Turbulenzen

Geschichte zum Thema Langeweile

von  Elisabeth

Dieser Text ist Teil der Serie  Leuvenhooks Abenteuer im Sonsyst

Leuvenhook war schon vor Betreten der Wartehalle unwohl gewesen. Aber er hatte dieses Unwohlsein auf das Ende seines ersten Urlaubs, dessen letzten Teil er nun doch im Raum verbringen mußte, um pünktlich zum Rendezvous mit der Dragon auf MerkurOrsta zu sein, auf das Essen in dem hawaiianischen Stehimbiss in Antwerpen und schließlich auf die stechenden Blicke der großen, wasserblauen Augen eines Royal Space Police-Offiziers geschoben, der in Antwerpen am benachbarten Schalter des Lunaport-Shuttledienstes gewartet hatte. Und nun stand dieser RSP-Mann auch in der Wartehalle für die Flüge systeinwärts.


Um sich die Zeit zu vertreiben, betrachtete Leuvenhook nun seinerseits den RSP-Mann in seiner schwarzen Uniform, den RSP-Emblemen an beiden Schultern, dem schwarzen SchnellLadeLaser-Halfter an der linken Seite der Brust. UK Peabody stand auf seinem Namensschild, der schwarzhaarige Mann schien aber noch recht jung für einen Unterkommissär, er erinnerte eher an einen noch von Pubertätspickeln geplagter Jüngling. Vermutlich stand in den Akten hinter dem 'Peabody' noch ein Namenszusatz wie Lord Irgendwas oder Marquis de Sonstwoher.

Der junge Mann lächelte ihm zu.

Leuvenhook lächelte freundlich aber unverbindlich zurück, suchte dann in seiner Uniformjacke nach der neusten Ausgabe des Raum-Transport-Gesetzes, das er sich in Antwerpen am Raumhafen gekauft hatte, und begann zu lesen.

*


Mit einer Stunde Verspätung schickte schließlich der Wasserfrachter 'Najade' ein Shuttle hinunter zum Lunaport und Leuvenhook und UK Peabody betraten fast simultan die Schleuse zum Flextu.

"Fliegen sie auch zur MerkurOrsta?" fragte Peabody mit einer etwas affektiert klingenden Stimme.

Zur Antwort nickte Leuvenhook nur. Angesichts des beständig stärker werdenden, beunruhigenden Gefühls in seinen Eingeweiden war ihm nicht nach Gesprächen zumute.

Der junge Mann respektierte Leuvenhooks Schweigen und sprach kein weiteres Wort, bis das Shuttle sie in den Hangar der 'Najade' entließ. "Kennen sie dieses Schiff schon?" fragte er dann.

Leuvenhook war während des Shuttlefluges ernsthaft übel geworden und er wünschte sich nichts anderes, als endlich sein Quartier an Bord der 'Najade' aufsuchen zu können. "Nein", antwortete er kurzangebunden, weil er fürchtete, ein Kopfschütteln würde zu einer vorzeitigen Entladung seiner Übelkeit führen.

Eine rundliche Frau mit auffallend roten Wangen kam auf sie zu und begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln. "Mein Name ist Maria Kepourou, ich bin Kommunikationsoffizier der 'Najade'. Herzlich willkommen an Bord. Ihre jeweiligen Dienststellen haben uns kontaktiert. Ich war so frei, ihnen eine gemeinsame Kabine zuzuweisen, weil wir eigentlich nicht für den Transport von Passagieren eingerichtet sind."

Der letzte Satz brachte Leuvenhook trotz des nun auch noch einsetzenden, leichten Schwindelgefühls zum Lächeln. Wie oft hatte er diese Argumentation schon Diplomaten oder anderen adligen Reisenden gegenüber gebraucht. Aber man hatte als Befehlsempfänger des Empires keine Wahl. Eine Einquartierung hieß eben, daß die Mannschaft zusammenrückte und die 'Gäste' eine der Mannschaftskabinen bekamen. Es war seltsam und zugleich befriedigend, einmal auf der anderen Seite zu stehen.

Nur leider war es eine Kabine mit zwei entsetzlich kurzen Betten, die zum Gästequartier gemacht worden war. Das umlaufende Blumengirlandenmuster an der Wand, die Samtrüschen um die Lampen und um die Belüftungsstutzen waren ja noch zu verkraften, aber die wirklich sehr kurzen Kojen, die außerdem am Kopf- und am Fußende mit vorschriftswidrigen Holzbrettern versehen waren, würden ihm nicht einmal eine annähernd ausgestreckte Liegeposition ermöglichen - und UK Peabody sicher auch nicht, auch wenn er vielleicht zwei oder drei Spacezoll kürzer war.

