Ein Versuch über das Faszinierende in Gangster-Epen (Warum ich die Maffia-Serie 4 Blocks gucke) (April 2021)

Rezension

von  Hamlet

Die edelsten Seelen werden, wenn sie eine schlechte Erziehung finden, zu den allerschlechtesten. Oder glaubst du, […] die großen Verbrechen und die vollendete Schlechtigkeit [haben] einen Schwächling zum Urheber, und nicht eine jugendstarke Natur, die durch die Erziehung verdorben wurde, während Schwächlinge nie etwas Großes im Guten oder Schlechten getan haben? 

(Platon. Der Staat. Reclam. 2015, S. 298) 

 

 

Assoziationen nach der ersten Staffel 

Es wird oft gesagt, dass gute Serien süchtig machen. Obwohl ich sonst nie welche sehe, habe ich mich auf 4 Blocks eingelassen, eine Maffia-Serie über die Clanstrukturen in Berlin. Gestern kam es dazu, dass ich an einem Tag gleich die gesamte erste Staffel sah und mich mit Gewalt entschließen musste, um nach Mitternacht nicht noch die zweite zu beginnen. Aber was hat mich so fasziniert? 

4 Blocks erfreut durch die Authentizität der Darsteller, die mich teilweise an frühere Kameraden erinnern (wenn auch eher aus der Ferne); durch die Bilder meiner eigenen Stadt Berlin; durch die Werte, über welche ich nachdenke; durch die nun auktoriale Perspektive, besonders durch den großen Konflikt elitärer Vortrefflichkeit mit dem ins Verderben führenden Bösen. 

 

Ein elitäres Potential 

Ich habe schon früher gerne romantisierte Mafia-Filme gesehen wie Der Pate, GoodFellas und Scarface. Dagegen hat mich der realistische Maffia-Film Gomorrha nicht begeistert, da er nur die Hölle zeigt, ohne anzudeuten, wodurch uns alles Große, auch das große Böse, in seinen Bann zieht. Es sind Charakter-Werte, die auch im großen Guten zu finden sind, wie etwa Vitalität, Mut, Macht und Liebe.  

Obwohl es verschiedene Systematisierungsmöglichkeiten gibt1, habe ich diese vier Werte ausgewählt, weil sie mein eigenes Leben beschäftigt haben und allgemein genug sind, dass sie jeder selber konkretisieren kann. Ferner nenne ich sie Charakter-Werte, insofern sie an die Persönlichkeit gebunden sind; es sind also Seins-Werte, die ich betone, da die Habens-Werte wie etwa Geld, geiler Sex und andere Abenteuer daraus folgen können. 

Allerdings ist der Wert der Macht eine Mischung aus Seins- und Habens-Wert, insofern auch sprachlich beides gesagt werden kann: Man ist mächtig und man hat Macht. Macht interagiert zwischen Subjekt und Objekten, während sich etwa die Vitalität allein im Subjekt ausleben kann. Beispielsweise zeigt sich, dass der Boss mächtig ist, insofern die anderen seinen Befehlen gehorchen. Dagegen kann sich meine Vitalität darin zeigen, dass ich alleine Sport treibe oder den ganzen Tag konzentriert lese, ohne dass ich merke, wie die Zeit vergangen ist. Während ich also die Werte Vitalität, Mut und Liebe Seins-Werte nenne, ist die Macht grenzüberschreitend und pendelt zwischen Seins- und Habens-Wert.2 

Obwohl sich diese Werte wechselseitig bedingen, würde das Mafiöse ohne den Wert der Liebe als Omega-Punkt mich nicht angezogen haben. Weil das wahrscheinlich auch andere empfinden, werden aus pädagogischen Gründen eher realistische Filme wie Gomorrha und weniger romantisierte Filme wie Der Pate empfohlen. Denn das Romantische ist gefährlich, insofern es sich nicht nur auf Gott oder die schöne unbekannte Geliebte bezieht, sondern überhaupt auf den Wert der Liebe, welcher sich auch auf die nur eigene vermeintliche Elitegruppe beziehen kann. Doch ohne Vitalität ist solche Liebe kaum denkbar, aus welcher ein tollkühner Mut entsteht. Die Werte spielen also zusammen: Je überzeugender die Liebe ist, umso mehr Vitalität, Mut und Macht stecken als ihre Zutaten in ihr. 

 Es ist eine gewisse Vortrefflichkeit, die mich trotz der Abgründigkeit dieser Filme angezogen hat. Und in jeder Vortrefflichkeit scheinen mir diese vier Werte (Vitalität, Mut, Macht und Liebe) mehr oder weniger vertreten zu sein. Ich will hier nicht behaupten, dass die wahre Mafia so romantisch sei, sondern nur die Filme beleuchten, in welchen die Clans romantisiert werden. Dennoch bietet sich nicht alles als Projektionsfläche an, d. h. die ranghöheren Clanmitglieder und Bosse können diese Position nur erreichen, wenn sie eine starke Vitalität haben, auf deren Grundlage überhaupt erst mutig gehandelt wird – bezogen auf die Selbstliebe, welche auf die Familie ausgeweitet wird, um das Selbst zu steigern. In 4 Blocks zeigt sich also ein elitäres Potential, insofern sich zumindest im Boss Tony Hamady diese Werte (Vitalität, Mut, Macht und Liebe) verkörpern, wodurch er trotz Abgründigkeit zunächst anziehend wirkt – für all jene, welche dieselben Werte teilen, und für sich selbst nur in dieser Lebensform eine Möglichkeit sehen, diese Werte so intensiv wie möglich auszuleben. 

