SinnSpiel #7

Essay

von  JohannPeter

Es gibt die Lebenden, die Toten und jene, die über das Meer fahren.

 

(Platon)

 

Übers Meer fahren, Wellen, Wind und Himmel... In Gottes Hand - das bedeutet ja: unwägbaren Fährnissen ausgeliefert. Und schon das ist nur eine höchst halbe Wahrheit, denn zumeist steht ja die Wahl: fahren oder nicht fahren. Niemand, der etwas freiwillig tut, liefert sich in Wirklichkeit aus, er setzt sich nicht einmal aus... ausgesetzt - Findelkind, Maverick - das verlorene Kalb. 

Der verlorene Sohn kehrte heim und wurde aufgenommen, nicht verstoßen; wiedererlangt waren Heimat und Sohn. Und keines von beiden konnte mehr Voriges sein. Sohn ging fort, Heimat hielt ihn nicht. Das ist die einfachste Formel, sie stimmt in Aktiv und Passiv, je nach Betrachtung, was immer in Heimat oder Fremde geschehen war oder wird. Lukas bezeugt mit dem Gleichnis Verhaftetsein und Änderung, Werte und ihren Bestand durch ihren Wandel.

 

Platon wäre aber der Griechen großer Philosophen keiner, wenn die Sentenz nicht doch einen möglicherweise gänzlich anderen Sinn auch enthielte.

Denn hier bildet sich nicht nur eine Dreiheit ab, es ist außerdem eine Dualität vorhanden: die Lebenden mit den Toten, die jeweils Definierten gewissermaßen, und zur anderen Seite jene anderen eben... - da ist etwas Spannendes, fast Mystisches. Etwas Mythisches in jedem Fall. Platon, Geistesgenosse Homers, assoziiert über die Antike unmittelbar auch Troja, Odysseus, den Seefahrer. In Penelopes Augen und Sinn war er nicht tot, doch für sinnliche Gegenwärtigkeit war er nicht lebendig genug. War er etwas zwischen oder jenseits von beidem? Weder noch. 

 

Die Lateiner bringen es auf den adäquaten Punkt der navigatio vitae, Lebensfahrt, doch verkürzt die Übertragung den semantischen Wert erheblich. Denn navigatio ist nicht einfach Fahrt oder Reise. Das Morphem steht weit näher an navigare - steuern, lenken - als am deutschen reisen, verreisen (da denkt man an Postkutsche, Dampflok oder Flughafenterminal, wo uns immer jeweils andere navigieren: in Zylinder, Ledermütze oder weißem Hemd). 

Und schließlich ist da die Forderung: navigare necesse est! – das ist eben nicht einfach nur Reisen, da ist die Bestimmung eines Ziels inkludiert. Doch ohne dieses namhaft zu machen, ist die Forderung nur auf den Reisenden selbst zu beziehen: er selbst habe Ziel zu sein. Das ist zweifellos auch gemeint.

 

Die Griechen als Entdecker der Dialektik wußten um die Notwendigkeit der Einheit von Diesseits und Jenseits, Körper und Seele, von Macht und Geist.

Charon, der Fährmann, ist ja doch Seemann, Navigator, jedoch nicht bei den Lebenden und auch nicht bei den Toten. Die er fährt, sind es ebensowenig, noch nicht und nicht mehr zugleich, und er selbst ist gleichwohl keines von beiden. Er erfährt, indem er die Herabgestiegenen fährt - letzte Fahrt in letzter Fähre -, ihre Leben, ihren Tod, und so weiß er um das, was von ihnen als Bleibendes - nichtlebendes Leben - jenseits des Flusses ankommt und verbleibt, bewahrt wird.

 

Platon sagt, daß jene, die da reisen - über das Meer fahren -, Leben hinter sich lassen, um nicht zu sterben, denn tot sind sie eben nicht. Und so lange sie auf dem Meer weilen, vermögen sie nicht wirklich zu sterben. Ginge ihr Schiff unter, verblieben sie im Gedächtnis der Zurückgebliebenen als Lebendige, während sie selbst ihr Überlebendes mitnähmen in das Reich der Schatten. Ewig leben, die ihr Leben navigieren. 



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Kommentare zu diesem Text

kipper (34)
(07.05.23, 10:37)
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 JohannPeter meinte dazu am 07.05.23 um 10:51:
"Der Erfinder des Schiffs ist Erfinder des Schiffbruchs." - heißt es bei Luis de Gongóra in "Soledades", und ich glaube, daß du von mir als Literaten einfach zu wenig weißt, als daß du unterstellen dürftest, ich wüßte nicht, wie mit wirklichem Handwerkszeug- resp. Hammer und Eisen - umzugehen wäre , vom Schreibhandwerk noch zu schweigen. 
Es ist auf solcher Ebene nicht sachlich zu diskutieren, weil Platon mit Chris de Burgh nun endgültig nichts zu tun hat.
Da hättest du gleich Shocking Blue mit "Never merry a railroad man" beiführen können.

