Stern

Text

von  Pearl

Dreams are hopeless aspirations
In hopes of comin' true
Believe in yourself
The rest is up to me and you

(Left Eye)

Es war eine laue Sommernacht. Jasmine stand am Straßenrand und drehte ihren Daumen nach rechts. Gleich bei ihr, neben der Schnellstraße, standen Prostituierte in kurzen, engen Kleidern. Seit drei Wochen war sie unterwegs. Seit drei Wochen war sie auf sich gestellt - sie atmete tief ein  - war sie frei. Frei! Das sechzehnjährige Mädchen lachte auf, schüttelte ihr blondes Haar und setzte sich im Schneidersitz auf einen Stein, zog an ihrer Zigarette, blies den Rauch in die Tiefe der Nacht. Eine der Frauen kam auf sie zu und sie sprachen kurz miteinander. Die Frau gab ihr zu verstehen, dass dies das Revier der Prostituierten war, dass sie wollten, dass sie verschwand. Deshalb suchte sie sich einen anderen Platz, um weiter zu trampen.
Als sie gestartet war, wusste sie noch nicht, wohin sie kommen wird. wie ein Blatt im Wind. Sie hielt einfach ihren Daumen zur Straße hinaus, fuhr nach dort, wohin das Auto sie mitnahm, So machte sie es mit dem nächsten und dem nächsten… und nun war sie irgendwo nahe Miami. Dann erinnerte sie sich an ihren Großvater, hoffentlich fühlt er sich nicht alleine. Sobald sie in der Stadt ist, will sie ihn gleich anrufen, dachte Jasmine.
Als sie klein war, dachte sie oft an ihre Mutter. Sie stellte sich ihre Hände vor, wie sie ihr durchs Haar fuhren, während sie ihren Kopf im Schoß hielt. Nach der Geburt ist sie durchgedreht und heute vegetierte sie in irgendeiner Nervenheilanstalt dahin. Doch ihr  Großvater zog Jasmine auf. Er brachte ihr das Wichtigste bei, was es über das Leben zu wissen gab. Und er hat sie ziehen lassen, damit sie sich ihren großen Traum erfüllen kann. Ihren Traum, über den alle, ihre Lehrer, ihre Mitschüler lachten; alle außer ihrem Großvater. Sie wollte die Bretter, die die Welt bedeuten, erobern. Wie einst Tupac oder Left Eye wollte sie Menschen wachrütteln und Rapperin werden.
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als endlich ein Auto anhielt. Ein Mann, der ganz alleine im Auto saß, nahm sie mit. Als sie Miami erreichten, entfaltete sich ein tanzendes Lichtermeer vor ihr. Wie diese falschen Sterne würde sie bald leuchten. Ein Star zu sein, bevor sie zum Stern wurde. Das war ihr Traum.

No money, no family
Sixteen in the middle of Miami
No money, no family
Sixteen in the middle of Miami
No money, no family
Sixteen in the middle of Miami...

Sie summte diesen Song von Iggy Azalea vor sich hin, als sie ausgestiegen war. Wie diese Lieblingsrapperin von ihr war sie weg von ihrer Familie und in der Mitte Miamis gestrandet. Doch ein bisschen Geld hatte sie noch von ihren Jobs als Babysitterin übrig, genug für einen Monat Hotel und Essen. Sie klingelte an der Glocke einer Unterkunft, die schäbig genug aussah, bezahlte 25 Dollar im Voraus, ließ sich auf die superweiche Matratze fallen und fiel in einen traumlosen Schlaf.
Am nächsten Tag sah sie, dass im Hotel ein Flyer einer Beachbar aufgeschlagen war, die eine Bedienung suchten. Sie stellte sich vor und bekam den Job: das Schicksal war auf ihrer Seite!

Draußen schien schon die Sonne. Bald würde sie anfangen; die Beachbar - die nicht mehr als ein Kiosk war - aufsperren, die Plastiktische davor abwischen, Kannen voller Kaffee machen. Als erstes würden die älteren Männer kommen, mit ihren Angelruten. Dann alle anderen.
Sie liebte diese einsamen, ersten Stunden. Jeder Morgen war rein, neu, ein Versprechen ohne Vergangenheit und ohne Zukunft.
Und sie hatte nicht nur einen Job gefunden. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie so etwas wie Freundschaft kennengelernt. Hier lachte niemand über ihren Traum. Hier verfolgte jeder seinen eigenen. Gemeinsam gingen sie fort, machten Musik und nahmen Drogen. Und Jasmine wollte ganz eintauchen in ihr neues Leben. Und deshalb sagte sie eines nachts ja, als sie in einem Elektroclub waren und Franc ihr ein Ecstasy anbot.
Als seine Wirkung sich entfaltete, waren ihre Pupillen groß und schwarz. Aber sie lachte, tanzte und fiel ihren Freunden in die Arme. Die Nacht verging wie im Flug. Irgendwann saßen sie alle draußen auf einem großen Parkplatz. Neben ihnen waren viele andere junge Leute. Und Jasmine hatte sie alle gerne, die sie da redeten oder mit still auf den Boden gerichtetem Blick ihre Zigaretten, ihre Joints rauchten. Dann legten sich zwei große, starke Arme um sie. Sie steckten in einem flauschigen Shirt, gehörten zu einem älteren Jungen aus L.A., der ihr von Bandenkriegen, Waffen und toten Freunden erzählte.
Er wollte sie nur ein bisschen halten, nicht mehr. So blieben die Beiden und warteten auf den Sonnenaufgang, glücklich aneinandergeschmiegt wie Kinder, die sich nur ein bisschen wärmen.