 

Ein pädagogischer Eros 

In 4 Blocks wirkt ein gefährlicher pädagogischer Eros. Je mehr Ohnmacht jemand erlitten hat, umso mehr ersehnt er sich eine Macht, ohne zunächst Böses damit vorzuhaben. Wenn sich etwa wie in dem Film Scarface ein Boss von tausenden an die Spitze der Macht vorgearbeitet hat, muss er Alphaqualitäten haben, wozu diese vier Werte (Vitalität, Mut, Macht und Liebe) gehören. Dazu kommt, dass erotische Anziehungskraft immer hierarchisch wirkt. In Platons Werk Das Gastmahl wird deutlich, dass der Eros ein Aufstiegsstreben ist, obgleich es unser Philosophen-Vater auf die Ideen des Wahren, Guten und Schönen bezieht. Diese sind aber so allgemein, dass sogar mafiöse Clans diese höchsten Ideen (ob bewusst oder unbewusst) für sich beanspruchen, wenngleich nur innerhalb ihrer Elitegruppe, anstatt sie wie der weise Philosoph universell anzustreben.  

Tragisch wird es, wenn diese Werte miteinander konfligieren, wenn statt der Liebe die Macht obsiegt, wenn zum Beispiel einmal die heroische Brüderlichkeit, die Nibelungentreue, gebrochen wird. Obzwar das in den romantisierten Mafia-Filme wie in Der Pate oder 4 Blocks nicht bei den obersten Bossen (Don Corleone oder Tony Hamady) passiert, werden die Brüder vor diesen Konflikt gestellt.  Und wo sie später den Verrat bis zum Tode bereuen, zeigt sich, dass sie ihr Heiligstes, ihre Clan-Moral, gebrochen haben – hier also den abgewandelten, vielleicht pervertierten Wert der Liebe. 

Der pädagogische Eros geht also über die Liebe zum Aufstieg, wozu Monarchien besser als Demokratien geeignet sind. Denn die Gleichberechtigung sowie die Möglichkeit, alles auszudiskutieren, würden nicht nur die Schlagkraft einer Gruppe, sondern auch den gegenseitigen Respekt schmälern. Das Grundlegendste, was aber ein Vorbild genießen muss, ist Respekt, der als Hingabe gesteigert umso mehr wirkt. Und in 4 Blocks zeigen die höheren Rangmitglieder dem Boss Tony Hamady ihre Hingabe.   

Wichtig ist, dass die Clanmitglieder auf einer höheren Stufe die der Gruppe eigentümlichen Werte (Vitalität, Mut, Macht und Liebe) noch stärker verkörpern müssen, als es die rangniederen Mitglieder tun. Das ist wie in einem asiatischen Kampfsportverein, wo der Braungurt zum Schwarzgurt aufsieht, während alle Blaugurte zum Braungurt und Schwarzgurt blicken. Denn nur in der Verkörperung können natürliche Hierarchien dauerhaft begründet werden, da sonst keine natürliche Autorität, sondern höchstens eine Amtsautorität entsteht, welche früher oder später angefochten wird, weil sie gegen das intuitive Gerechtigkeitsgefühl verstößt. Der pädagogische Eros ist also eine Liebe zum höheren Rang, die umso mehr wirkt, je stärker die eigenen Werte dort verkörpert sind.  

Und die daraus entspringende Hingabe führt dazu, dass sich das eigene Potential (ob gut oder böse) am schnellsten entwickelt. In 4 Blocks wird gezeigt, wie dieser pädagogische Eros in solchen Clanstrukturen wirkt. Das erklärt auch, warum solche Clans und überhaupt alle radikalisierten Gruppen viel gefährlicher und schlagkräftiger als demokratische Gruppen sein müssen. Es herrscht die Gefahr, dass verzweifelte Jugendliche diesen pädagogischen Eros fühlen, ohne sich genau darüber bewusst zu sein, sodass sie sich lieber radikalisieren lassen, als (von ihrem Standpunkt aus) domestiziert zu bleiben. Schon der Kirchenvater Augustinus hat gesagt: Man lernt nur von dem, den man liebt. Und man liebt am meisten den, der die eigenen Werte perfektioniert hat – nur diesen kann man zum Meister wählen. 

 

 Problematische Jugenderfahrungen 

Als ich in die siebte Klasse kam, fühlte ich mich stärker zu den Gangstern angezogen, obwohl ich doch nicht dazugehören konnte. Während mich viele Deutsche nicht anzogen, da sie langweilig, ängstlich, kindisch und oft mit schlechter Vitalität ausgestattet zu sein schienen, strahlten die drei Anführer-Typen in meiner Klasse eine gewisse Aura aus. Sie brachten Leben in die Bude und wenn sie einem zugetan waren, nahm man sofort Teil an einem höheren Leben. Einige verkörperten eine frische, sehr lebendige Aufmerksamkeit, sodass man sich auch geliebt fühlte, wenn sie sich einem zuwandten. Sie schienen den anderen überlegen, nicht im Schulstoff, aber im Leben, das zunächst einzig für mich zählte. Die sonst uninteressantesten Gesprächsthemen konnten sie ganz natürlich mit Leben füllen, und so wurde fast alles interessant. Dazu kommt, dass sie frühreif und erfahrener waren, sodass ich mich in meiner damaligen Verlorenheit verstandener fühlte. Weil mir der Ottonormaldeutsche nichts geben konnte und mich nicht verstehen konnte, träumte ich mich in diese vermeintliche Elite, zu der an meiner Gesamtschule leider nur jene mit einer gewissen kriminellen Energie gehörten. Ja, es gab Zeiten, da schienen sie gut für mich zu sein, während der angepasste Durchschnittsdeutsche schlecht war, weil er mich meiner damaligen Sehnsüchte nicht näherbringen konnte: echte Freunde zu haben, die zusammenhalten; durch Abenteuer und Mutproben zu wachsen; an attraktive Mädchen heranzukommen. 