"Wo ist bitte der Waschraum?", fragte Leuvenhook, nachdem er seine vorschriftsmäßige Raumtasche auf das unvorschriftsmäßige untere Bett gelegt hatte. Wenn er noch länger wartete, hatten sie alle etwas von der Bescherung.

Kepourou öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder und wies ihm die Richtung. "Gleich nebenan", erklärte sie noch. Anscheinend hatte sie erfaßt, daß Leuvenhook ein Problem hatte, doch sie ließ sich, wie jeder gute Kommunikationsoffizier, natürlich nichts anmerken.

"Bestehen Sie auf das untere Bett, Leuvenhook?", fragte Peabody, als Leuvenhook schon raschen Schrittes hinausging.

"Ich denke, das können sie auch nach dem Abendessen klären", hörte Leuvenhook Kepourou noch sagen, dann schloß die automatische Hydraulik die Tür des Waschraums. Tür verriegeln, Uniformjacke ablegen, Deckel hoch und...

Nach mehreren Wellen, die Leuvenhooks Magen in immer kürzeren Abständen auf den Weg geschickt hatte, schien langsam so etwas wie eine Beruhigung einzutreten. Versuchsweise richtete er sich auf, ah, es ziepte doch schon wieder - und es ging weiter.

*


Nach einer halben Stunde wagte Leuvenhook schließlich, den Waschraum zu verlassen, aber richtig wohl fühlte er sich noch immer nicht - nur nicht mehr so akut in Nöten. Die Kabine... er hatte sich die Nummer nicht gemerkt. War er nach rechts oder nach links zum Waschraum gegangen? Das unterschwellige Brummen des Frachters erinnerte Leuvenhook an die 'Prinses'. Anscheinend beschleunigte die 'Najade' noch immer, um auf ihre Reisegeschwindigkeit zu kommen. Natürlich, es dauerte Ewigkeiten, einen so riesigen Pott und seine Ladung in Bewegung zu setzen - oder wieder abzubremsen, auch im luftleeren Raum.

Also rechts oder links? Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Also klopfte er an die rechts des Waschraums liegende Tür und wartete.

"Herein", kam die Antwort einer etwas affektiert klingenden Männerstimme. Treffer!

Leuvenhook betrat die Kabine, Peabody lehnte stehend mit dem Rücken an der Wand und hielt den Zeigefinger der Rechten zwischen die Seiten eines kleinformatigen Buches. Das sah eher nach privater Lektüre als nach Richtlinien der RSP aus. Er nickte Leuvenhook zu und öffnete das Buch wieder, wohl um weiterzulesen.

"Selbstverständlich können Sie das untere Bett haben, wenn Sie das bevorzugen, Peabody", sagte Leuvenhook, als habe sein Intermezzo im Waschraum nicht stattgefunden. "Ich war nur genötigt... und wollte die Raumtasche sicher abgestellt wissen."

Peabody nickte. "Natürlich, Leuvenhook. Ich danke ihnen. Ich habe inzwischen angefragt, ob wenigstens an den Fußenden der Betten die Bretter entfernt werden können, denn sonst wird das ja ein sehr ungemütliches halbes Jahr."

Vielleicht hatte der Jüngling seiner Familie den Rang zu verdanken, aber immerhin dachte er auch an seine Leidensgenossen. "Da möchte ich Ihnen danken, Peabody. Dürfen wir die Bretter denn entfernen?"

Sie durften und das RSN-Werkzeug-Set, das Leuvenhook im Utensilienfach seiner Raumtasche mitzuführen pflegte, hatte auch die passenden Aufsätze für die verwendeten Schrauben.

Der Gong zum Abendessen erklang, und auch in der Messe, einem der Räume, die am weitesten von den Antriebsdüsen des riesigen Schiffes entfernt liegen mußten, war das Brummen zu hören. Wahrscheinlich brauchte ein vollgeladener ziviler Frachter einfach noch länger zur Beschleunigung, als ein RSN Versorger.

Auch nach dem Abendessen, bei dem Leuvenhook vorsichtshalber nur ein paar Bissen von einem trockenen Stück Brot genommen hatte, brummte es noch; als die Lichter ausgingen brummte es noch; die selbstleuchtende Kabinenuhr zeigte 2 Uhr Schiffszeit an und es brummte noch, lauter als die jugendlichen Schnarchgeräusche von Peabody. An Schlaf war nicht zu denken. Die 'Prinses' hätte inzwischen sicher kein Gas mehr für den Zündfunken gehabt.

*


Auch am darauf folgenden Tag brummte es und nach dem Mittagsessen, bei dem er schon wieder zu essen wagte, suchte Leuvenhook Kepourou auf.

"Frau Kepourou, was brummt hier eigentlich so beständig? Ist das noch immer der Antrieb?"

Kepourou lächelte. "Das kommt durch unsere Umwälzpumpen. Sie werden sich sicher schnell daran gewöhnen, CPO Leuvenhook. Ich nehme es schon seit Jahren gar nicht mehr richtig wahr."

"Ihre... Umwälzpumpen?"

"Für das Wasser", erklärte Kepourou. "In jedem Tank sorgen zwei elektrische Pumpen für die ständige Bewegung unserer Ladung, damit sie nicht gefriert, sondern immer schön die optimale Temperatur von 4 Grad Celsius behält. Genaugenommen hören Sie die durch die Bewegung des Wassers verursachte Vibration des Schiffskörper der 'Najade'; das Pumpsystem ist praktisch lautlos. Und da die Tanks um den ganzen Schiffskern herum angebracht sind, hören Sie überall auf dem Schiff das 'Brummen' wie sie es nennen. Ich empfinde es eher als sowas wie den Lebenspuls unserer 'Najade'." Und sie lächelte wieder breit. "Wenn Sie es wünschen, kann ich Sie auch gerne einmal herumführen."

Der Wasserfrachter hatte tatsächlich eine so eindrucksvolle Größe, daß das jeweils mit der Pumpenwartung beauftragte Mannschaftsmitglied den Weg durch die 'Große Halle', eine lange Röhre von schätzungsweise fünfzehn Spacefoot Durchmesser, an der sämtliche Tanks und ihre Bedien- und Wartungselemente hingen, mit einem Fahrrad zurücklegte, damit die gesamte Tour in den knapp vier Stunden zwischen den Mahlzeiten zu bewältigen war. Mit der 'Najade' verglichen war die 'Prinses' ein Winzling, dabei gehörte sie zu den größten Schiffen der RSN.

Gedacht war das Wasser zum größten Teil für VenusOrsta und das Habitat auf der Planetenoberfläche. Die auf Venus geleerten Wassertanks würden der Aufnahme dort geförderter Edelgase dienen, die wiederum für Terra bestimmt waren, aber vor dem Rückflug würden der Rest des Wassers und die Passagiere selbstverständlich zur Forschungsstation MerkurOrsta gebracht werden. Und Kepourou lud Leuvenhook ein, nach dem Abendessen zusammen mit der Besatzung in der Großen Halle zu singen.

Der Kapitän wiederholte nach dem Abendessen die Einladung zum Singen und richtete sie ausdrücklich an beide Passagiere, so daß Leuvenhook und Peabody sie nicht ausschlagen konnten, ohne unhöflich zu wirken. Als sie eintrafen, erwarteten der Kapitän und die sieben Mannschaftsmitlieder sie schon nahe des Umlifts, der von den Mannschaftsquartieren in die Große Halle führte. Kepourou reichte jedem von ihnen ein kleines Buch. "Wir singen heute das erste Stück", erklärte sie.

Eine der acht Frauen kicherte vernehmlich, als Leuvenhook Kepourou nach einem Blick in das Buch entgeistert anstarrte.

"Das ist Griechisch", erkannte Peabody, "ein orthodoxer Hymnos, nehme ich an."

"Das ist richtig", bestätigte der Kapitän, "aber das Gesangsbuch ist zweisprachig. Drehen sie es einfach um, dann haben sie den Text in lateinischen Buchstaben. Das Original und die Transpription treffen sich in der Mitte. Und singen Sie gerne eine Oktave tiefer als wir, das wird die Klangfülle erhöhen."

Ein Mannschaftsmitglied gab den Gästen den Anfangston vor, dann begann die Besatzung der 'Najade' zu singen. Der getragene Gesang klang fremdartig und doch irgendwie vertraut, er schien die ganze Große Halle zu erfüllen und Leuvenhook hatte das Gefühl, daß das Brummen - oder vielleicht eher das Summen der Wassertanks sich dem Gesang anglich.

Wieder lachte jemand.

"Jetzt noch einmal alle", verlangte der Kapitän.

Das Klangerlebnis hatte Leuvenhook tatsächlich so sehr abgelenkt, daß er nicht mitgesungen hatte. Also bemühte er sich nun, die fremdartigen Worte mitzusingen.