Sorry

JohannPeter.
kipper (34) antwortete darauf am 07.05.23 um 12:20:
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 JohannPeter schrieb daraufhin am 07.05.23 um 13:16:
»Le style est l'homme même« sprach der Comte de Buffon 1753. 
Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Ergo: wer hat dich ermächtigt, per Gebrauch des Plurals für die community zu sprechen?
Oder ist dieser Plural etwa pluralis majestatis? Peinlich, denn Krönung war gestern und in London.
Dein Stil ist nicht amüsant. Habe fertig.
Johann Peter.

 Graeculus (07.05.23, 17:01)
Ich habe diesen "Spruch Platons" - übrigens ein Kuckucksei, das auf Diogenes Laertios I,8 zurückgeht, wo der schlagfertige Skythe Anacharsis auf die Frage, wer mehr seien, die Lebenden oder die Toten, die Gegenfrage stellt, wohin man die rechnen solle, die zur See führen - immer, wie andere Anekdoten und Bonmots im Umfeld der Stelle nahelegen, auf die Gefährlichkeit der antiken Seefahrt bezogen. Man schwebte dabei quasi immer zwischen Leben und Tod.
Sozusagen eine Vorabentdeckung von Schrödingers Katze.

Von Platon stammt der Spruch jedenfalls nicht.

Kommentar geändert am 07.05.2023 um 17:02 Uhr

Kommentar geändert am 07.05.2023 um 17:06 Uhr

 Graeculus äußerte darauf am 07.05.23 um 17:08:
Als Parallelstelle kommt in Betracht der pseudo-platonische Dialog Axiochos:

ἀλλὰ τὸν πλωτικὸν καταλεξώμεθα, περαιούμενον διὰ τοσῶνδε κινδύνων καὶ μήτε, ὡς ἀπεφήνατο Βίας, ἐν τοῖς τεθνηκόσιν ὄντα μήτε ἐν τοῖς βιοῦσιν; ὁ γὰρ ἐπίγειος ἄνθρωπος ὡς ἀμφίβιος αὑτὸν εἰς τὸ πέλαγος ἔρριψεν, ἐπὶ τῇ τύχῃ γενόμενος πᾶς.

Des Seemanns wollen wir wohl dagegen gedenken, der unter so großen Gefahren seine Fahrten zurücklegt und weder, wie Bias behauptete, den Toten noch auch den Lebenden angehört? Denn der dem Lande angehörige Mensch stürzt sich, wie ein beidlebiges Geschöpf, in das Meer, in dem er so ganz dem Zufall preisgegeben ist.
[368b-c]

 Graeculus ergänzte dazu am 07.05.23 um 17:10:
Nichtsdestotrotz freue ich mich, daß Du ein Thema aus der Antike ins Gespräch bringst.

 JohannPeter meinte dazu am 07.05.23 um 18:06:
Meine Quelle kann ich nicht mehr genau benennen, es war aber seinerseits als Zitat in einer literarischen Arbeit. Mein Text ist ein paar Jahre alt. Ich weiß aber, daß dieser Spruch im allgemeinen Platon zugeschrieben wird.
Aufgrund deiner Anregung habe ich nochmal nachrecherchiert, und siehe da:
https://www.albertmartin.de/altgriechisch/forum/?view=542
Da wird zwar recht akademisch gefochten, allerdings kommt dabei der eigentliche oder auch - wie in meiner Lesart - weiterreichende Sinn etwas ins Hintertreffen.
Im Endeffekt geht es bei meinen SinnSpielen darum, solche Sinnsprüche, Sentenzen usw. auf ihren heutigen Sinnbestand hin zu betrachten. 
Zur Quellengenauigkeit werde ich mir freilich was einfallen lassen. Danke jedenfalls für den Hinweis.

 Graeculus meinte dazu am 07.05.23 um 18:13:
Oh, dieser Γραικίσκος (heute Γραικύλος) bin ich. Daß jemand dieses Forum hier einmal einführt und ich jemandem begegne, der es nutzt, freut mich.
Uns ging es damals zunächst darum, woher dieser Ausspruch eigentlich stammt - und siehe, es ist nicht Platon.
Die Betrachtung auf den Sinnbestand hin steht Dir natürlich frei. Ich war damals mit der Analogie zu Schrödingers Katze zufrieden.
kipper (34) meinte dazu am 07.05.23 um 19:41:
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 Graeculus meinte dazu am 07.05.23 um 20:21:
Vielleicht kennt kipper ja eine Kultur, die mehr auf Seefahrt gesetzt hat als die griechische. Ich nicht.

Und auch wenn es hier um Platon nicht geht, der hat drei Seereisen nach Syrakus unternommen. (Nachzulesen bei Diogenes Laërtios.)
kipper (34) meinte dazu am 07.05.23 um 22:43:
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