Ich stand immer zwischen diesen Welten, quasi als Vermittler, der aber nirgends wirklich dazugehörte, nur auf beiden Seiten geduldet, manchmal geachtet werden konnte – vielleicht als nicht einschätzbarer, schillernder, manchmal überraschender, öfter enttäuschender Kamerad. Denn trotz guter Anlagen war meine Grundvitalität durch den Entzug meiner wahren Familie sehr gehemmt, wodurch nicht nur mein Wachstum, sondern auch der Mut und die Lebensfrische gehemmt wurde und das deutlich, als ich meine Pubertät hindurch fast täglich Marihuana kiffte, was einen zartbesaiteten Jugendlichen viel stärker angreift als einen robusten. 

 

Problem der Rangordnung von Macht und Liebe 

Wenn ich jetzt 4 Blocks sehe, erinnere ich mich an diese damaligen Sehnsüchte, suche aber einen Weg, der gut ist, ohne dabei meine eigentlichen Werte zu vermissen: Vitalität, Mut, Macht und Liebe. Problematisch ist, dass das Große, welches gut ist, viel seltener ist als das Große, welches ins Böse (oder Schlechte) gerät. Will man hier nicht ins Böse absinken, müssen die konfligierenden Werte so hierarchisiert werden, dass die Liebe (wenigstens im Sinne von gruppeninterner Freundschaft, Bruderschaft, Humanität) an oberster Stelle steht.  

Folglich hat der individuelle Wille zur Macht einen viel begrenzteren Spielraum. Stünde er aber oben, würde er den Zusammenhalt der Gruppe sprengen, was auch bei losen Verbrecherbanden schnell passiert, sodass sie langfristig wenig erfolgreich sind, während das organisierte Verbrechen den individuellen Machtwillen in die Rangordnung integriert, damit es als Gruppe mächtiger ist. Und je mehr es gelingt, diese Art von Liebe über den individuellen Machtwillen zu stellen, umso erfolgreicher ist auch jede Elitegruppe, weil es keinen Verrat und kaum noch interne Machtkämpfe geben kann. Das ähnelt einer Fußballmannschaft, die ihre Hierarchien als gut für das Ganze anerkennt, was wiederum das Beste für jeden einzelnen Spieler ist – nur dass eine gewisse Liebe der Garant dafür ist, dass dieses Band länger hält, als wenn sich viele nur widerwillig unterordneten. Wahrscheinlich kann es nichts Elitäres geben, welches ohne Liebe ist. 

Allerdings ist die Umsetzung problematisch.  Meine Erfahrung sagt, die hier mit Nietzsche übereinstimmt, dass der Wille zur Macht umso stärker drängt, je mehr Ohnmacht erlitten worden ist. Dagegen zeigt sich die Liebe immer in einem Erfüllt-Sein, einem Vitalitäts-Überschuss, aus dem heraus ohne Anstrengung, sogar mit Freude das Gute getan wird. Aber diese Liebe ist keineswegs jedem möglich. Da nun die Liebe so voraussetzungsreich ist, kann sich der, welcher dieses Gefühl nicht hat, höchstens intellektuell für sie entscheiden und verpflichten, ohne sie jedoch zu besitzen, geschweige denn auszustrahlen: insofern der Gefühlsanteil der Liebe einfach nicht vorhanden ist, insofern diese Art der Vitalität noch nicht zur Schwingung geraten ist, insofern der Akku zu schwach ist, insofern Depressionen herrschen.   

Freilich kann man andere nur lieben, wenn man sich selbst liebt. Und wie stark man sich selber lieben kann, hängt bei (von einer guten Familie und jeglicher Spiritualität) entwurzelten Menschen neben grundsätzlichen Vitalitätsproblemen vom sozialen Vergleich ab. Je nach Anspruch und Ehrgeiz scheint dann die Selbstliebe davon abzuhängen, als wie unter- oder überdurchschnittlich sich derart Entwurzelte im sozialen Vergleich einschätzen. Je unterdurchschnittlicher, desto unterdrückter, desto mehr Ressentiments, desto weniger Dankbarkeit, desto weniger Liebe. Stattdessen herrscht Neid, Aufstiegsstreben und Wille zu Macht oder falls schon die Vitalität fehlt, herrscht Resignation, ein Sich-Gehen-Lassen und Abstieg. Wer keine Liebe aufbringen kann (wozu auch immer), hat noch keine Größe.  

Romantisch und dadurch anziehend wirken aber die Mafiafilme nur, wenn sie diese Art von Größe zeigen. Was nun die romantischen Mafiafilme auch faszinierend macht, ist der dramatische Kampf um die Werteordnung: ob die individuelle Macht oder die gruppeninterne Liebe den letzten Ton angibt.  

