Haaren auffressen. Sie saugen die Luft auf, schlucken und lecken sich ein Gebräu aus Schweiß und Tränen von den Lippen.

Er bewegt sich langsam über die Bretter und wirft immer wieder ein kokettes Lachen in den Raum. Sie fangen es mit ihrem Kameras auf und werden die Momente im Internet veröffentlichen. In den hinteren Ecken versuchen sie das Geheimnis zu enthüllen, wie wahrscheinlich es ist, ihn nach dem Auftritt kennenzulernen. Vielleicht fallen sie ihm entgegen und er nimmt sich die Zeit für eine tiefgründige Unterhaltung. Vielleicht verliebt er sich spontan. Vielleicht ist es die Liebe auf den ersten Blick, von der er in unzähligen Interviews erzählt hat.

Sie reißen sich den Stoff von den Brüsten und strecken ihre nackten Brustwarzen in das gleißende Licht. Auf der Haut steht sein Name und sie sind stolz, dass er erst in drei Tagen wieder verblassen wird. Es hagelt Liebe und prasselt unaufhaltsam auf ihn nieder.

Fast schon angewidert schirmt er sein Gesicht ab, grinst und bedankt sich für ihre Treue. Er hat die besten Fans der Welt und ist nur für sie gekommen. Die heutige Nacht teilt er nur mit ihnen und sie zerfließen vor Rührung zu einem Brei ohne Bedeutung.
Heute zählt nur, dass sie zusammen sind. Es dauert eine Stunde und ein paar Minuten. Es ist für die Ewigkeit bestimmt. Bis zum nächsten Freudenfest der psychiatrischen Anstalt.

Glückselig stehen sie am Straßenrand, bis der Familienwagen vorfährt. Noch immer heulend sitzen sie auf dem Rücksitz, schmiegen sich aneinander und sind nicht fähig auch nur ein Wort zu sprechen.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Luca85 (24)
(13.10.08)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Marcello (28) meinte dazu am 06.02.10:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram