Rezension zu Dan Gilroys Film “Nightcrawler” – ein charmanter Soziopath (05.05.2023)

Rezension

von  Hamlet


Gestern habe ich zum dritten Mal Dan Gilroys Film Nightcrawler (2014) gesehen. Von Jake Gyllenhaal gespielt entwickelt sich der kleinkriminelle, soziopathische Einzelgänger Louis Bloom (auch Lou genannt) durch autodidaktisches Lernen zu einem erfolgreichen Nightcrawler, der auf der Jagd nach sensationellen Aufnahmen von Unfällen und Gewaltverbrechen nicht nur sein eigenes, sondern auch das Leben der anderen riskiert. Auf seinem Weg nach oben erpresst er sich eine sexuelle Beziehung von der Direktorin eines Fernsehsenders für Morgennachrichten. Zum Schluss opfert er sogar seinen ihm lästig gewordenen Assistenten Rick (von Riz Ahmet gespielt), um von der finalen Verfolgungsjagd noch aufregenderes Filmmaterial zu erlangen. Am Ende des Films wird dieser soziopathische Chameur als Chef einer vierköpfigen Nightcrawler-Crew gezeigt. 

 

 Im Folgenden konzentriere ich mich nicht auf die gesellschaftlich-kapitalistischen Voraussetzungen oder auf die Mitschuld der voyeuristischen Nachrichten-Rezipienten. Es ist bekannt, dass die Nachfrage nach drastischen Unfall- und Tatortaufnahmen die Konkurrenz zwischen den Nachrichtensendern maximiert, wodurch solche Nightcrawlers überhaupt erst möglich werden, da sie eine gutbezahlte Chance sehen, sich beruflich zu verwirklichen. Vielmehr interessiert mich der Charakter dieses Antihelden. Louis Bloom ist ein etwa  dreißigjähriger, relativ glatter, charmanter und erfolgreicher Soziopath, der sich selbst als ein Arbeitstier von schneller Auffassungsgabe bezeichnet. Da Lou immer erfolgreicher wird, scheint er auch keinen Grund zu sehen, an seinem Charakter zu zweifeln. Zwischenmenschliche Kompromisse würden ihn nur abbremsen, zumal es fraglich ist, ob sich so ein Soziopath überhaupt um mehr Menschlichkeit bemühen kann.  Eine gewisse Skrupellosigkeit ist also neben seiner Glätte und seinem Charme schon eine Voraussetzung dafür, ein guter Nightcrawler zu werden. Im Folgenden analysiere ich aspektorientiert, wie sich Lou Blooms Charakter in seinen Beziehungen zu anderen Nightcrawlers, zu der Chefin eines Nachrichtensenders und zu seinem Assistenten zeigt und teilweise entwickelt. 

 

Zunächst zeigt Bloom als Amateur eine hohe Lernbereitschaft. Von erfahrenen Nightcrawlers schnappt Bloom das wesentliche Know-how auf, indem er sie gegen ihren Willen beobachtet, befragt, belästigt und belauscht. Am meisten scheint er jedoch von Nina Romina zu lernen, die eine recht attraktive, skrupellose Mittfünfzigerin und Chefin eines Nachrichtensenders ist. (Diese Rolle wird hervorragend von Rene Russo gespielt). Als Lou ihr anfangs eine drastische Amateuraufnahme zeigt, worauf ein Mann nach einer Schießerei verblutet, ist sie berauscht, erkennt sein Talent, sieht einen Gleichgesinnten und gibt ihm beiläufig Ratschläge zu einer besseren Ausrüstung. Bloom bleibt ihr anfangs gegenüber noch demütig und schafft es auch noch nicht, mit seiner Meisterin einen höheren Preis für seine Aufnahmen zu verhandeln. Als er sich aber schon nach kurzer Zeit weiterentwickelt hat, sein Equipment verbessert, den sogenannten Praktikanten Rick einstellt (zu dem wir noch kommen) und sich einen Sportwagen leistet, um schneller an die Tatorte und Unfallstellen zu gelangen, steigt auch sein Selbstbewusstsein in den Preisverhandlungen mit dem Nachrichtensender.  

