Der Besuch

Text zum Thema Alter

von  logistika

Es ist jetzt knapp ein Jahr her.

Da bekam ich Besuch.

Ein unliebsamer Gast.

Ist immer noch da.

Lächelt, wenn ich das schreibe,

sagt, ach, ich bin doch schon lange

da.

Ignoriert hast du mich.

Nicht gemocht

Mich schlecht behandelt.

Schlecht behandelt?

Wie das, wenn unbemerkt

du kamst.

Eingeschlichen heimlich.

Unerwünscht.

Non grata.

Du warst gar nicht da.

Nun sitzt mein Gast an meinem

Tisch.

Ihn hinaus zu werfen ging nicht.

Was dann tun?

Akzeptieren.

Mit ihm leben.

Ihn gar schätzen und mögen.

Das geht.

Es braucht Zeit.

Aber es geht.


Nun sitzen wir täglich beieinander.

Und ich lerne ihn jeden Tag ein

bisschen mehr kennen.

Meinen Gast.

Das Alter.



Ein sanfter Gast.

Lächelt viel.

Weiß, dass so gar nicht

willkommen.

Hat Freunde.

Den Sturm, das Gewitter, das

Erdbeben.

Die Krankheit.

Allesamt unwillkommen im Leben

der Menschen.

Immer sind die Angst ihr Begleiter,

die Unbilden,

die Verheerung,

das Unbequeme,

das sich Stellenmüssen,

das Händeln.

Allesamt unveränderlicher Fakt.

Wenn es da so sitzt an meinem

Tisch,

erlebe ich es, das Alter.

Es ist freundlich, wenn man es

freundlich behandelt.

Selten wird es freundlich behandelt.

Wird unschuldig bestraft mit

Lieblosigkeit

und Verachtung.

Wird als lästig beschrieben.

Wird wegbehandelt.

Mit Vitaminen, Botox, dem Messer.

In Jahreszahlen verleugnet.

Niemand schenkt im Willkommen.

Niemand spricht über das Alter gut.

Wie lebt man damit, dass man so

lästig ist,

so unbeliebt.

Frage ich.

Es lächelt.

Liebst du mich?

Ob ich das Alter liebe?

Was für eine Frage.

Nun sitzen wir schon fast ein Jahr

beieinander.

Und ich fange an, es zu mögen.

Sein sanftes Lächeln.

Seine Unvermeidlichkeit.

Seine Geschenke.

Jeden Tag wickelt es ein anderes

Geschenk aus.

Sanftheit, Klugheit, Wissen, Demut,

Dankbarkeit

und Humor.

Neulich lachten wir so herzlich.

Als das Alter sich vom Stuhl erhob.

Und stöhnte.

Weil es das Alter so spürt.

In den Knochen.

Weil es vergessen hat, Milch

einzukaufen,

die nicht auf dem Zettel stand.

Weil ich dreimal fragen musste, ob

es noch einen Kaffee möchte.

Was hast du gesagt….


Hand in Hand stapfen wir die

Treppe hoch.

Oben angekommen beteuern wir,

war gar nicht so schlimm.

Immer wieder flüstert es mir etwas

ins Ohr,

das mich ruhig, gelassen macht

und lächeln lässt über Ärger und

Empörung.

Über Eifer und Sucht nach

Anerkennung.

Über die Irrwege der Menschen.



Denn das Alter lehrt aus dem Buch

des Lebens.

Das Unbekannte der Jugend

wandelt es in Wissen.

Oft sitzen wir am Tisch, das Alter

und ich,

in süßer Wehmut und Sehnen nach

noch einmal Minuten im

Vergangenen.

Noch einmal erleben dürfen…

Das Alter schweigt in liebevollem

Verständnis.

Jeden Tag wird es mir vertrauter.


Ich glaube,

es ist der Beginn einer

wunderbaren Freundschaft.



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Kommentare zu diesem Text


 Redux (26.04.23, 16:39)
Ich denke, dass es der Idealfall ist, wenn man diesen Gast zum frei gewählten Termin ins Haus lässt, ihn als Freund gewinnt und eine Freundschaft mit ihm pflegt.
Er kommt ja doch, so oder so, und nichts ist schlimmer, als ihn zu ignorieren oder gar zu hassen. Das funktioniert nicht.

 logistika meinte dazu am 28.04.23 um 08:05:
@ Redux

Ja, es ist die bessere Entscheidung, diesen Gast in das eigene Leben zu integrieren. Schon alleine deshalb, weil es keine bessere Wahl gibt....Dieses Thema scheint nicht so gerne gelesen zu werden. Hm...

 Redux antwortete darauf am 28.04.23 um 08:19:
Es gibt Themen, die stets beliebt sind und eben Themen, die stets verdrängt werden und permanent als nicht aktuell angesehen werden....und doch gehören sie unwiderruflich zum Ganzen.
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