Die Muscheln sind tot

Text

von  qwert

Ich pflücke ein paar Muscheln aus dem Sand und stecke sie in meine Hosentasche.
Eigentlich könnte ich auch darauf verzichten, weil zuhause eine ganze Kiste voller Muscheln steht und sich keiner dafür interessiert. Muschelnpflücken ist unser Ritual.
Jedes Mal, wenn sie mich besuchen kommt und wir am Strand spazieren gehen, nehmen wir ein paar Muscheln mit.

Wenn ich male, sind es Muscheln. Ich male sie in schwarz und in knallbunt.
Kommt immer darauf an, wie ich mich fühle. 
Es sind immer mehrere Muscheln und eine davon male ich besonders groß und besonders schwarz. Ich weiß nicht warum, aber sie sagen, das wäre mein Selbstbild.

Ich bin eine riesige, schwarze Muschel. Ich wollte schon immer eine Muschel sein.
Manchmal ist die Ich-Muschel am äußersten Rand des Bildes und weit entfernt von allen anderen, die eng beieinander in der Mitte liegen.

Sie fragen mich, ob die Muscheln am Grund des Meeres liegen, oder schon an Land getragen wurden. Was macht es für einen Unterschied?
Entweder sie liegen auf dem Meeresboden oder sie liegen am Strand. Es sind nur Muscheln und es gibt so viele davon, dass kein Mensch auf der Welt sie zählen könnte.

Sie fragen, was mit den Muscheln passiert. Vielleicht bleiben sie für immer liegen und sinken immer weiter in den Boden, bis sie gänzlich verschwunden sind.
Vielleicht pflückt sie jemand und nimmt sie mit nachhause, wo sie zwischen Tulpen und Narzissen in einem Blumenbeet liegen.

Und dann wollen sie wissen, ob in den Muscheln noch Leben steckt.
Ich denke, die Muscheln sind tot. Sie sind nur eine Hülle von einem vergangenem Leben.
Sie erkundigten sich, ob in den Muscheln vielleicht eine wertvolle Perle versteckt läge und ich schüttelte den Kopf.

Ich male viele Muscheln. Sie sammeln meine Bilder und jeden Freitag betrachten wir sie gemeinsam. Viele sagen, ich müsste Abwechslung in meine Bilder bringen, aber mir fällt nichts anderes ein.

Ich male immerzu Muscheln und beginne sie allmählich zu hassen.
Manchmal drücke ich den Stift so fest auf das Papier, dass es kleine Risse bekommt.
Sie sagen, kräftige Farben wären ein Ausdruck meiner Aggression. An manchen Tagen lasse ich den Stift nur ganz sanft über das Blatt streichen und sie sagen, ich wäre zur Ruhe gekommen.

Eines Tages wollten sie wissen, ob ich Muschelhälften male, oder ganze Muscheln.
Ich habe mit den Achseln gezuckt und wusste nicht, was sie meinen.
Sie erklärten mir, dass Muscheln aus zwei Hälften bestehen. Die Hälften können nur gemeinsam beschützen, was in der Muschel liegt.
Sie brauchen einander und eine Muschelhälfte ist wertlos ohne die andere.

Ich male Muschelhälften.
Für meine Muscheln gibt es keine andere Muschel. Sie sind auseinandergerissen worden. Es ist ja auch egal. So ist der Gang des Lebens. Was einst vereint war, trennt sich irgendwann. Leben und sterben.

Sie fragen mich jeden Tag, wie sich die Muscheln fühlen und ich würde ihnen gerne Stifte in die Augen bohren. Ich sage, den Muscheln geht es gut.
Sie sagen, die Muscheln würden sich verschließen, um sich vor der Außenwelt zu schützen.
Aber wenn es doch Muschelhälften sind; wie sollen sie sich verschließen?

Sie sagen, die Ich-Muschel muss ihre andere Hälfte wiederfinden.
Die andere Muschelhälfte ist weggespült, aber das wollen sie nicht glauben.
Die Ich-Muschel müsste die Hälfte in sich selbst finden, behaupten sie und lachen, als wäre es selbstverständlich. Aber in der Muschel gibt es kein Leben mehr, weil sie nur eine Hälfte ist.

Sie sagen, mit der Zeit würde sie wieder anfangen zu leben, weil die Ich-Muschel leben will. Als würde aus Nichts plötzlich ein Leben erblühen, denke ich und vertiefe mich in das Schwarz der Muschel. Ich frage sie, ob Muscheln den Gesetzen der Natur unterliegen.
Sie nicken eifrig.
Tot bleibt tot, sage ich. Und eine Muschelhälfte bleibt ohne die andere wertlos.

Vielleicht fragen sie mich bald, wie die Muscheln riechen. Ich werde sagen, dass sie verwest sind und deshalb bestialisch stinken. Muscheln können nicht verwesen. 
Aber sie werden nur nicken und mir die Schulter tätscheln.

Wir gehen langsam zurück zu der weißen Strandvilla.
Sie zeigt mir eine Muschel, in der ein toter Krebs liegt.
Ich nehme den Krebs und stecke ihn in meine Hosentasche.
Wenn ich in mein Zimmer komme, werde ich ihn gründlich abwaschen, sonst stinkt er zu sehr.
Und sie sagt, dass die Muscheln jetzt nicht mehr alleine sind.

Die Muscheln sind tot.
Es interessiert sie nicht, ob ein toter Krebs zwischen ihnen liegt oder nicht.

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Kommentare zu diesem Text

chichi† (80)
(12.10.08)
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 Dieter_Rotmund (17.11.21)
Ein fast bizarr wirkende Fokussierung des Erählers/der Erzählerin auf Muscheln, deshalb erzeugt der Text eine leicht gruselige Stimmung.
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