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sei betont, dass diese ideale Werteordnung nur innerhalb der Gruppe gilt, während sie nach außen vielleicht so modifiziert werden könnte: Vitalität, Mut, Respekt oder Verachtung und Macht. Denn ohne Vitalität kann erstens diese raue Realität nicht einen Tag lang ertragen werden. Zweitens fällt es ohne Mut schwer, gegen ein Gesetz zu verstoßen. Drittens wird nach außen hin die gruppeninterne Liebe durch zwei Möglichkeiten ersetzt: Entweder bezieht sich der Respekt auf würdige Geschäftspartner sowie auf andere Außenstehende, wenn sie mit denselben Seins-Werten (Vitalität, Mut, Macht und Liebe) in irgendeiner Domäne erfolgreich sind. Das können Sportler, Künstler, Wissenschaftler, Astronauten, Staatspräsidenten und alles Mögliche sein. Diese verdienen i. d. R. wenigstens Respekt. Oder die Clan-Mitglieder reagieren auf die Außenstehenden mit Verachtung. Verachtet werden alle sogenannten Schwachen, die ein Clan jederzeit bloß als Mittel zur Macht gebraucht, niemals aber als gleichwertigen Geschäftspartner akzeptiert. Der letzte Wert dieser nach außen gerichteten Werteordnung muss aber trotz allem Respekt immer die Macht sein, sodass sich aller Respekt nur solange hält, wie niemand die Ziele des Clans durchkreuzt. 

Damit habe ich erstens gezeigt, dass die Anziehungskraft von Mafia-Epen davon abhängt, wieviel Größe wenigstens die obersten Clan-Mitglieder zeigen und wie voraussetzungsreich es zweitens ist, den Wert der gruppeninternen Liebe wirklich ganz nach oben zu stellen (Vitalität, Mut, Macht und Liebe), um nicht ins Verderben zu stürzen, falls der Wille zur individuellen Macht ganz oben steht (Vitalität, Mut, Liebe und Macht). Drittens wurde unterschieden, wie mafiöse Elitegruppen zwischen gruppeninterner- (Vitalität, Mut, Macht und Liebe) und gruppenexterner Werteordnung (Vitalität, Mut, Respekt oder Verachtung und Macht) unterscheiden könnten. 

 

Ergänzende Assoziationen nach der zweiten und dritten Staffel 

Fragen zur Qualität der Staffeln 

Wie es fast immer der Fall ist, kann sich das Niveau in der zweiten Staffel nicht ganz halten. Dabei spielt eine Rolle, dass eine Gewöhnung die anfängliche Freude abmildert, wenn ich Orte aus Berlin sehe, die ich selber kenne. Ferner lässt die schauspielerische Qualität etwas nach. Jedenfalls schafft es der Schauspieler Kida Kadr Ramadan nicht mehr immer, den Boss in seiner Glaubwürdigkeit durchzuhalten, da sich gelegentlich unfreiwilliger Humor in die Dialoge, Gestik und Mimik mischt, bis hin dazu, dass ich die großen Mafiosi-Darstellungen eines Robert de Niro nur noch karikiert vorfinde. Allerdings beschränkt sich die Unglaubwürdigkeit auf sehr wenige Szenen, in denen Tony Hamady mit seiner Frau und Tochter handelt. 

Andererseits wird aber auch keine Nachahmung klassischer Maffia-Epen gezeigt, zumal doch die Authentizität jener Deutschtürken oder Deutschkurden eine ganz eigene ist, die sich von den afro-amerikanischen oder Italo-amerikanischen Clans kulturell unterscheidet. Meine Intuition, dass die Staffel etwas nachlasse, weil durch unfreiwilligen Humor die Authentizität etwas einbüße, könnte mich täuschen, insofern mir 4 Blocks nur besser zeigt, wie zwiegespalten hohe Mafiosi sein können und welche kognitiven Dissonanzen sie nach außen erzeugen – besonders zwischen dem geschäftlichen Bereich, wo der Wert der Macht leitet, und dem privaten, wo der Wert der Liebe jedenfalls angestrebt wird (wenngleich auf ungeschickte Art und Weise). 

Ferner häufen sich die Anspielungen und Übernahmen der großen Klassiker: Die erste Staffel erinnert mit dem verdeckten Ermittler Matthias Keil an den Film Donny Brasco, wo zwischen dem Polizisten und Mafia-Boss eine romantische Freundschaft entsteht. Die zweite Staffel spielt mit dem Bruderkonflikt auf den zweiten Teil von Der Pate an. Es gibt viele weitere Motive, an denen sich inspiriert wird, die aber alle gut umgewandelt werden. 

Die Serie 4 Blocks ist insgesamt sehr gut gemacht. Es scheint mir, dass Serien schon daher keine Meisterwerke werden können, da sie auf eine gewisse Unendlichkeit angelegt werden, um die Zuschauer immer wieder in den Bann zu ziehen, wenn eine Folge zu Ende geht.  

 

Wird die Gewalt verherrlicht? 

Ähnlich wie die Trilogie Der Pate haben auch die drei Staffeln von 4 Blocks den kausalen Zusammenhang der Taten gezeigt, die in den Untergang führen. Im Ergebnis scheint 4 Blocks also pädagogischen Wert zu haben, insofern die Jugendlichen nach dem (für sie zunächst erstrebenswerten) Mafia-Himmel eine ausweglose Hölle sehen.  

Andererseits kann diese Serie neugierig auf Drogen und Gewalt machen. Es besteht die Gefahr, dass ein neugieriger, erlebnishungriger Jugendlicher sich das dramatische Ende vor Augen führend meint, dass er diesen Weg nur bis zu einem gewissen Grad ausprobiere, dass er zum Beispiel Alkohol und Marihuana sowie Diebstahl und Erpressung ausprobieren könne, aber bei Koks und Mord seine Grenzen ziehe.  