*


Kepourou hatte Recht gehabt, Leuvenhook hörte nach zwei Tagen das Brummen nicht mehr. Nach einer Woche wußte er nicht mehr, was an Peabodys Stimme er als affektiert empfunden hatte. Und als sie bei den täglich wechselnden Liedern des abendlichen Gesangs wieder beim ersten Lied angekommen waren, fühlte Leuvenhook sich erheblich sicherer damit und konnte auch während des Singens den Klang in der Großen Halle genießen.

Peabody hatte ein Reise-Schachspiel dabei, um sich die Zeit mit Partien gegen sich selbst zu vertreiben, aber nun verbrachten er gemeinsam mit Leuvenhook viele Stunden beim Schachspiel. Peabody erzählte, daß er dazu ausersehen war, für die nächsten vier Jahre auf MerkurOrsta den sonnennächsten Posten der RSN zu übernehmen. Er freute sich, daß er wenigstens während der Anreise und der ersten Tage auf seinem neuen Posten noch Leuvenhooks Gesellschaft haben würde. Er scherzte gelegentlich über seine bevorstehende Zeit als Einsiedler, denn aktuell war die Forschungsstation auf MerkurOrsta nicht besetzt. Das für das kommende Jahr geplante, etwas kontroverse Forschungprojekt war vom Wissenschaftsministerium bisher noch nicht genehmigt worden.

Und er erzählte von seiner Begeisterung für die französische Dichtkunst, zitierte bei jeder sich bietenden Gelegenheit den einen oder anderen Vers, so daß Leuvenhook nach wenigen Tagen bereits schwer beeindruckt von dem umfassenden Wissen und dem Gedächtnis Peabodys war. Leuvenhooks eigenen, eher allgemeinen Kenntnisse der Dichtkunst reichten nur für eine halbwegs gepflegte Konversation.

Als Peabody dessen gewahr wurde, sah er es als seine Aufgabe an, dem Kommunikationsoffizier der Dragon in dieser Hinsicht Nachhilfe zu geben. Er überließ ihm das Buch, in dem er in den ersten Stunden an Bord der 'Najade' gelesen hatte, forderte seinen Kabinengenossen auf, es durchzulesen und sich dann wenigstens zehn Gedichte auszusuchen, die er bis zur Ankunft auf MerkurOrsta auswendig lernen würde.

"Das könnte ich nicht einmal schaffen, wenn die Reise doppelt so lang wäre", war Leuvenhook überzeugt. Vier Wochen später allerdings suchte er sich die nächsten zehn Gedichte zum Auswendiglernen aus. Und als er sich Eselsbrücken zurechtlegte für ein Gedicht über süße Versuchungen aller Art, fielen ihm die aufgerollten, knusprigen Waffeln seiner Großmutter ein, die diese Rollen 'Süße Versuchungen' genannt hatte.

Er meinte, sich richtig an das Rezept zu erinnern, aber es ließ ihm keine Ruhe, es nicht überprüfen zu können. Also überredete er die Köchin, ihm die nötigen Materialien und einen abgebrochenen Pfannenstiel zu überlassen, um die er den dünn ausgerollten Teig zu Röllchen formen konnte. Die Waffelrollen kamen so gut an, daß er von da an mehrfach gebeten wurde, sie zu backen. Peabody gelangen sie nach einigen Anläufen unter Leuvenhooks Anleitung ebenfalls, so daß er sich später die Einsamkeit auf MerkurOrsta würde versüßen können; und auch die Köchin der 'Najade' übernahm das Rezept von Leuvenhooks Großmutter auf vielfachen Wunsch der Mannschaft in ihr Repertoire.

Nachdem die 'Najade' zweieinhalb Monate nach dem Start die Ladung für Venus und VenusOrsta gelöscht hatte, halfen Peabody und Leuvenhook aus purer Langeweile dabei, die leeren Wassertanks mit speziellen Plasticsäcken auszukleiden, die erst den Transport von Gas in den Wassertanks erlaubten. Als Kepourou in einem Nebensatz die Bemerkung fallen ließ, das sie fühlen könne, daß nur noch ein Zweihundertstel der Tanks der 'Najade' mit Wasser befüllt seien, nickte Leuvenhook unwillkürlich. Das unterschwellige Brummen, das Rauschen des Blutes in den Adern dieses gigantischen Raumwals, hatte seinen Klang geändert. Beim abendlichen Singen war es ihm aufgefallen.

Als es nur noch wenige Wochen bis zur Ankunft auf MerkurOrsta waren, wurde Leuvenhook fast ein wenig wehmütig. Sobald sie von Bord gingen, würde es keinen abendlichen Gesang mehr in der Großen Halle der 'Najade' geben. Und sobald die Dragon ihn aufnahm, würde auch das Schachspiel mit Peabody der Vergangenheit angehören. Wenn der RSN-Mann nicht innerhalb der nächsten vier Jahre offizielle Post bekam, die von der Dragon zugestellt wurde, würde Leuvenhook ihn wohl nicht noch einmal wiedersehen. Vielleicht ging es Peabody ähnlich, denn er fragte in immer kürzeren Abständen nach weiteren Rezepten von Leuvenhooks Großmutter.

*


Dann war es soweit, sie hatten den sonnennächsten Punkt des Empires erreicht. Sie gingen von Bord, Peabody als verantwortlicher Offizier fuhr die Systeme der Orsta hoch, die 'Najade' füllte zwei Wassertanks der MerkurOrsta, man verabschiedete sich artig und die 'Najade' legte wieder ab.

Drei Tage später fragte Peabody beim gemeinsamen Frühstück: "Sollte die Sonne nicht immer auf der selben Seite der Orsta stehen?"

"Tut sie das nicht?" Leuvenhook hatte gelesen, daß die MerkurOrsta nicht geostationär um die Achse des Merkurs kreiste, sondern immer zwischen Merkur und Sonne stand, um die Erforschung der Sonne und die Auswirkungen der Sonnenstrahlung auf die für Orstas und Raumschiffe verwendeten Materialien zu erleichtern. Auch während ihres zweimonatigen 'Winterschlafs' vor Ankunft der 'Najade' war die Orsta auf Kurs geblieben, und einen Alarm wegen einer Fehlfunktion der Maschinen oder der Steuerung hatte es bisher nicht gegeben.

"Sie scheint in das Bullauge auf der Schattenseite", erklärte Peabody und meinte damit natürlich die Sonne. Also machten sie sich auf den Weg, um das Phänomen gemeinsam zu prüfen.

Die Sonne schien nicht nur in das Bullauge auf der Schattenseite, sie war durch das getönte Glas auch zu sehen. "Naja, das ist ja nun nicht verwunderlich, daß sie weitergewandert ist. Es ist ja schon eine Stunde her, daß ich..." Dann fiel Peabody auf, daß die Sonne eben nicht über der Orsta auf- und untergehen sollte. "Irgendwas stimmt hier nicht."

Leuvenhook gab ihm mit einem Nicken recht. Offenbar drehte die Orsta sich.

Sie gingen in die Steuerungszentrale und prüften die Schalter der Steuerdüsen anhand des dort ausliegenden Handbuches. Die Einstellungen waren alle korrekt. Sie prüften die Schalter der Auslassventile, ebenso wie die Steuerdüsen waren sie aktuell alle, wie sie es sein sollten, geschlossen. "Ein Funktionsfehler einer der Düsen oder Ventile?" Das konnten sie nur von außen überprüfen.

*


Mithilfe des Handbuches zeichnete Leuvenhook eine einfache Karte der Position der acht Steuerdüsen und vier Auslassventile des Zentralelementes auf die Schiefertafel, befestigte die Tafel an dem dafür vorgesehenen Haken an seinem Raumanzug und begab sich in die Raumschleuse des Zentralelementes der Orsta.

Peabody schloß hinter ihm die Innentür. "Denken Sie daran, Ihr Sicherheitsseil einzuhaken", erinnerte er Leuvenhook über die Gegensprechanlage.

Leuvenhook streckte die Hand aus, in der er den Karabiner des Seils, dessen Spule unterhalb der Sauerstoffflasche am Rücken des Raumanzuges befestigt war, hielt, so daß Peabody es sehen konnte.

"Alles klar", bestätigte Peabody und betätigte den Freigabeschalter für die Außentür der Schleuse.

Als Leuvenhook sah, daß die Außentürkontrolle innerhalb der Schleuse aktiviert worden war, hakte er das Seil vorschriftsmäßig in die Halterung innerhalb der Schleuse und betätigte dann den Schalter für die Außentür. Das Pumpensystem sprang an und als die Luft komplett aus der Schleuse gepumpt worden war, sprang die Kontrollanzeige der Tür von 'bereit' auf 'aktiv' und das Schott öffnete sich langsam.