 

Schließlich macht er sich unentbehrlich, wobei er schon bald auf Augenhöhe mit der zu befehlen gewohnten Chefin des Nachrichtensenders gelangt. Darüber hinaus erpresst er sich von ihr eine sexuelle Beziehung. Bloom erreicht eine Verabredung in einem Restaurant, welche Nina nur aus beruflicher Höflichkeit eingeht, um ihn mit seinen sensationellen Aufnahmen bei der Stange zu halten. Bemerkenswert ist die schauspielerische Leistung Gyllenhaals, wie er auch körpersprachlich vom lauernden, noch etwas demütig Lernenden zum selbstbewussten, erpressenden und befehlenden Herrn wird. Wirklich witzig ist es, wie sich das Machtverhältnis in dieser Restaurantszene schleichend umkehrt. Solange Nina den jungen Karrieristen gönnerhaft befragt, woher er denn komme, was er beruflich anstrebe; solange sie seine Frage nach einem zweiten Drink höflich abwinkt, wie die eines unbeholfenen Schuljungen; solange sie seine angedeuteten Liebesbedürfnisse in die Friendzone tröstet: “Ich hoffe, dass Sie so jemanden finden”; dominiert Nina das Gespräch.  

 

 Der Wendepunkt wird eingeleitet, als Lou sie zunächst indirekt und bald direkt erpresst, die Arbeitsbeziehung zu beenden, wenn sie nicht auch seine Freundin sein wolle. Autorität gewinnt unser Soziopath dadurch, dass er seine Männlichkeit steigert, indem er sie mit allen Fakten darüber beeindruckt, inwiefern Ninas eigene Karriere gefährdet sei, worüber er recherchiert habe. Dabei steigt er auch gestisch und mimisch empor, während Nina ihre Ausstrahlung von Gönnerhaftigkeit verliert. Blickte Bloom sie anfangs noch unsicher an, tastete er sich anfangs noch etwas ungeschickt um den heißen Brei herum und hatte er den Augen einer ihm überlegenen Dame entwaffnet ausweichen müssen; so verwandelt sich Bloom vom noch unsicheren knabenhaften Anfänger zu einem gleichrangigen Selbstständigen, der ihr anders, schärfer, doch nicht ohne Charme in die Augen sieht: anfangs noch kürzer, dann immer länger, während er seine Selbstsicherheit immer wieder durch entwaffnendes Lächeln und triumphierendes Lachen steigert. Nachdem Nina wiederholt versucht, von der Beziehungsebene auf die rein berufliche zurückzukommen, indem sie mittlerweile nervös geworden wiederholt: “Ja, wir wissen ihre Arbeit durchaus zu schätzen! […]” (vgl. Min 50f.), unterbricht sie der Nightcrawler wachen und ruhigen Blickes: “Hm, sie hören nicht zu, Nina […] (vgl. Min 52f.) und fährt fort sie noch deutlicher auf indirekte Weise zu erpressen. Hier wirkt das Soziopathische von Lou Bloom faszinierend, nämlich im jähen Übergang vom Knaben zum Herrn, vom Eingeschüchterten zum Einschüchternden, vom Charmeur zum Tyrannen – und dies in überzeugender Kongruenz zwischen Gesagtem und Ausgestrahltem. Letztendlich muss sie ihn mögen, weil er ihre Werte teilt, weil er darin begabt ist und weil er mit steigendem Selbstbewusstsein immer mächtiger und attraktiver wird. 

 

Nun komme ich zu seinem Assistenten Rick (von Riz Ahmet gespielt). Louis Bloom zeigt besonders ihm gegenüber ein glattes Verhalten. Dieses zeigt sich nicht nur in seinen nach hinten gegelten Haaren, sondern in seiner angeblichen Professionalität. Denn ganz zum Anfang stapelt Lou recht hoch, wenn er jemanden einstellen will, der ihm assistieren soll. Rick soll mit dem Handy während der Autofahrten die Richtung navigieren, auf das Auto aufpassen und an den Unfallstellen oder Tatorten mit einer zweiten Kamera folgen. Dazu findet sich der etwa Anfang dreißigjährige Rick in ein Café zu einem Vorstellungsgespräch ein. Rick ist derzeit obdachlos, wobei angedeutet wird, dass er notgedrungen auch angeschafft habe, um zu überleben. Jedenfalls musste ich in zwei bis drei Szenen zwischen Lous und Rick sehr lachen. Lou manipuliert den Unterlegenen und Abhängigen, spricht mit ihm wie ein großer Chef mit jahrelanger Erfahrung und bringt den naiven Rick immer genau dorthin, wo er ihn haben will. Zunächst lässt Lou es so aussehen, als sei es sehr schwer, diese Stelle zu bekommen, obwohl Rick insgeheim der einzige Bewerber ist. Als Rick ein Stein vom Herzen fällt, da er unerwartet den Job bekommt, erfährt er, dass es zunächst nur ein Praktikum sein soll, so wie es überall üblich sei, dass er aber nach einer Bewährungszeit gute Aussichten auf eine Vollzeitstelle habe. Da Rick in größter Geldnot ist, wendet er zögernd ein, dass er wenigstens ein wenig Geld brauche. Nach weiterer glattgeschliffener kurzer Belehrung gibt sich Bloom gönnerhaft und verspricht dem sympathischen Notleidenden als Einstiegsgehalt 30 EUR pro Nachtschicht, worüber sich Rick dann auch freut.  