Für eine Verherrlichung spricht weiter, dass Erpressungsmethoden und andere mittelschwere Delikte in perfektionierter Form gezeigt werden, sodass dieser Mafia-Epos auch eine Anleitung ist, wie man sich am besten nicht erwischen lässt. Beispielsweise werden raffinierte Methoden gezeigt, wie Drogen versteckt werden können; wie verfolgt und eingebrochen; wie gefoltert wird, ohne sofort zu töten; usw. 

Und wenn drittens ein Jugendlicher erstmal Blut geleckt hat, kann er schnell süchtig werden nach dem schnellen Geld, der Macht und dem Status, wobei er sich anfangs immer sagt, dass er jederzeit aussteigen könne und seine festen Grenzen habe. In Wahrheit sind jedoch alle Übergänge fließend. Beispielsweise wird nur ein Einbruch geplant bei Menschen, die das finanziell verkraften könnten und die es zugleich (aus welchen Gründen auch immer) verdient hätten. Doch im Rausch des Moments wird die gezogene Grenze schnell überschritten. Wenngleich es sofort bereut werden sollte, passiert es häufig, dass jemand bei einer Gegenwehr aus Versehen zu Tode kommt oder dass ein Gruppenzwang herrscht, der sich in der Situation so radikalisiert hat, dass man in einem Moment vor verschiedene Dilemmata gestellt wird wie etwa: Verrat eines bedeutenden Clanmitglieds oder Unterbindungsversuch durch Morddrohungen, Körperverletzungen bis hin zum Tod. In diesem Milieu gibt es also schnell einen Dammbruch.  

Des Weiteren ist nicht zu unterschätzen: Wer einmal gemordet hat, tötet leichter ein zweites Mal, weil diese schlimmste moralische Schuld etwa aus religiöser Sicht schon eine Todsünde sei, welche einem die Verdammung garantiere, sodass ein Verdammter kaum noch weiter verdammt werden kann, bis er sich als Lebendiger schon wie ein Gestorbener fühlt, bis er völlig hoffnungslos ein grausamer Killer werden könnte. Jedenfalls ist es eine Tatsache, dass viele gefürchtete Mafiosi so ähnlich in diesen Teufelskreis gelangt sind. Aus der Hölle auf Erden befreit dann nur der Tod, den sich manche sogar – wie Al Pacino als Boss in dem Film Scarface – im Rausche einer letzten Gewaltorgie herbeisehnen. 

Ich komme zu dem Ergebnis, dass 4 Blocks keineswegs beabsichtigt, Gewalt zu verherrlichen, sondern eine Aufklärung ist. Jedoch ist jede Aufklärung auch gefährlich, insofern die Realität nicht so dargestellt wird, wie sie sein sollte, sondern so wie sie ist, insofern also der kausale Zusammenhang der Taten gezeigt wird. Die Gefahr besteht eben darin, dass die kausalen Zusammenhänge nur deshalb erkannt werden wollen, um die Möglichkeiten so umzudenken, dass man einen Mafiafilm mit Happyend lebe.  

Aber auch wenn nur die wenigsten meinen, vielleicht noch schlauer zu sein als die großen, letztlich gescheiterten Bosse, wenn sie also meinen, sich niemals erwischen zu lassen, um nur das Elitäre, Romantische in einem Clan leben zu können; sind ausgefeilte Mafiafilme Gift für jene Verlorenen: die an nichts Gutes mehr Glauben können, die von allen Liebesbanden getrennt worden sind, die jedoch einen Vitalitätsüberschuss haben, den sie in ihrer untergeordneten sozialen Position nicht weiter unterdrücken wollen, sich  also stattdessen kriminell ausleben nach dem Motto: lieber kurz ein hohes, brennendes Leben durch die Steigerung der Lebenstriebe Eros und Thanatos als ein ewiger Mindestlohnarbeiter oder Sozialhilfeempfänger zu sein, der niemals eine Chance bei attraktiven Mädchen haben und niemals zu den anderen Luxusgütern kommen werde. 

Ich komme zum Schluss, dass erfolgreiche Gewalt auch immer Gewaltverherrlichung ist – für all jene, die in ihrer Wertehierarchie die Macht nach oben stellen. Dagegen fühlen sich Normal-Sozialisierte durch mafiöse Gewaltszenen abgeschreckt, sodass sie sich im Alltag eher von solchen Typen fernhalten, insofern sie irgendwie den Anschein erwecken, dass sie so drauf sein könnten. Problematisch ist dabei, dass solche Filme bei ängstlichen und unerfahrenen Menschen einen Generalverdacht erzeugen, dass etwa alle Türken, Kurden oder Araber Gangster seien und man sich am besten mit keinem irgendwie einlasse. 

 

Integrationsproblem durch Frühreife 

Die einzige Rettung wäre demnach wirklich eine Integrationspolitik oder schon bei kleinen Delikten eine sofortige Verbannung aus dem Lande, was aber mit unserem Rechtstaat nicht kompatibel ist und was ich selber schon deshalb nicht wollen könnte, weil auch ich nach kleineren Jugenddelikten schon ausgewiesen worden wäre.  

Bei der Chancengleichheit in der Bildung, dass alle kostenlos Abitur machen und in Berlin sogar kostenlos studieren können, fallen mir auf Anhieb zwei Probleme auf. Neben der Bildungsferne vieler Arbeiterfamilien, besonders mit Migrationshinter-grund, ist es die (manchmal auch kulturell mitgeprägte) Frühreife mancher Jugendlicher. Und nur auf diesen zweiten Punkt gehe ich jetzt ein.  