Als die Öffnung groß genug war, ging Leuvenhook etwas in die Knie, um von der Türkante aus hinaus zu springen, und von dem Schwung gleich zur ersten Steuerdüse links neben der Schleuse getragen zu werden. Die reine Sichtkontrolle zeigte, daß die Steuerdüse eindeutig geschlossen war, trotzdem steckte er die mit einem elastischen Seil an seinem Gürtel hängende Testflasche auf den Stutzen. Wie erwartet, bewegten sich die Wattekügelchen darin nur träge, anstatt von einem Gasstrom herumgewirbelt zu werden. Mit dem Griffel, den er an der dafür vorgesehenen Halterung am Zeigefinger seines rechten Handschuhs befestigt hatte, markierte Leuvenhook die Düse auf der Schiefertafel als kontrolliert und katapultierte sich mit einem kontrollierten Hopser weiter zur nächsten. Er prüfte auch diese Düse, dann kam das erste Auslaßventil, danach die dritte Düse und die vierte und endlich machte er an der letzten Düse, der Nummer 11 seiner Karte, den Kontrollhaken. Es fehlte noch Nummer 12, das letzte Auslassventil, das er zwar von hier aus sehen konnte, das aber fast an Leuvenhooks Ausgangspunkt, rechts neben der Schleuse der Orsta montiert war. Da es streng verboten war, das Halteseil zu lösen, bevor man die Schleusentür wieder von innen verschlossen hatte, zog Leuvenhook sich also zunächst am Stahlseil zurück zur Schleuse und sprang dann zur Nummer 12, um diese zu prüfen. Auch da stimmte die Anzeige der Kontrollleuchte, sie war inaktiv.

"Ich habe alle Düsen geprüft, alle sind verschlossen, die Kontrollleuchten sind also intakt", berichtete Leuvenhook, als er sich mit Peabodys Hilfe aus dem Raumanzug geschält hatte. Er packte die Teile des Anzugs zurück in die passenden Halterungen und schloß auch das Ventil der Sauerstoffflasche an den Wartungsstutzen an, damit sie aufgefüllt wurde. Ihn wunderte, am Auslassventil seines Raumanzuges, auf der Rückseite des Helms, eine feine Spur Eiskristalle zu entdecken, so nah an der Sonne war das eigentlich nicht zu erwarten gewesen. Sein Blick schweifte bei diesem Gedanken zum Bullauge der Schleuse und nun blickte er direkt auf den Merkur, der das ganze Blickfeld einnahm und dann langsam nach links verschwand.

Peabody folgte seinem Blick. "Ich glaube, die Rotation der Orsta ist schneller geworden."

Und da kam von rechts unten schon wieder der Merkur in das Sichtfeld, das die Schleuse bot, um kurz darauf nach oben links zu verschwinden. "Wir trudeln", stellten beide Männer zeitgleich fest.

"Sind die Tanks dicht?" Sie liefen wieder in die Steuerungszentrale und kontrollierten die Anzeige. Kein Druckabfall bei Wasserstoff, Sauerstoff oder Wasser, die Atmosphäre der Orsta hatte die vorschriftsmäßigen 0,85 bar und auch die Kontrollleuchten des Hiseq-Systems des Zentralelementes mit seinem Wasserkreislauf und dem Fabsab waren alle auf grün.

Peabody schien bereits unter Angstschweiß zu leiden, denn er wischte sich seine offensichtlich nassen Handflächen an einem Taschentuch ab. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. "Was ist mit dem Wassertank im Zylindermodul 2a, den die 'Najade' ebenfalls befüllt hat?" fragte er. Die Kontrollen der Tanks des Zylindermoduls waren natürlich an der Anschlußstelle des Moduls und nicht in der Steuerungszentrale, also eilten sie dorthin.

ZM2a war an ZM2 befestigt, das seinerseits am nahezu kugelförmigen Zentralelement befestigt war. Inzwischen war die Trudelbewegung der Orsta so stark, daß es der Graviter der Orsta nicht mehr schaffte, die Fliehkräfte dieser Bewegung zu neutralisieren. Und da die MerkurOrsta, die inzwischen wie ein voll aufgepumpter und plötzlich losgelassener Ballon über die Merkuroberfläche trudelte und dabei schlingerte wie ein gewöhnliches Schiff im Sturm auf hoher See, gestaltete sich das Vorankommen in den schmalen Korridoren des Zylindermoduls mühsam. Endlich standen sie an der Andockstelle von ZM2a, durch ein Bullauge kurz davor konnten sie eine Art schmalen, weißen Kometenschweif sehen, der in Richtung des Zentralelementes breiter wurde, also wohl bei ZM2a seinen Ausgangspunkt hatte.

Gemeinsam öffneten Peabody und Leuvenhook die Drucktür und sahen sich direkt einer rot blinkenden Kontrollleuchte an dem Kontrollpanel gegenüber. Dort war auch ein Schild angebracht: "Dichtung des Ventilstutzens A an Wassertank ZM2a spröde, Ersatzteil ist angefordert."