 

Denn Lou manipuliert den Arbeitsuchenden, indem er mit einer raschen Fachsprache souverän auftritt und indem er suggeriert, dass sich Rick von jeweils zwei Möglichkeiten immer die beste erstritten habe. Gleichwohl wird Lou ihm zunächst ein echter Mentor, von dem Rick einiges über Einstellung, Disziplin und später Verhandlungstechnik lernt. Der Zuschauer wird an einigen Stellen zum herzlichen Lachen eingeladen, weil sich zwei so verschiedene Charaktere begegnen, von denen wir Lou Blum schon viel besser kennen, während ihn der naive Rick noch nicht einschätzen kann, dem sich der glatte, charmante Arbeitgeber noch als soziopathischer Perfektionist zeigen wird. 

 

Faszinierend und bedrohlich wie der junge Robert de Niro (etwa in Taxi Driver) wirkt Bloom durch seine vermeintliche Ruhe, aus der heraus er in seinen Forderungen hartnäckig bleibt, wobei er auch recht geschliffen spricht, sodass das Zwischenmenschliche zuweilen durch eine schwer zu durchbrechende Glätte unberührt bleibt. Das zeigt sich besonders in seiner asymmetrischen Beziehung zu seinem ihm unterlegenen Assistenten Rick. Diese Ruhe wirkt aber keineswegs müde und harmlos, sondern ist jederzeit explosiv, wie die eines Samurais, aus dessen Stille eine größere Kraft schwebt als die eines herumtänzelnden Boxers. Beispielsweise wird das in einer Szene mit seinem konkurrierenden Nightcrawler namens Joe deutlich, der Bloom zur Zusammenarbeit überreden will.  Als Bloom keinerlei Interesse zeigt, wird der kräftige und ruppige Joe körpersprachlich immer aggressiver, während Bloom furchtlos und ruhig bleibt, bis er an einer Stelle ausspricht, dass er ihn verachte und am liebsten verletzen würde, es jedoch aus arbeitspraktischen Gründen nicht tue und nur daher gehe: “Ich verspüre gerade den Wunsch, Sie an den Ohren zu packen und ihn’ ins Gesicht zu schreien: ,Ihr Angebot interessiert mich einen Scheiß’. Stattdessen fahre ich nach Hause und kümmere mich um die Buchhaltung.” (Vgl. Min 46f.) 

 

In einer anderen Szene (vgl. Min 132ff.) wird seinem Assistenten Rick die Arbeit zu gefährlich, sodass er es verweigern will, die in einem Café sitzenden Killer zu filmen, die Bloom am Vortag aus einem Gebüsch aufnehmen konnte, während die Täter von ihrem Tatort flohen. Als Blooms Mitarbeiter Rick den Befehl verweigert, bleibt der fanatische Nightcrawler äußerlich ruhig, während er dem Aufbegehrenden sehr glatt formuliert Gewalt androht und ihn, ohne zu blinzeln anstarrt, nachdem er seine rationellen Gründe über ihn hinweg ins Off monologisiert hat. Auf Rick wirkt diese latente Aggression unseres Soziopathen noch unheimlicher als die Gefahr durch die Verbrecher, die er filmen soll, sodass er widerstandslos seinem Tyrannen gehorcht. So wie beim jungen Robert de Niro ist auch Louis Blooms Ruhe hier die Bedrohung einer lauernden Raubkatze. 

