Einführung, VI

Text zum Thema Allzu Menschliches

von  bluedotexec

Abby Galbraith, vor drei Tagen, 8:00 Uhr

Schätze, ich hab' mich lange nicht mehr so gut unterhalten. Ich blicke noch eine Weile auf den leeren Teller, ab und zu in die leere Kaffeetasse.
Es wird Zeit, nach Hause aufzubrechen. Samuels Schergen sind sicher schon krank vor Sorge, und ich will nicht, dass sie in meiner Wohnung irgendwas Dummes anstellen.
Das Handy klingelt. Auf der Anzeige leuchtet der Name „Bon Scott“ auf. Ich nehme an.
„Mr. Samuel, gerade habe ich an Sie gedacht.“
„Miss Galbraith. Wie schön, Ihre Stimme zu hören.“ Jedes Mal, wenn Mr. Samuel meinen Namen sagt, bringt er ein zweites „I“ hinein, das nicht dort hin gehört. Verfluchte Amerikaner.
„Ich freue mich auch, dass Sie sich melden.“
„Die Smith-Brüder haben mich soeben angerufen, weil Sie noch nicht wieder nach Hause gekommen sind. Sie machen sich Sorgen, und die beiden können mit dieser Situation nicht umgehen, das wissen Sie ja.“
Zwei Sätze, eine versteckte Drohung.
„Ich bin noch bei 'Ted's twenty-four. Sie können ihnen ausrichten, dass ich fünfzehn Minuten länger brauche, ich hatte hier ein wirklich gutes Gespräch. Ich hoffe, Sie sind darüber nicht allzu erregt?“
„Oh, Miss Galbraith. Sie wissen, wie sehr ich eine gute Unterhaltung schätze. Selbstredend habe ich dafür vollstes Verständnis. Haben Sie einen alten Bekannten getroffen?“
„Aber nein. Ich habe einen äußerst zuvorkommenden Polizisten kennen gelernt.“
Eine winzige Pause, für das Gehör eines weniger empathischen Menschen vermutlich nicht zu hören, entsteht. Ich liebe es, ihn zu verunsichern.
„Und Sie haben ihn um diese Uhrzeit getroffen? Er müsste doch sicher längst auf seiner Wache sein, nicht wahr?“
„Ich denke, er wird im Moment Urlaub haben. Er wirkte auf mich wie jemand, der seinen Job gerne und gut macht. Jemand, der sich von der Funktionslust packen und nicht mehr loslassen lässt. Und äußerst... distinguiert.“
„Ich vermute also, dass er schon etwas älter als Sie ist?“
„Da haben Sie vermutlich Recht, doch ich denke, der Altersunterschied ist geringer, als Sie glauben.“
„Was also lässt Sie auf seine Distinktion schließen? Und ich hoffe, ich verhalte mich nicht allzu indiskret?“
„Aber nein, Mister Samuel. Doch ich fürchte, Sie enttäuschen zu müssen. Ich kann mein vorläufiges Urteil mit nicht mehr als einem Bauchgefühl, einer Intuition untermauern.“
„Nun, Miss Galbraith,“ wieder das verdammte I, „soweit ich es genießen durfte, Erfahrungen mit neuen Gesprächspartnern, ich sage noch mehr, Diskutanten, zu sammeln, können sie beruhigt sein. Gerade das Unbestimmte, das Unargumentierbare, ist die beste Grundlage für ein gutes Gespräch. Und verzeihen Sie mir bitte den abrupten Themenwechsel,“ er räuspert sich trocken, „aber ich werde nun die Smiths kontaktieren müssen. Ich wurde übrigens angehalten, Ihnen auszurichten, dass Ihre Einkäufe bereits ganz nach Ihren Wünschen getätigt wurden, und an dieser Stelle bitte ich noch einmal um Verzeihung für den Fauxpas mit der Acidophilusmilch. Mister Smith versprach mir, dass er keine gewöhnliche Milch mehr einkaufen wird.“
„Das ist äußerst löblich.“
Ein weiteres Lachen, diesmal glaubwürdig erheitert, erklingt aus dem Hörer. „Miss Galbraith, noch nie durfte ich jemanden treffen, der ein so feines Gespür für den richtigen Moment für Spott hat. Es wundert mich, dass Sie nicht mehr Herren wie diesen Mister... wie, sagten Sie noch gleich, ist sein Name?“
„Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen. Vielleicht war dieses Intermezzo gerade aus diesem Grund so gut, doch wir haben uns einander nicht vorgestellt. Nun,“ Setze ich zu einer Verabschiedung an, „ich möchte Sie nicht weiter von Ihrem Tagesgeschäft abhalten. Ich danke für Ihren Anruf, aber es besteht kein Grund zur Sorge.“
„Bei einer Frau wie Ihnen ist ein gesundes Mindestmaß an Sorge in meinen Augen immer angebracht.“ Das war süß und bedrohlich zugleich.
„Einen guten Tag wünsche ich Ihnen noch.“ Sage ich.
„Den wünsche ich Ihnen ebenfalls. Von ganzem Herzen.“ Sagt er und legt auf.
Bastard. Ich arbeite für ihn, er bezahlt mir jedes Mal Unsummen, für nur eine Aufgabe. Der Deal war ziemlich lang formuliert, aber wenn ich ihn auf einen Satz reduzieren müsste, wäre es folgender: Ich sitze wochenlang zuhause herum, warte auf einen Anruf, lese Bücher, lasse mich von seinen Gorillas beaufsichtigen und irgendwann meldet er sich und ich mache mich auf den Weg.
Die Smith-Brüder, ich kenne ihre Vornamen nicht, sind Schränke. Sie sorgen in erster Linie dafür, dass ich nur für Mr. Samuel arbeite, und in zweiter Linie sind sie meine Babysitter, die aufpassen, dass ich brav bin, wenn ich keinen Job habe.
Sie scheinen nur aus Muskeln zu bestehen, sind äußerst intelligent und scheinen sich zu zweit den Schlaf zu teilen, der für einen normalen Menschen allein gerade ausreichend wäre, um nicht in der U-Bahn gegen die geschlossene Tür zu laufen.
Der eine von ihnen ist ein großer Freund von Rotwein, der andere eher der Scotch-Fan. Ich mag beides, weswegen die Abende am Wochenende eher gelassen verlaufen. Mr. Samuels Anweisung lautete zwar, dass kein Alkohol konsumiert werden soll, solange unser Vertrag gültig ist, aber da wir drei das Geheimnis teilen, sind wir vor Konsequenzen gefeit.
Ich arbeite in der seltsamsten Form einer vierzig-Stunden-Woche, die man sich vorstellen kann. Ich muss acht Stunden des Tages erreichbar sein, wenn ich in diesen acht Stunden keinen Anruf bekomme, habe ich die restliche Zeit frei und kann fast alles tun, was ich will. Ich muss mich nur bei meinen Babysittern abmelden.
Vermutlich klingt das sehr nach einer Zwangssituation, aber im Prinzip lebe ich auch nicht anders als eine große Persönlichkeit, ein reicher Schauspieler oder ein bekannter Musiker vielleicht. Die beiden putzen meine Wohnung, waschen die Wäsche, erledigen alle Einkäufe und sind auch noch sehr gute Köche. Alles in allem sind sie keine schlechten Aufpasser, auch wenn ihnen jedes Gespür für menschlichen Feinsinn fehlt. Eine Unterhaltung wie die mit Mr. Samuel scheint kaum möglich, doch eine angeregte Diskussion über Sartre, Mendelssohn Bartholdy oder Aberfeldy ist häufig eine abendfüllende Angelegenheit.
Ich lebe seit fast einem Jahr mit dieser seltsamen Mischung aus Bodyguard, Butler, Gefängniswärter, Barkeeper und schwulem besten Freund zusammen, und ich habe mich ziemlich schnell daran gewöhnen können. Die Vorteile übertreffen zwar nicht nicht Einschränkungen, aber sie gleichen sie aus.
Ich verlasse das Diner. Mr Mellencamp ist nach links gegangen, also weg von der U-Bahn, demnach wohnt er entweder hier in der Nähe oder er geht einem anderen Tagesgeschäft nach.
Eine sehr angenehme Begegnung.