"Was...", begann Leuvenhook, der nun doch selbst etwas panisch wurde. Bei der Geschwindigkeit, mit der der Merkur immer dichter am Bullauge vorbeizog, würden sie in wenigen Stunden dort aufschlagen.

"Wir... wir müssen das Wasser aus dem Tank bekommen", begann Peabody nachdenklich. "Natürlich kontrolliert, am besten in den Tank der ZM2. Gibt es nicht irgendwelche Schläuche, mit denen das Hiseq-System im Bedarfsfall aus den Tanks nachgefüllt werden kann? Damit können wir es vielleicht aus dem defekten Tank in den des ZM2 pumpen."

Leuvenhook erinnerte sich auch, schon einmal Hiseqmitarbeiter mit Schläuchen und Handpumpen hantieren gesehen zu haben. "Und danach können wir mit den Steuerdüsen die Orsta wieder zu ihrer ursprünglichen Position zurückfliegen", gab er seiner Hoffnung Ausdruck.

"Wenn wir es rechtzeitig schaffen, bevor..." den Rest sparte Peabody sich. "Um Wasserverlust zu vermeiden ist das Schlauchsystem vermutlich an den Tanks angebaut. Ich denke, da sollten wir anfangen", schlug er dann vor. "Einer sucht am Tank der ZM2 und einer am Tank der ZM2a, vermutlich können sie sogar gekoppelt werden. Irgendwas muß da zumindest vorhanden sein."

Leuvenhook war froh, eine Aufgabe zu haben und lief zum Lageplan von ZM2. Da war der Wassertank dieses Zylindermoduls, da... der 'Ventilstutzen außen', und, ja, da war der 'Ventilstutzen innen'. Leuvenhook lief durch den Gang, in einer Nische war die Klappe, hinter der der innere Ventilstutzen liegen sollte, und natürlich war die Klappe verschlossen. Das war der standardmäßige Vierkant-Bolzen, mit dem alle Hiseq-Einrichtungen vor dem zufälligen Zugriff gesichert waren. Es gab an seinem Werkzeug-Set einen Aufsatz, der passen mochte.

Sich an den Korridorwänden abstützend lief Leuvenhook durch die trudelnde Station in das Gästequartier mit dem bequemen Bett, das ihn eine gemütliche Wartezeit auf die 'Dragon' hatte annehmen lassen. Mit dem Werkzeug-Set drehte er gleich wieder um, erreichte die Klappe und es gelang ihm wirklich, sie zu öffnen. Dahinter war ein zusammengerollter Schlauch, der fest mit dem Ventilstutzen verbunden schien und eine Steckschraubkopplung am freien Ende hatte, daneben eine Anzeige der Füllhöhe des 10 Kubikmeter-Tanks: der Zeiger stand auf 0 %. Unterhalb des Ventilstutzens waren zwei Hebelschalter, die mit 'Motorpumpe Entnahme' und 'Motorpumpe Aufnahme' beschriftet waren. Leuvenhook nahm den Schlauch von seiner Halterung und entwickelte ihn auf seinem Weg zur ZM2a auf den Boden. Der Schlauch reichte knapp zwei Meter weiter als bis zur Andockstelle der ZM2a.

"Peabody, haben Sie die Hiseq-Klappe schon gefunden?" rief Leuvenhook in den dunklen Gang. Bis auf die rote Warnleuchte konnte er praktisch nichts sehen. Nahe der Andockstelle sollte doch auch ein Schalter für die Beleuchtung zu finden... ja.

Peabody kniete auf dem Boden und versuchte, mit seinen Fingernägeln die Hiseqklappe von ZM2a zu öffnen. Ein Wunder, daß er sie im vorherigen Dämmerlich überhaupt gefunden hatte. "Ich habe einen Schlüssel", bot Leuvenhook an, Peabody machte ihm Platz und schnell war auch der andere Schlauch entrollt. Erfreulicherweise paßten die beiden Steckschraubkopplungen der Schäuche perfekt aufeinander. Die Füllhöhe dieses 10 Kubikmeter-Tanks war knapp unter 60 %, dabei hatte die 'Najade' den Tank ganz sicher komplett gefüllt.

"Ich denke, zuerst sollte in ZM2 der Aufnahmeschalter umgelegt werden, dann hier der Entnahmeschalter", schlug Peabody vor.

"In Ordnung", bestätigte Leuvenhook und kehrte zur Klappe des Wassertanks von ZM2 zurück. "Schalter Aufnahme umgelegt!" rief er den Korridor hinunter zur ZM2a. Sirrend startete der Elektromotor in der Wand und der zuvor in Wellen auf dem Boden liegende Schlauch spannte sich.