 

 Einerseits ist er skrupellos und hat keinerlei Mitgefühl, sondern gebraucht seine Umwelt nur als Mittel für seine Zwecke. Andererseits beindruckt er auch, indem er zuweilen Gefühle zeigt, z. B. in der Restaurantszene gegenüber der Nachrichten-Chefin, wobei er zunächst eine gewisse Liebesbedürftigkeit, etwas Trotz bei ihrer anfänglichen Ablehnung sowie Melancholie über die Grundeinsamkeit ausgestrahlt hat. Durch seine Skrupellosigkeit strahlt aber auch eine gewisse Reinheit, durch die es manchem Zuschauer schwerfallen dürfte, ihn pauschal zu verurteilen. Diese (scheinbare) Reinheit macht ihn gewissermaßen sympathisch. Sie zeigt sich in seiner Unbekümmertheit, wodurch er seine gesamte Energie in sein Projekt steckt, ohne von Zweifeln gebremst und verdunkelt zu werden, wahrscheinlich ohne jemals schlecht zu schlafen.  Von sich selbst überzeugte Menschen sind i. d. R. auch überzeugender. Wer dagegen hohe humanistisch-moralische Ideale vorgibt, stahlt nach außen eine Bekümmerung aus, wenn er nicht verlogen ist, und den Willen zur Macht (Nietzsche) in sich gewahrt. Ein Faust mit seinen “zwei Seelen, ach […] in seiner Brust” verliert an Charme, den etwa aufgeweckte Kinder haben, die sich mit Selbstverständlichkeit verabsolutieren. Der Schauspieler Jake Gyllenhaal leiht dem soziopathischen Louis Bloom eine Reinheit im Sinne einer Unschuld, welche dadurch zustande kommt, dass er ein unbelastetes Gewissen hat, insofern es so aussieht, als könnte er nicht aus seiner Perspektive ausbrechen, aus welcher alle seine Forderungen und Handlungen moralisch gut aussehen. 

 

In gewisser Hinsicht könnte zugespitzt werden, dass, je weniger Schuld- und Schamgefühl einer hat, er an Charme gewinnt. Auch das macht manche aalglatte Sozio- oder Psychopathen wie etwa Patrick Bateman (von Christian Bale in American Psycho gespielt) oder hier Louis Bloom (von Jake Gyllenhaal gespielt) sympathischer als manche vielleicht kränkliche, introvertierte Miesepeter, die alles in sich reinfressen. Nicht grundlos wurde schon gesagt, dass viele, auch attraktive Frauen insgeheim durch charmante Sozio- oder Psychopathen erregt werden, wenngleich eine solche Beziehung nicht lange halten kann. 

 

 Hier denke ich auch an Nietzsches Vitalismus, wonach sich alles Wohlgeratene in unbeschwerter, möglichst ungehemmter Vitalität beweist, während das Missratene kränkelt, gehemmt oder ohnmächtig ist und folglich ein hässlich machendes Ressentiment, einen Neid entwickelt, durch welchen die Schwäche als Tugend umgewertet werde. (Vgl. Nietzsches Genealogie der Moral). Wie krankhaft eine solche Soziopathie auch sein mag, aus vitalistischer Perspektive ist sie sicherlich attraktiver als eine Depression. Denn dieser Soziopath verkörpert ein gesteigertes Leben, während einem Depressiven sein Leben unterdrückt, ja abgeschnitten wird. Nicht zu vergessen ist natürlich, dass der Charme nicht dem Soziopathen schlechthin, sondern den Ausnahmen unter ihnen sowie den vortrefflichen Schauspielern wie einem Robert de Niro, einem Christian Bale oder eben einem Jacke Gyllenhaal geschuldet ist. 

