Im Schatten der Luftschlösser

Essay zum Thema Weltanschauung

von  Hoehlenkind

Höhere Lebewesen reagieren nicht allein auf aktuelle Zustände ihrer Umgebung, sondern sammeln Informationen, die ihnen für späteres optimales Verhalten nützlich werden könnten. So bildet sich ein Abbild oder Modell der sie umgebenden Welt, also ein Weltbild. Dieses besteht aus Vorstellungen, die das Gehirn aus Wahrnehmungen erzeugt. Was wir für Realität halten, ist genaugenommen eine Sammlung von selbsterzeugten Vorstellungen von der Welt, die uns umgibt. Zusammen mit der jeweils aktuellen Wahrnehmung ist es das, worauf wir reagieren, und damit das, was unser gesamtes Verhalten bestimmt.

Wenn wir uns vorstellen, von Feinden und Konkurrenten umgeben zu sein, verhalten wir uns ganz anders, als wenn wir uns unsere Mitmenschen als Freunde vorstellen. Dieses Beispiel mag banal erscheinen, aber dieses Gefühl von Konkurrenz und Bedrohung durch andere ist die Grundlage unserer derzeitigen Gesellschaftssysteme.

Unser Verhalten hat wiederum Rückwirkungen auf unsere Mitmenschen. Wenn wir uns aufgrund einer Vorstellung von Bedrohung misstrauisch und feindlich verhalten, stärkt dies das Misstrauen und das Gefühl der Bedrohung in unserer Umgebung.

Vorstellungen sind weit mehr als Gedanken, sie sind ein System unter anderem von Gedanken. Die Gedanken sind selten wirklich frei, sie kreisen meist im Rahmen von Vorstellungen. Wer sich nichts besseres vorstellen kann als die kapitalistische Gesellschaft, wird sich auch kaum Gedanken um eine bessere Gesellschaft machen. In diesem Fall nimmt dagegen das Jobben und Shoppen viel Raum ein, die Sorgen darüber, wie man zu mehr Geld kommt und wie man es am besten wieder ausgibt. So können in geistiger Hinsicht Vorstellungen auch Fesseln sein.

Zu den Vorstellungen gehören nicht nur Gedanken, sondern auch Bilder, die sich eingeprägt haben. Und zwar häufig, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Wir unterliegen nicht nur einer Fremdbestimmung, die uns belehrt, was wir tun sollen, sondern auch einer Fremdbeträumung, die uns einflüstert, was wir wollen sollen. Schopenhauers Erkenntnis: „Der Mensch kann wohl tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will“ zeigt eine menschliche Schwachstelle auf, die der Manipulation Tür und Tor öffnet.

Fremdbestimmung durch Druck und Angsterzeugung kann zwar erreichen, dass wir etwas tun, was wir nicht wollen. Doch dabei kann es immerhin noch etwas Widerstand geben mit der Suche nach Möglichkeiten, dem Druck auszuweichen.

Fremdbeträumung ist da die modernere und effektivere Variante, um Menschen dazu zu bringen, zu tun, was im Interesse der Mächtigen ist. Die Überschüttung mit Filmen und anderer Unterhaltung ist ein wesentlicher Faktor für die Erhaltung der Systeme.

Unterhaltung ist meist auch Untenhaltung, ein Mittel um von Machtausübung und Unfreiheit abzulenken. Von Teilnehmern an der Wirklichkeit als Bewirkte und Bewirkende werden wir zu Zuschauern und Konsumenten konstruierter Realitätsvorstellungen. Das eigene Erleben wird dabei nahezu zur Nebensache.

Träume im Schlaf sind Vorstellungen mit geringen Anforderungen an Übereinstimmungen mit Erlebtem und Erfahrenem, deshalb relativ frei. Gegenüber der ernsten alltäglichen Arbeit an der Realitätsvorstellung sind sie Kür, Auflockerung und Erholung.

Tagträume sind zwar dichter am Modell der Wirklichkeit, doch da es bei ihnen meist um Ziel- und Wunschvorstellungen geht, spielen auch emotionale Bedürfnisse eine große Rolle. Das macht uns dann anfällig für Illusionen, sowohl für selbstgemachte individuelle als auch für produzierte Illusionen zum Zwecke der Manipulation.