Insofern manche Schüler eine große Vitalität haben und intuitiv statt analytisch eine helle Auffassungsgabe besitzen, haben sie es anfangs kaum nötig, in der Schule zu lernen. Während die Intuition sofort alles erkennt und meistens treffsicher ist, benötigt die Analyse viel Zeit und Disziplin, wobei sie noch dadurch frustriert, dass oft nur die einzelnen Schritte verstanden werden, ohne ein Ganzes zu sehen. 

Sobald die Intuition aber nicht mehr ausreicht, um z. B. komplexeren Schulstoff zu beherrschen, rebellieren oftmals diese vitalen und intuitiven Schüler, zumal sie niemals die Methoden so ganz analytisch befolgt hatten, welche die Lehrer vermittelt haben, bis ihnen gänzlich die Ordnung fehlt. Tatsächlich ist zum großen Teil schon an der Hefterführung, an der Vollständigkeit und Sauberkeit der Mitschriften zu erkennen, inwiefern die Schüler überhaupt die Möglichkeit haben, analytische Ordnungssysteme (z. B. in Form von Tabellen, Begriffsnetzen und anderen Schreibplänen) internalisieren zu konnten. Äußere Unordnung schmälert die Leistungen nur dann nicht, wenn verschiedenen Ordnungssysteme schon verinnerlicht worden sind. Wer aber immer schon intuitiv in seinen Antworten recht treffsicher gewesen ist, entwickelt schnell die Gewohnheit, weder richtig mitzuschreiben noch richtig zu lernen. Letztlich fehlen diesen Schülern die Strukturen, an denen komplexeres (nicht mehr nur sinnfälliges Wissen) angeknüpft werden kann. Wie wichtig letztlich diese Ordnungsstrukturen werden, zeigt sich in der Grammatik und in der Mathematik, wo die Form wichtiger als der Inhalt ist, wo das Sinnliche fehlt oder wenigstens so bewölkt ist, dass sich der Pilot auf sein Navigationssystem verlassen muss, welches aber rein systematisch, analytisch und programmiert funktioniert – wo also keine Intuition mehr helfen kann. 

Mit der Zeit verschiebt sich das Verhältnis dergestalt, dass die einst besseren, frühreifen, intuitiveren Schüler die schlechtesten werden. Meistens kommt es dazu, dass diese Schüler gerade wegen ihrem Überschuss an Vitalität dadurch frustriert werden, dass sie diesen nicht mehr konstruktiv ins Unterrichtsgeschehen einbringen können, bis sie schließlich mit ihrer Energie destruktiv werden, wo auch schon die Kriminalität zu locken beginnt. Solche Schüler machen i. d. R. kein Abitur, wodurch sie vorgeprägte Schwierigkeiten bekommen, um auf legalem Wege eine gutbezahlte Profession anzustreben.  

Erhöhte Vitalität und intuitive Helligkeit können ferner dazu führen, dass einem schnell die Geduld ausgeht, wenn bedacht wird, dass ein Studium mit Praktika etwa sieben Jahre lang dauern kann. Je mehr Vitalität man spürt, desto größer scheint mir der Drang, im Hier und Jetzt zu leben. Wer Lebensfülle hat, will sie i. d. R. sofort ausleben. Aber ein langes Studium ist in deren Augen nur eine Lebensvorbereitung. Jedoch ist eine Lebensvorbereitung nur dem Studenten vorteilhaft, der sich noch nicht in seiner Lebensfülle, noch nicht in seiner Bestform fühlt, sodass ihm nichts lieber ist als eine lange Rückzugszeit für bessere Bildung. So kommt es, dass manche Menschen erst spät blühen, während andere früh geblüht haben: dass manche, die früher gemobbt wurden, heute Spitzenpolitiker geworden sind; dass andere, die früher die Klassen-Alphas waren, heute früh gealterte Kriminelle, Sozialhilfeempfänger oder sogar Junkies geworden sind. 

Ich komme zu dem Schluss, dass viele erfolgreiche Gangster frühreif mit einer überdurchschnittlichen Vitalität und einer intuitiven Helligkeit gewesen sind. Es sind auch diese Eigenschaften, wodurch sie den meisten Kameraden überlegen gewesen sind, woraus ein natürlicher Stolz entsteht, aus dem meistens die Kriminalität vor der verachteten Armut bevorzugt wird. Solchen eher seltenen Naturen steht oft nur die Alternative offen, ihre Vitalität als Sportler, Rapper oder Schauspieler (wie die in 4 Blocks) zu sublimieren, damit sie auf einem legalen und gelobten Weg den Lebensstil genießen können, von dem die kleinen Gangster immer geträumt haben.  

 

Die Frage nach der Größe im Bösen und Guten 

Alle Ehrgeizigen Menschen mit hohen Ansprüchen hören eigentlich nur auf Menschen mit einer gewissen Größe, die sie zu Vorbildern nehmen, insofern sie wenigstens eine entfernte Ähnlichkeit haben, insofern sie eine Bestform der eigenen Möglichkeit verkörpern. Weil oftmals dem guten Schwächling der böse Große bevorzugt wird, muss das Vorbild unbedingt Größe haben und moralisch gut sein, damit die Jugend nicht fehlgeleitet werde.  