 

Auf gewisse Weise ist Lou Bloom sogar moralisch, wenn die Minimaldefinition besagt, dass das Wesen der Moral in der logischen Konsequenz liege. Während verlogene Menschen ihre Schwäche als Tugend umdeuten und von Menschlichkeit sprechen, würden die meisten von ihnen im Notfall nicht für ihre Werte einstehen, um einer Gefahr zu entkommen. Dagegen ist Lou insofern moralischer, als dass er seinen Werten treu bleibt. Zum Schluss des Films hält er als Chef vor seiner vierköpfigen Crew eine Motivationsrede und überzeugt durch das Argument, dass er ihnen nichts abverlange, was er nicht auch selber tun würde. Und dass er sich täglich in Lebensgefahr begeben hat, wird im gesamten Film gezeigt, indem er über rote Ampeln rast, indem er in ungesicherte Tatorte eindringt, indem er sogar Killer stalkt und filmt (vgl. Min 102f.). Weil also Bloom seinen Werten treu bleibt und die Folgen auch auf sich bezieht, hat er eine Moral. Denn er befolgt die Goldene Regel: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu. Um Bernhard Buebs Autoritäts-Definition (vgl. Lob der Disziplin, 2006) auf Bloom anzuwenden, hätte er auch eine natürliche Autorität, insofern er erstens eine moralische Integrität, zweitens Fachkompetenz und drittens Charisma ausstrahlt, wie bis hierher erläutert worden ist. Und natürliche Autoritäten sind attraktiver als verlogene Gutmenschen ohne Autorität. 

 

Interessant ist vielleicht noch, dass manche hochbegabte Soziopathen für gewisse Berufsgruppen privilegiert sind. Oftmals reicht es zum Erfolg nicht aus, nur fleißig, talentiert und am Geld interessiert zu sein. Vielmehr gehört eine Obsession dazu. Hier offenbart sich Bloom der Direktorin Nina, dass das Warum-man-etwas-tut mindestens genauso wichtig sei, wie das Was-man-tut. Wer skrupellos und sensationsgeil ist, wird auf natürliche Weise in einigen Berufen erfolgreicher sein. 

 

Obwohl der Film Nightcrawler an vielen Stellen auch Humor aufweist, kann er verstören, weil es die Erfolgsgeschichte eines Soziopathen ist; weil nicht märchenhaft gezeigt wird, dass das Human-Gute belohnt und das Asoziale bis Unmenschliche bestraft werde. Insofern kann der Film von manchen Soziopathen zur Nachahmung gefeiert werden, während aber die allermeisten auf der Hut sein werden, Empörung empfinden und wie bei einer Tragödie sich zur moralischen Selbstkritik ermahnt fühlen. 

 

Aber was sollte kritisiert werden (abgesehen von einer inhumanen Moral, worüber oben gesprochen worden ist), wenn das Verhalten erfolgsversprechend ist? Freilich spricht trotz Erfolgsgeschichte dieses Soziopathen etwas gegen seinen Charakter, nämlich die Einsamkeit. Viele Menschen gehen Kompromisse nur deshalb ein und unterdrücken ihren inneren Tyrannen, weil sie diese Einsamkeit nicht aushalten. Viele bevorzugen Notgemeinschaften, sei es partnerschaftlich oder unter Kumpanen. Dagegen wirkt unser Antiheld sehr erfrischend, insofern er sich selbst genügt, insofern er sein Selbstbewusstsein nicht abhängig von Freunden, der Familie oder einer echten Geliebten macht. Jedenfalls weiß Bloom genau, was er will. Und er ist so besessen von seiner Arbeit, dass ihm vorerst nichts fehlt, solange sein Erfolg wächst. 

 

 Andererseits hat er in Nina Romina eine Gleichgesinnte gefunden. Obwohl er sich anfangs die angedeutete sexuelle Beziehung mit der sensationsgeilen Direktorin nur erpresst hat, da Bloom seine Aufnahmen sonst der Konkurrenz verkauft hätte, findet sie zunehmend Interesse an dem glatten, erfolgreichen, gleichgesinnten Soziopathen. Und vielleicht ist auch das ein Merkmal der Sozio- und Psychopathie, dass durch Vereinsamung keine Schwächung erfahren wird und man daher viel weniger gehemmt ist, seine Machtwünsche durchzusetzen, als wenn man aus Furcht vor sozialem Ausschluss Kompromisse eingeht.   