Ich steige in die U-Bahn. Die Sitze sind mit wasserfestem Filzstift beschmiert, die Bezüge mit Messern, Scherben, Schlüsseln zerfetzt. Die öffentlichen Verkehrsmittel in Gotham sind zum Kotzen. Drei Mal schon musste ich hier handgreiflich werden, um unbeschadet nach Hause zu kommen, aber seit etwa einem Jahr bleibt das aus, weil meist ein riesiger Typ neben mir sitzt, der sich vor allem darauf beschränkt, einen mächtigen Eindruck zu machen. Ich vermute, er könnte die U-Bahn nötigenfalls, etwa bei einer Entgleisung, wieder in die Spur zurück heben.
Mr Mellencamp geht mir nicht aus dem Kopf. Matthew. Wie hieß das Mädchen, das heute nicht da war? Angie. Also Angela. Der Koch hat gesagt, sie arbeitet an einem Ort namens „Lusty Heart“. Ich bezweifle, dass das etwas anderes ist als ein Strip-Club oder ein Bordell, und wenn Mellencamp so umtriebig und verbissen ist, wie sein Auftreten schließen lassen, ist er dort hin gegangen.
Meine Station wird ausgerufen. Ich verlasse die Bahn, steige über Pfützen in verschiedenen Farben, die sich auf den braunen Kacheln des Bahnsteigs sammeln, erklimme die Treppe – und stehe im Regen.
Zeit, meine Sklaven anzurufen. Ich suche im Nummernregister meines Handys nach „Crawdaddy's“, wähle und warte, bis einer der beiden abnimmt.
Eine Stimme meldet sich, kratzig, aber nicht besonders tief. „Ja?“
„Mister Smith, hier ist Abby. Ich stehe in der U-Bahn-Station, aber der Himmel hat seine Tore geöffnet. Würden sie mich bitte mit einem Regenschirm abholen kommen? Im Ständer neben der Tür steht ein großer, unter dem wir beide Platz finden. Es ist der einzige schwarze.“
„Selbstverständlich. Drei Minuten.“
Er legt auf. Einige Minuten später erscheint er am oberen Ende der Treppe.
„Wir haben uns schon Sorgen gemacht, als du nicht pünktlich um acht wieder da warst.“
„Ich weiß. Und du weißt, dass ich es weiß.“
„Verzeihung.“
„Entschuldige dich nicht, die Wiederholung zeigt, dass ich dir am Herzen liege.“
Er erwidert nichts. Wir gehen eine Minute schweigend nebeneinander her.
„Mister White hat eine Mappe geschickt.“
Verdammt. Kein freier Tag.


Anmerkung von bluedotexec:

Mir fällt auf, dass ich noch gar keine Anmerkung geschrieben habe. Aus diesem Grund: Hier ist eine.

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