Läsionen im Bereich der Corpora mamillaria

Erzählung zum Thema Erwachsen werden

von  Untergänger

Ein Raum.  Bleiernes Licht. Der Kopf in die Hände gepresst. Wären es doch nur Schraubstöcke – langsames aufbrechen und auslaufen. Aber so.
Die Kommode ist fein säuberlich aufgeräumt. (Regieanweisung: Pause)
Elke ist weg. Oben hat er noch ein paar Flaschen alten Schnaps von seinem Onkel. Aber er denkt gar nicht darüber nach sie zu trinken, wobei es nicht klar ist, ob er es nur deshalb nicht tut, weil ihm die Flaschen in diesem Moment gar nicht bewusst sind oder weil er den Schnaps nicht mag. Mit den Zeigefingern – genauer gesagt mit den Kuppen - drückt er sich gegen das Nasenbein. Dort am Innenrand der Augen. Nicht fest, aber es reicht aus um ein komisches Gefühl zu hinterlassen.
Er kann seine Schlüssel nicht finden. Er weiß auch wieso. Sie liegen oben auf seinem Küchentisch und jetzt kommt er nicht in die Wohnung. Er ist in diesem Moment 23 und ledig und recht attraktiv.
In diesem Moment ist er 34 und blickt kurz in den bläulichen Schein der Energiesparlampe, technisch gesehen, praktische gesehen sieht er nur bunte Streifen, da sich das Licht an den Tränen in seinen Augen bricht und sich in ihm zu verlieren scheint.
Es scheint fast so, als ob manche Wortspiele von Gott gewollt wären – oder von der Person, welche die Sprache erfunden hat. Ihm ist nicht vieles durch logisches Denken klar geworden aber mit der Sprache ist er sich sicher. Sie muss erfunden worden sein und er will den finden, der sie erfunden hat. Zumindest heute Nachmittag. Seine Aufmerksamkeitsspanne ist entsprechend seines Alters von 5 Jahren nicht sonderlich lang. Seine Mutter lächelt ihn leicht verstört an. Und er strahlt zurück. Für ihn war es nichts besonderes, die gewaschenen Socken aus der Maschine zu nehmen und zusammen zu legen. Für sie scheinbar nicht. Er hat sie einfach beobachtet und gelernt. Sie hat es gesehen und fragt sich ob mit ihm alles in Ordnung ist. Sie nimmt sich fest vor ihn im Gegenzug niemals zum Essen von Gemüse zu zwingen.
Elke ist weg. Schon den ganzen Nachmittag. Elke lebt in Frankfurt. Nähe Stadtwald in Niederrad. Hier könnte es schön sein, ist es aber nicht. Das „ist es aber nicht“ hat sie nur deshalb an den Satz angefügt, weil es die Fanta 4 gerade gesungen haben. Auf jeden Fall ist sie weg, bzw. nicht zu hause. Elke befindet sich tatsächlich in der Tram Linie 12 Richtung Hauptbahnhof. Rechts von ihr zieht die Uniklinik vorbei, links von ihr der Main. Dort lebt nichts mehr drin – sagt sie sich – hoffentlich zumindest – in der Dreckbrühe will man ja auch nicht leben. Sie hatte mal davon geträumt zum Flughafen zu fahren und nach Kanada zu fliegen. Einfach so. Hin und wieder zurück. Aber sie hat es nicht getan und inzwischen weiß sie nicht mal mehr, dass sie davon geträumt hat. Sie vergisst alle ihre träume früher oder später.
HDL. Das war ´s. Einfach HDL. Und jetzt wird ihr klar, dass eine Welt zwischen HDL und „ich habe dich lieb“ liegt. „Englisch geschraubt ist so gut wie deutsch genagelt.“ Hat ihr Opa mal gesagt. „Amerikanisch geliebt ist wie deutsch peripher gekannt.“ Hat sie mal gesagt, aber nach dem ganzen HDL Wahn ist sie sich da nicht mehr so sicher.
Heute wird er 12. Aber seine Oma hat ihm eine Karte mit einer 13 geschickt. Er ist stolz. Mama sauer. Er freut sich, dass Oma ihn für so groß hält. Mama ist sauer, dass Oma ihm eine falsche Karte geschickt hat. Das liegt auch daran, dass Oma nicht Mamas Mama ist sondern Papas – sagt er sich und schweigt. Papa ist nicht da. Ungefähr so, wie Elke nicht da ist, aber das ist eine Andere Geschichte und sollte nicht vermischt werden. Papa ist auf dem Rückweg von der Arbeit. Er hat sie tatsächlich gekauft. Die Eisenbahn. Mindestens zu 30 Prozent auch für sich selbst. Er klammert sich etwas an ihr fest. Er hat sie im Modellbaushop neben seinem Büro gekauft – gestern hatte er sie bestellt und heute abgeholt – die Welt kann so schön einfach sein und auch einfach funktionieren. In dem Paket ist eine Moderne Lok und eine Dampflok enthalten, sowie eine relativ große Menge an Schienen – alles Digital versteht sich. Auch wenn er sich das noch nicht so richtig vorstellen kann. 2 Loks auf einem Gleis und man kann beide steuern. Technisch gesehen ist das kein Problem, aber er kann sich das Gefühl welches man dabei hat nicht vorstellen. Er ist 36, sein Sohn 12, seit heute. Er wird 46 werden. Sein Sohn 78.
Elke beginnt an dem Polster ihres Tramsitzes zu pulen. Dort an der Stelle, wo die Naht bereits leicht aufgebrochen ist. Langsam wird das Loch größer und mit Genugtuung stellt sie fest, dass bereits das erste Glied ihres Zeigefingers hineinpasst. Darunter schein irgendein billiger Schaumstoff zu sein. Leicht bröselig bereits. Unfokussiert starrt sie quer durch den Zug. All ihr Bewusstsein scheint sich in diesem Moment unter der Stoffbedeckung des Sitzes zu konzentrieren. Sie kann das Muster fühlen. Eigentlich verrückt – denkt sie sich. Es achtet doch eh niemand auf das Muster. Und dann wird es ihr schlagartig klar. Das Muster ist für Leute wie sie gemacht. Von jemandem, der ihr vielleicht ähnlicher ist als man denkt.
An diesem Moment sollte nachträglich erwähnt werden, dass er, wie bereits gesagt mit dem Kopf zwischen den Händen dagesessen hat. Aber das hat nichts damit zu tun, dass Elke weg ist. Der Autor hat beides nur zufällig direkt hintereinander genannt und damit eine Kausalität geschaffen, die nichts mit der Realität zu tun hat.
Er schaut sich in seinem Zimmer um. Und begreift, dass nichts von alldem einen Wert hat, also einen Wert über den Preis hinaus, der auf der Verpackung steht. Das war nicht immer so, er hatte mal eine Eisenbahn besessen – von Papa geschenkt. Aber die hat er nicht mehr. Er hat sie verkauft mit 23.
Elke weiß nichts von ihm.

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Kommentare zu diesem Text


 Isaban (19.02.10)
Verletzung am Erinnerungszentrum.
Eine Bilderflut aus vielen, vielen Einzelteilen, die such erst nach und nach zu einem ganzen Bild zu sammen setzen, oder nein, ehr zu dem, was eben nicht ( gleich) auf dem Bild zu finden ist.
Enttäuschungen und unerfüllte Erwartungen zu verarbeiten sind auf jeden Fall Schritte auf dem Weg zum Erwachsen werden, ebenso wie die Erkenntnis, dass Werte nicht unbedingt vom Preisschild auf einem Gegenstand abhängig sind.

Ein leiser Text, bei dem ich gerade dieses langsame Aufblättern sehr schätze.

Liebe Grüße,

Isaban

 Untergänger meinte dazu am 20.02.10:
Vielen Dank.

mömmel,
Alfons

 Isaban antwortete darauf am 20.02.10:
Ah, du mömmelst wieder. Das freut mich!
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