 

Der Einwand, dass Bloom nur oberflächlich mit wenigen Gleichgesinnten verkehre und es ihn dauerhaft nicht befriedigen könne, nur eine quasi geschäftlich-sexuelle Beziehung mit der Direktorin des Nachrichtensenders zu haben, trifft auf Bloom wahrscheinlich nicht zu, insofern er nicht nach Liebe, sondern nach Macht und Sensations-Lust strebt, wozu auch nur geschäftlicher oder erpresster Sex hinreichen würde. Wäre Bloom dagegen ein Narzisst und wollte er mehr geliebt werden, als er die anderen überhaupt lieben kann, so müsste er noch viel mehr unter seiner Einsamkeit leiden. Er ist aber ein glatter, hochbegabter, charmanter und erfolgreicher Soziopath. Wer sich nicht in die Gemeinschaft integrieren will und kann, weil er nichts von gleichen Rechten wissen will, weil er sich vielleicht vitaler als die meisten fühlt, wird i. d. R. die Vereinsamung ernten. Ob aber die Einsamkeit erträglich wird, hängt auch davon ab, ob man eine sozio- oder gar psychopathische Veranlagung hat und ob man vortrefflich genug ist, sich zur einsamen Spitze zu erheben, sodass man nicht mehr nach unten, sondern nach oben hin isoliert ist und wenigstens Macht genießt, indem andere etwas für einen tun.  

 

Meine Rezension ist kein Plädoyer für die Soziopathie, zumal die wenigsten Soziopathen erfolgreich sind. Denn den meisten fehlt der Garant zum Erfolg, nämlich eine überdurchschnittliche Vitalität, großer Mut, Intelligenz und Charme.  Vielmehr haben mich Filme mit den Ausnahme-Soziopathen fasziniert wie etwa Travis (mit Robert de Niro in Taxidriver), wie etwa Rupert Pupkin (mit Robert de Niro in King of Comedy), wie etwa Tom Ripley (mit Matt Damon in Der talentierte Mr. Ripley), wie etwa Jeff Costello (mit Alain Delon in Der eiskalte Engel), wie etwa Luis Bloom (mit Jake Gyllenhaal in Nightcrawler) - um nicht alle Meisterwerke aufzuzählen. Alle diese Protagonisten haben etwas Dämonisches, das sie in ihr Schicksal treibt. Alle haben etwas Tragisches durch ihre Fallhöhe. Alle haben etwas Unschuldiges durch ihren Charme. Allesamt sind groß in ihrer Einsamkeit, sind unverwechselbar, lehren uns Mut, lehren uns Sterben, sind einsame Spitze. 



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (05.05.23, 10:50)
Mittelteil etwas arg langatmig. Du ziehst da reale Schlüsse aus fiktiven Darstellungen, das funktioniert nicht.
Ansonsten gerne gelesen.

 Hamlet meinte dazu am 06.05.23 um 11:10:
Hallo Dieter, ich habe wenige Stellen überarbeitet, während ich den Text nochmals auf die Langatmigkeit gelesen habe. 

Nun, zöge ich reale Schlüsse aus einem James-Bond-Film, müsste ich Dir Recht geben, dass dies vergeblich wäre, um Erkenntnisse über die Wirklichkeit zu erlangen.

Ich denke aber, dass viele große Filme dem poetischen Realismus nahestehen (wenn ich den Begriff von der Literatur entlehnen darf).

 Darunter verstehe ich, dass die Realität neu verdichtet wird, dass sie so komponiert wird, wie man sie in der Realität i. d. R. nicht auf einen Schlag beisammen hat.

 Wenn z. B. eine reißerische Szene nach der anderen gezeigt wird, zeigt sich dennoch das Charakteristische. Der soziopathische Charakter von Louis Bloom ist selten, aber durchaus möglich, und zwar in vielen Chefetagen. 

Oder?

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 06.05.23 um 11:30:
Nun ja, du berufst dich damit auf das Prinzip der Mimesis, was durchaus zutreffend ist, aber deine Ausführungen gehen darüber hinaus.

Und vielleicht ist auch das ein Merkmal der Sozio- und Psychopathie, dass durch Vereinsamung keine Schwächung erfahren wird und man daher viel weniger gehemmt ist, seine Machtwünsche durchzusetzen, als wenn man aus Furcht vor sozialem Ausschluss Kompromisse eingeht
.

Das scheint mir aber doch übers Ziel hinausgeschossen...

 Hamlet schrieb daraufhin am 06.05.23 um 12:06:
Ja, das ist vielleicht auch der einzige originelle Gedanke. Vielleicht ist er falsch. Er ist jedenfalls eine Deutung über die Analyse hinaus, wo es immer falsch und peinlich, oder interessant werden könnte.

Oder?
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