Es ist heutzutage schwieriger, für das Gute als für das Böse zu werben, schon allein deshalb, weil das Böse (Schlechte) immer leichter zu tun ist, zumal es unmittelbare Lüste verspricht, während die Lüste des Guten ein oft fernes und überhaupt ungewisses Versprechen sind. Wie kann man das moralisch Gute wirklich wollen, wenn es doch zunächst deutlich gegen den natürlichen Egoismus geht? Da das moralisch Gute mehr Entsagung, Disziplin und Geduld fordert, scheint es nur erstrebenswert, wenn man im Endeffekt etwas noch Besseres gewinnt. Aber was soll das sein, wenn von der bloßen Angst vor Strafe abgesehen wird? 

Freilich werden die meisten Menschen nur durch die Angst vor Strafe von vielen Delikten abgehalten – insbesondere jene, welche die oben geschilderten Werte (Vitalität, Mut, Macht und Liebe) nicht ausprägt haben. Denn nur wenn überhaupt eine Liebe ist und wenn sie zweitens über die eigene Gruppe hinaus universell wird, kann eine intrinsische Moral entstehen – eine Moral, die keine Notlösung mehr aus Angst vor Strafe ist, eine Moral, die also nicht mehr bloß extrinsisch ist, sondern aus Überschuss, Liebe, Gerechtigkeit und Willen zur Freiheit entsteht. 

Die größte Angst vor Strafe steht allerdings immer im religiösen Kontext. Wenn es eine universelle Gerechtigkeit durch Gott oder Karma gibt, wirken sich unsere Taten auf ein Jenseits oder eine Wiedergeburt aus. Folglich hängen unsere Taten von einem moralischen Gesetz ab, welches dergestalt ist, dass unsere Absichten, Taten und die Reue oder Genugtuung darüber eine langfristig auch ästhetische Wirkung haben, etwa in der Form, dass Hass hässlich und Liebe schön mache. Wer also wirklich etwas glaubt, wird zunächst auch ohne Liebe, nur aus Angst vor Strafe (wenn er überhaupt genug Vitalität zum Mut hat) diesen lieber in keine kriminellen Bahnen lenken.  

Wer allerdings mit diesen Seins-Werten (Vitalität, Mut, Macht und Liebe) gut ausgestattet ist, könnte sich dennoch gegen Gott stellen, was impliziert, dass er kein Atheist, sondern etwa ein Satanist ist, der seine Gründe dafür habe, sich an Gott rächen wolle, insofern diese höchste Macht nicht gut zu ihm gewesen sei. Er denkt sich diesen Gott eben nicht mehr ganz bibeltreu, der durch Leiden straft oder prüft, sondern höchstens als alttestamentarischen, der zornig und unberechenbar sei. Vielleicht beruhigt sich manch Satanist damit, dass dieser Gott sein Vorbild sei, indem er andere so behandle, wie Gott ihn behandelt habe. Außerdem gerät die Angst vor Strafe in den Hintergrund, wenn Gott als unberechenbar angesehen wird, weil auch die Wirkungen von guten und bösen Taten nicht mehr berechnet werden können.  

Neben dem Nihilismus (wo geglaubt wird, dass es nach dem Tod nichts gebe) und dem Satanismus (wo gegen Gottes Schöpfung gekämpft wird) besteht die Möglichkeit, seine Glaubenssätze so anzupassen, dass Gott nur auf der eigenen Seite stehe.  Dergestalt entwickeln viele ihren Privatglauben, besonders dann, wenn ihnen die Natur darin Recht gegeben hat, dass sie etwas Besonderes seien oder wenn sie so (narzisstisch) sind, dass sie eine individuelle Seele brauchen, um ihre Grandiosität aufrechtzuerhalten. Anstatt, dass der Glaube also nur die destruktiven inhumanen Kräfte hemmt, hat er den Mut zum Verbrechen sogar steigern können, was sich nicht nur in Satanisten, sondern auch im sogenannten Heiligen Krieg des Islamismus’ und früher auch in den christlichen Kreuzzügen gezeigt hat. 

Wie ist nun aber Michael Corleones Glaube im Mafia-Epos Der Pate möglich, da er alle sogenannten Todsünden begangen hat? Denn weder ist er ungläubig (Nihilist) noch will er gegen Gottes Schöpfung ankämpfen (Satanist). Stattdessen ist er sich wohl bewusst, dass er Gefahr läuft, verdammt zu werden, was spätestens deutlich wird, wo er im dritten Teil beichten geht.  Hier ist es die Zerrissenheit zwischen dem Wissen um das Gute und dem guten Handeln. Der einst gute Wille, etwas Anständiges zu werden, konnte durch die mafiösen Familienbande und die hohen Ansprüche aufgrund von natürlichen Überlegenheitsgefühlen nicht durchgehalten werden, bis spätestens mit dem ersten Mord weitere folgen mussten, um die gegnerische Rache aufzuschieben, die ja letztlich nie vermieden werden kann. 

Ich fasse zusammen, dass die Angst vor Strafe wohl am wirksamsten gegen die Kriminalität schützt, besonders wenn erstens an Karma oder Gott geglaubt wird und wenn es einem zweitens an den Seins-Werten (Vitalität, Mut, Macht und Liebe) mangelt. Denn ohne Vitalität, woraus der Mut erwächst, wird auch kein Mensch im Bösen mächtig. Und ohne Liebe kann es für die Moral keine andere Triebfeder als die Angst geben.3 Insofern werden viele Menschen auch nur aus Schwäche und Angst am Bösen gehindert, was sie nicht wirklich moralisch gut macht, sondern nur einen großen Schaden an der Gesellschaft verhindert. 