Eine Woche nach dem Clubbesuch kam sie mit Franc zusammen. Eigentlich war er nicht ihr Typ. Aber eigentlich wusste sie auch nicht, wer ihr Typ war.
Franc war Jazzmusiker und Maler, verdammt gutaussehend und drogensüchtig. Anfangs beneidete ihn Jasmine ein wenig, weil er schon von seiner Kunst leben konnte, während sie immer noch als Kellnerin arbeiten musste. Doch das legte sich schnell. Spätestens als sie zum ersten Mal mit ihm schlief, wollte sie auch ihn leuchten sehen, wie diese falschen Sterne. Und er führte sie nicht nur in die Welt der Liebe und Sexualität ein, sondern auch in die des Rausches.
Bald schon hatte sie alle Drogen durchprobiert. Sie mochte Koks, es machte sie groß. Aber ihre Liebe war – the deep blue sea - das Heroin. Es ließ sie nicht träumen, sondern sehen. Es war so, als wäre sie wieder ein Baby, neugeboren, geliebt, als würde sie die Welt zum ersten Mal sehen, wie sie wirklich war.
Und sie hatte ein neues Ziel. Gemeinsam mit Franc sparte sie das Geld, das sie nicht für Essen, Unterkunft oder Drogen ausgab, für Las Vegas – die Stadt der Träume. Franc wusste nämlich, dass sie dort ganz groß werden würden.

Sie wachte auf...in diesem gottverdammten, billigen Motel in Vegas. Ihr Kopf schmerzte, gleich wie ihre Glieder. My dreams are fading, hämmerten ihre Gedanken. Aber sie wusste, es machte keinen Sinn, zu Stift und Papier zu greifen. Sie war leer, leerer als die Wüste Nevadas.
Als sie nach Miami gekommen war, war ihr Kopf voller Träume gewesen. Jetzt wollte sie nur noch wissen, wann sie zu ihrem nächsten Schuss kam.
Es schneite und das war wie ein Wunder, denn in Vegas konnte es nicht schneien. Der Schnee ließ sie an Kansas denken, an ihren Großvater, der noch nie in einem anderen Bundesstaat gewesen war – und trotzdem glücklich war.

Jasmine wanderte durch Las Vegas, dieses Paradies der Träume, das im Schnee noch mehr glitzerte. Sie war umgeben von Menschen, die wie sie waren, als sie von zuhause weg ging. Menschen, die mit ihren normalen „nine to five“ Leben nicht zufrieden waren. Die mehr wollten, immer mehr, nie genug hatten. Und zum ersten Mal seit langer, langer Zeit fragte sie sich, was sie wirklich wollte. Freiheit, hämmerte ihr Kopf, doch dann flüsterte es in ihr, ganz leise nur, so wie das Herz sprach: Liebe.
Und auf einmal wünschte sie sich bei ihrer Mutter zu sein und bei ihrem Großvater. Sie hatte ihre Mutter nicht mehr besucht, seit sie elf war. Und ihr Großvater, der seine Tochter oft besuchte, hatte sie nie gezwungen, mitzukommen. Sie wusste nun, wohin sie wollte: dahin zurück, wo ihre Familie auf sie wartete.

Als Franc wieder in ihr Motelzimmer kam, fand er keinen Star vor, keinen falsch leuchtenden Stern. Jasmine war nur eine weitere Fußnote in einer regionalen Zeitung, ein weiteres Mädchen, das sich ihren "goldenen", den letzten Schuss gesetzt hatte. Doch niemand wusste,

sie hatte gelächelt, als sie zum Stern wurde.


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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (13.12.21, 15:32)
Dein Text spricht mich sehr an. LG

 Pearl meinte dazu am 13.12.21 um 15:37:
Danke, lieber AZU20.  Aber ich mag ihn auch :)

Liebe Grüße
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