"Schalter Entnahme umgelegt", kam Peabodys Antwort. Und es begann, im Schlauch zu gluggern.

Leuvenhook überkam es angesichts dieses Geräusches, leise seine Lieblingshymne von der 'Najade' zu summen. Vielleicht half es nichts, aber es beruhigte ihn. Da sie beide, solange das Wasser aus dem defekten Tank noch nicht entfernt war, ohnehin nichts anderes tun konnten, setzte er sich auf den Boden, hörte dem Wasser beim Fließen zu, summte das Lied etwas lauter und begann schließlich, es ernsthaft zu singen. Aus dem Korridor von ZM2a gesellte sich Peabodys Stimme dazu.

Als das Lied zuende war, bemerkte Peabody rufend: "Kein so guter Klang wie in der Großen Halle, dafür ist das Wasser hier deutlich näher."

Leuvenhook nickte, dann begann er das Lied noch einmal von vorne. Der Tank der ZM2 war gerade erst zu 20 % gefüllt. Der Gesang verhalf Leuvenhook trotz der noch heftigen Bewegungen der Orsta zu einer Art meditativem Zustand. Plötzlich sah er, daß die Anzeige bereits auf 30 % stand und Peabody ein anderes Lied sang. Hatten sie das vorherige denn beendet? Ohne weiter darüber nachzudenken, stimmte Leuvenhook jedoch mit ein.

45 % Tankfüllung im ZM2 und die Orsta bewegte sich nicht mehr, der Graviter war wieder in der Lage, sie in der Ruhe zu halten. Damit war ein Absturz binnen kurzem auch unwahrscheinlich geworden. Was für eine Erleichterung! Und Leuvenhook gestattete sich, für einen Moment die Augen zu schließen.

*


Leuvenhook erwachte sitzend, auf dem Plastic-Fußboden des ZM2-Korridors neben der offenen Hiseq-Klappe, in der der Schlauch wieder fein säuberlich aufgerollt hing und die Pumpenschalter beide in der 'Aus'-Position waren. Die Tankfüllung war bei knapp 59 %, anscheinend hatten sie es wirklich geschafft.

Leuvenhook erhob sich mit steifen Beinen, schloß die Klappe ab, stakste etwas mühsam durch den Korridor zur ZM2a und schloß auch diese Klappe. Auf dem Rückweg zum Zentralelement gehorchten seinen Beine ihm dann wieder richtig, er schaltete die Beleuchtung des Korridors der ZM2a aus und schloß die Drucktür wieder, dann ging er in die Steuerungszentrale, in der er Peabody vermutete.

Dank Peabody hatte die MerkurOrsta inzwischen wieder an Höhe gewonnen und den Kurs zu ihrer ursprünglichen Position eingeschlagen. "Noch zehn Minuten, dann können wir die Düsen abschalten; noch weitere zehn Minuten, dann beginnen wir den Bremsvorgang."

Leuvenhook nickte. "Danke, Peabody", sagte er. Und dann noch knapp zwei Wochen, bis ihn die 'Dragon' aufnahm.

"Ich danke Ihnen, Leuvenhook. Ich denke, ohne Ihr Werkzeug-Set wären wir nicht so weit gekommen", gab Peabody zurück, "und mein Name ist Alister."

"Angenehm, Vincent", Leuvenhook schüttelte die ihm angebotene Hand.

* * *


Anmerkung von Elisabeth:

Diese Geschichte habe ich 2008 angefangen (die ersten paar Absätze beruhen darauf), weiter- und fertiggeschrieben habe ich sie 2023. Da ich keine genauen Notizen zu meinem Plan von 2008 hatte, ist die eigentliche Geschichte also 'von jetzt'.

Um den Kommentar nicht zu löschen, habe ich mich dagegen entschieden, diese Geschichte, wie meine anderen längeren Geschichten, in einen Mehrteiler umzuwandeln.

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Kommentare zu diesem Text


 uwesch (07.10.23, 20:57)
Interessante Geschichte aus einer "anderen Welt".
Gern gelesen. LG Uwe

 Elisabeth meinte dazu am 08.10.23 um 17:09:
Hallo Uwe,

ganz herzlichen Dank für Deinen Kommentar.
Es freut mich sehr, daß Du meine Geschichte gern gelesen hast.
Ich bemühe mich, bei Dir bald einmal einen Gegenbesuch zu machen.

Liebe Grüße von Elisabeth
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