Anders verhält es sich mit den begabten Menschen, die also gut ausgestattet sind mit den beneidenswerten Seins-Werten (Vitalität, Mut, Macht und Liebe). Diese Menschen haben per se weniger Angst vor Strafe. Denn jeder kann schon an seinen eigenen Stimmungen nachvollziehen, dass man viel mutiger, manchmal übermütig wird, solange eine höhere Vitalität fließt (sei es nur im Alkoholrausch oder in der Wut), wenngleich die eigenen Taten schon im nächsten Moment bereut werden, spätestens wann dieser Vitalitäts-Überschuss abfließt, ja, dass im Mangel der Vitalität sogar die Angst kommt – die Angst, sich selber auszubleiben. Wer aber dauerhaft über eine hohe Vitalität verfügt, hat auch dauerhaft weniger Angst, zumal sich viele Menschen im Rausch (der Vitalität) keinen Mangel (der Vitalität) vorstellen können. Ähnlich springt ein gutdurchbluteter Mensch gerne in den kühlen See, vor dem sich der leicht frierende scheut. 

Ferner wurde gezeigt, dass unter diesen begabten Menschen nicht zwingend ein Nihilismus herrscht, um sich im Bösen zu perfektionieren: insofern erstens ein Satanist gegen Gottes Schöpfung handelt; insofern zweitens etwa ein Kreuzritter den Glauben so modifiziert hat, dass Gott immer nur auf seiner Seite stehe; insofern drittens ein Michael Corleone ungewollt in die Kriminalität hineingerutscht ist, obwohl er weder glaubt, dass Gott auf der eigenen Seite sei, noch eine Entzweiung mit ihm wünscht. Wirklich tragisch ist hier nur der letzte Fall, insofern Michael Corleone von vorn herein versucht hat, gegen ein böses Schicksal, vielleicht gegen einen Familienfluch, anzukämpfen. 

Aus dem Gesagten folgt, dass viele das große Böse attraktiver als das vermeintlich (oder nur schwache) Gute finden, weil es Größe zeigt und dadurch auch das Potential zum großen Guten hat.  Ich beschließe diesen Gedanken mit Friedrich Schiller: 

Woher sonst kann es kommen, dass wir den halbguten Charakter nur mit Widerwillen von uns stoßen und dem ganz schlimmen oft mit schauernder Bewunderung folgen? Daher unstreitig, weil wir bei [dem halbguten Charakter] auch die Möglichkeit des absolut freien Wollens aufgeben, [dem großen Bösen] hingegen es in jeder Äußerung anmerken, dass er durch einen einzigen Willensakt sich zur ganzen Würde der Menschheit aufrichten kann.4 

In diesem Versuch wurde gezeigt, dass uns romantisierte Mafiafilme faszinieren, insofern Werte verkörpert werden, die auch aller Größe in aufsteigender Rangordnung eigentümlich sind: Vitalität, Mut, Macht und Liebe. Je mehr diese Reihenfolge in manchen Clans durchgehalten wird, desto stärker ist unsere Bewunderung. Freilich sind alle Mafia-Epen auch Tragödien, in denen die Protagonisten durch ständige Wertekonflikte, besonders zwischen Macht und Liebe, dem Untergang geweiht sind. Selbst wenn etwa im ersten Teil von Der Pate oder in der ersten Staffel von 4 Blocks diese Werteordnung bei den Bossen einigermaßen durchgehalten wird, zeigt sich der dramatische Wendepunkt immer dann, wenn einmal die Macht vor der Liebe gestanden hat. Während die erfolgreiche Mafia nur den internen Krieg hinauszögern kann, verhält sie sich nach außen moralisch böse (oder schlecht), weil sie dort immer den Wert der Macht vor die Liebe stellt. Die Mafia kann also nur Größe im Bösen, aber nicht im Guten haben. Doch wie auch Platon im Eingangszitat und Schiller im Schluss-Zitat zugeben, haben nur wenige das Potential zur Größe überhaupt.  

Wer kein überzeugter Atheist sein kann und es mit der Glückseligkeit als Endziel ernst meint, für den gibt es früher oder später keine wichtigere Frage mehr als die nach der Größe im (moralisch) Guten. Obgleich die Größe im Guten derselben Werteordnung (Vitalität, Mut, Macht und Liebe oder Gerechtigkeit5) folgt, wird dort die Liebe oder Gerechtigkeit nach innen und außen universalisiert. Was das konkret bedeutet, ist Thema von religiösen- und moralphilosophischen Ethiken, welche hier nicht weiter behandeln werden, wozu ich nur kurz sage, dass sie Wert haben für alle, die:  

  • Angst haben vor Strafe,  

  • Angst haben vor sozialem Ausschluss,  

  • Hoffnung hegen auf echte Liebendwürdigkeit, wodurch wahre Freundschaft und Ehre entstehen können,  

  • Hoffnung hegen auf psychischen Frieden, wenn man keine Feinde hat, welche einem den Schönheitsschlaf rauben, schneller altern lassen und psychosomatisch krank machen, 

  • Hoffnung hegen, sich der Glückseligkeit würdig zu machen, falls es nach dem Tod noch etwas geben sollte. 

Möge nun jeder selbst die Suche nach der Größe im Guten beginnen und dem Verbrecher keine Chance lassen, der sie nur hat, solange wir noch keine Größe im Guten haben. 



Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (05.05.23, 10:52)
Offenbar fehlen die Fußnoten?
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram