Altersautismus

Ansprache zum Thema Alter

von  Graeculus

2Q==


Ezra Pound (1885-1972), Dichter, zeitweilig wie James Joyce und Samuel Beckett in Frankreich lebend und mit ihnen befreundet.

Du warst einst ein Säugling
mit einem Urvertrauen
und glücklich,
auf den Arm genommen
und an die Mutterbrust gelegt zu werden.
Es ist verloren, das Vertrauen,
und im Alter
hast du dich zurückgezogen
in Mißtrauen, Verschlossenheit, Distanz.
Was im Leben hat dich so werden lassen?
Waren es die Wochen im Drahtkäfig bei Pisa?
Die Jahre in der Psychiatrie in Washington, D.C.,
weil man einen weltberühmten Dichter
nicht hinrichten wollte?


Z


Du mußt wissen und du wußtest,
daß das nicht verziehen wird,
nicht leicht oder gar nicht:
Landesverrat und Faschismus.
Ist dein Leben ein gescheitertes?
Ich weiß es nicht.
Doch einmal sollst du noch zu Wort kommen:


ende Januar

                                      Kerker

                                 Domenica [Sonntag]

 

seelische Folter

Verfassung eine Religion

eine Welt verloren

graue Nebelbarriere undurchdringlich

          Ignoranz absolut

                     anonym

Vergeblichkeit dessen was hätte sein können

zusammenhängende Bereiche

       ständige

                Einbrüche darin

 

                      aiuto [Hilfe]

 

                                Pound



Z


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Kommentare zu diesem Text


 Mondscheinsonate (23.01.24, 02:02)
Du, ich gestehe, ich verstehe den Text nicht.

 Graeculus meinte dazu am 23.01.24 um 11:24:
Die Schwierigkeit ist bewußt eingebaut.
1. Das Werk dieses Trios Joyce-Beckett-Pound glänzt nicht durch leichte Verständlichkeit.
2. Ich habe mir gedacht, daß auf diese Weise beim Leser die Situation erzeugt wird, mit der der späte Pound es zu tun hatte: das Gefühl, von niemandem verstanden zu werden.

Es ist auffallend, daß Joyce und Beckett ihren Platz in der Literaturgeschichte sicher haben, während Pound weitgehend aus dem kulturellen Gedächtnis verdrängt worden ist: Er ist halt der Böse, der Landesverräter und Faschist.

Ein wenig hilft in dieser Situation Wikipedia, wo Pound es immerhin zu einem Artikel gebracht hat. Dort ist auch von dem Käfig die Rede, in dem ihn die Amerikaner nach seiner Festnahme wochenlang ausgestellt haben, ebenso von dem Zwangsaufenthalt in der Psychiatrie.

Zu den Photos:
- Das erste Bild soll den Rückzug, den Autismus des alten Mannes anschaulich machen - wie auch die wiedergegebene Notiz dazu verdeutlicht.
- Das zweite Bild ist die Aufnahme für die Verbrecherkartei in den USA.
- Das dritte Bild finde ich rührend: Der alte Mann besucht den alten Freund auf dem Friedhof, und es hat den Anschein, als ob sie einander ansähen, Pound und Joyce.

Wie Joyce die Odyssee für das 20. Jhdt. schreiben wollte, so wollte Pound in seinen Cantos der Dante dieses Jahrhunderts sein.

Antwort geändert am 23.01.2024 um 11:26 Uhr

 Graeculus antwortete darauf am 23.01.24 um 11:30:
Ich habe mal als Versuch 30 Leuten (Schüler, klar) den folgenden Pound-Text (eine Analogie zu Dantes Inferno) vorgestellt, ohne irgendetwas zum Verfasser zu sagen:

Io venni in luogo d’ogni luce muto;
Dumpfige Kohle, kellerklamm, Politiker –
Soundso mit Soundso recken den blanken Steiß,
Handgelenke an Fersen geschnürt,
Fratzen aufs Sitzfleisch gemalt,
     Glotzaug auf Schlotterbacke,
Schamhaare zum Bart,
     dröhnend –
     die Großkundgebung aus dem Afterloch;
Die Botschaft an die Massen im Dicksaft,
     Lurche, Nacktschnecken, Gewürm;
Und Soundso auch dabei,
     ein tipptoppes Mundtuch
Unter den Penis gesteckt;
     und Soundso,
Der die Umgangssprache nicht mochte,
Stehkrägen, steifleinen doch kotig,
     um seine Beine geschlossen,
Die behaarte, picklige Schwarte
     wulstet überm Kragenrand;
Schlotbarone schürfen Blut, mit Schiß geschmälzt,
Hinter ihnen stehen Soundso und die Hochfinanz,
     und peitschen sie mit ihren Kabeln.
 
Die da die Sprache verraten
     Soundso und das Zeitungspack
Und wer sich zur Sprachreglung verdingt hat;
Die da die Sprache verklemmen, die Verklemmten,
     und wer die Geldlust gestellt hat
Vor die Freuden der Sinne;
Geschrille, ein Hühnerhof in der Druckerei,
     das Rattern der Pressen,
Schwaden von trockenem Staub, von papiernem Abfall,
benehmender Gestank, Schweiß, Orangen im Kahm,
Kot, letzte Senkgrube auf der weiten Welt,
Mysterium, schweflige Säuren;
die Knechtseligen, knirschend,
tunken Edelsteine in Modder,
     und schäumen, sie lupenrein zu erfinden;
Sadische Mütter betten ihre Töchter zum Greisenbrand,
Säue, die den eigenen Wurf fressen;
Und hier das Plakat ΕΙΚΩΝ ΓΗΣ
     und hier: BELEGSCHAFT WIRD ABGELÖST.

Danach habe ich gefragt: Was meint ihr, ist der Verfasser ein Linker oder ein Rechter?
Alle (!) antworteten: ein Linker. Gesellschaftskritik, Kapitalismuskritik, ein klarer Fall.
Es war aber Ezra Pound, der Faschist.

Antwort geändert am 23.01.2024 um 11:31 Uhr

Antwort geändert am 23.01.2024 um 11:32 Uhr

 Graeculus schrieb daraufhin am 23.01.24 um 11:33:
Das Griechische kriege ich nicht hin: Da muß ΕΙΚΩΝ ΓΗΣ stehen: Bild der Erde.

 Graeculus äußerte darauf am 23.01.24 um 11:38:
Letztlich, so fürchte ich, bleibt allen sensiblen Menschen nur die Tucholsky-Treppe:


 Mondscheinsonate ergänzte dazu am 23.01.24 um 12:26:
Hmm, als Joycianerin sollte ich Zugang haben, aber irgendwie echt nicht. Aber, Danke für deine Erklärungen!

 Graeculus meinte dazu am 24.01.24 um 16:19:
Das macht ja nichts. "De gustibus ..."
Aber hat Dir nicht wenigstens das Bild des alten Mannes gefallen, der seinen alten Freund auf dem Friedhof besucht? Wie sie einander anschauen ...

 AchterZwerg (23.01.24, 06:29)
Kann ein Irrweg verziehen werden?
Kommt darauf an.

Ändert das "falsche Leben im richtigen" (verballhornter Adorno) etwas an der Qualität der Texte eines Schriftstellers?
Meine Antwort lautet: nein!

 Graeculus meinte dazu am 23.01.24 um 11:36:
Mit dieser Einstellung habe ich kein Problem. Zumal Pound zwar Faschist war, aber einer in der italienischen Version, also ohne Antisemitismus.
Kritischer ist in dieser Hinsicht schon Louis-Ferdinand Céline.

 Dieter Wal (23.01.24, 12:15)
In der Bibliothek meines Vaters befand sich ein Englisch-Deutsches Auswahlbändchen Pounds aus den 50ern. Meine Eltern schenkten mir ein weiteres antiquarisches zum Abi auf dem zweiten Bildungsweg, worüber ich mich sehr freute. Ich finde Pounds Werk total genial mit seinen Graecizismen und Verwendungen chinesischer Begriffe. "Altersautismus", um seine Gebrochenheit zu bezeichnen, welche er nach seinen brutalen Martyrien der Amerikaner erlitt, die ihm seine Tätigkeiten als Propagandist für Mussolini übelnahmen, ist eine in meinen Augen passende Metapher, um sein "Mißtrauen, Verschlossenheit und Distanz" im Alter auf den Punkt zu bringen. Vielleicht war er ja tatsächlich bereits früher Asperger-Autist? Darüber kann nur gemutmaßt werden. Falls ja, dann ein äußerst ungewöhnlicher und literarisch hypergenialer. Das Phänomen wurde erst zu Pounds Zeiten in USA von Dr. Kanner und Österreich Dr. Asperger erforscht und benannt. Doch auch seine politischen Ansichten und offensichtlichen Unfähigkeiten, deren Monströsitäten auf sozialer Ebene nachzuvollziehen (fehlende kognitive Empathie) könnten dazu passen. Es gab für mich eine Versöhnung Pounds mit Amerika, als uns ein amerikanischer Native-Speaker an Samstagen der Abendschule unterrichtete. Er arbeitete sonst für die amerikanische Armee in Nürnberg, um die Soldaten in ihrer Freizeit zu begleiten. Seinen Unterricht durften sämtliche Schüler aller Klassen freiwillig besuchen. Es war eine bunte und lustige Truppe. Der Lehrer war super. Spinner wie mich, die ihm ein Gedicht Pounds gaben, damit er es im Unterricht besprach, nahm er dankbar auf. Das Gedicht schien auch ihm sehr zu gefallen. Und wir Schüler sogen eh jedes Wort von seinen Lippen auf und diskutierten eifrig.

Kommentar geändert am 23.01.2024 um 12:43 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 24.01.24 um 16:21:
Ich dachte mir schon, daß wenigstens Du - belesen wie Du bist - Ezra Pound kennst.
Wie es um sein Ansehen heute in den USA steht, weiß ich ebensowenig wie, ob er schon vor Kriegsende autistisch war; das ist schwer zu sagen ohne eine ärztliche Diagnose.
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