Nahezu die gesamte Werbung baut auf Illusionen auf, doch es sind nicht nur Werbesendungen, die uns manipulieren. Jeder Film wirbt irgendwie, auch wenn nicht für Produkte, so doch für Lebensstile und Verhaltensmuster. Die Illusionen erfüllen eine Funktion für das seelische Gleichgewicht im Gesamtweltbild. Deshalb können sie auch nicht einfach aufgegeben werden. So werden sie gegen andere Vorstellungen wie Fakten, die sie als Illusion entlarven, aufs Heftigste verteidigt. Diese werden dann zu Tabus. Sie sollen nicht diskutiert, ja nicht einmal wahrgenommen werden.

Die eingeschränkte Wahrnehmung und die Vermeidung von Diskussionen sind also die Schatten, die von Luftschlössern geworfen werden. Bei individuellen Illusionen trifft auch der Schaden bzw. der Schatten hauptsächlich diese Person und vielleicht noch seine Umgebung.

Schwerwiegender sind dagegen die Folgen der Illusionen und Tabus, die mit anderen Menschen geteilt werden. Denn für wahr wird gehalten, was andere bestätigen. So entstehen und erhalten sich kollektive Illusionen und Tabus durch gegenseitige Bestätigung. Und beschatten damit die Wahrnehmung der Wirklichkeit und die gesellschaftliche Weiterentwicklung.

Die Funktion der kollektiven Vorstellungen zum Gesellschaftssystem zu ist ähnlich dem der Gene zum Lebewesen. Eine Gesellschaft strukturiert sich nach den gemeinsamen Vorstellungen ihrer Individuen. So wie ein Lebewesen sich bildet nach der gemeinsamen DNA, die sich jeder einzelnen Zelle befindet.

Ein Gesellschaftssystem kann sich nur ändern, wenn sich seine Vorstellungen vom Zusammenleben ändern. Eine Befreiung von Zwängen des Systems setzt also eine Befreiung von Vorstellungen voraus, die dieses System erhalten.

Der Fremdbestimmung und Fremdbeträumung kann nur durch aktive geistige Arbeit am eigenen Weltbild entgegengetreten werden. Dazu hilft, sich der zentralen Bedeutung des Weltbilds bewusst zu werden. Es ist der Kern der Individualität und der Identität und die Grundlage aller persönlichen Werke. Es ist ein Bild im Sinne eines Kunstwerks, dessen Schönheit und Wert schon in jedem Stadium erkennbar ist und Vollendung zwar anstrebt, aber nicht benötigt. Ein Lebenswerk im doppelten Sinne: ein Werk, für das man lebt und von dem man lebt.

Das aktive Gestalten des Weltbildes fängt schon bei der Wahrnehmung an. Während Sehen und Schauen oft passiv ist (Fernsehen, Zuschauen) ist das Blicken aktiv, man wirft seinen Blick auf etwas.

Das passive Sehen und Schauen bleibt an der Oberfläche und begnügt sich mit dem, was gezeigt wird. Das aktive Blicken dagegen ermöglicht Tiefgang, der Blick geht dabei in die Tiefe der Details und Zusammenhänge. Es sucht nach den Wurzeln der Erscheinungen, dadurch ist es radikal (Radix = Wurzel). Auch beim Hören gibt es ein bewusstes Lenken der Aufmerksamkeit, es nennt sich dann Horchen oder Lauschen.

Wesentlich für das Weltbild ist auch das Selbstbild, also die Wahrnehmung von uns selbst und der Rolle, die wir gegenüber anderen spielen. Unser Menschenbild wird bestimmt von dem, was wir über uns selbst wissen oder glauben. Von uns selbst haben wir nur eine Innensicht, von anderen nur eine Außensicht. Also können wir die Innensicht von anderen nur vermuten, indem wir unsere eigene Innensicht als Modell dafür nehmen.

Wir gehen mit anderen Menschen ähnlich um wie mit uns selbst, mit unserer Natur, unserem Körper, unseren Gefühlen und dem Unbewussten. So spiegelt sich Selbstbeherrschung wieder im Bestreben, über andere zu herrschen.



Anmerkung von Hoehlenkind:

Ein weiteres Kapitel aus meinem ersten Buch.

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (11.11.23, 02:32)
Interessante und richtige Gedanken. Es fehlt in dieser Zeit an einem gedanklichen  Gesellschaftsmodell jenseits von Kapitalismus und Kommunismus.

 FrankReich meinte dazu am 11.11.23 um 05:02:
Das Stichwort dazu lautet "Soziale Demokratie", Deutschland war sogar auf dem Weg dahin, doch dann kam alles anders bis hin zu dem hirnrissigen Beschluss, aus Krankenhäusern Wirtschaftsunternehmen zu machen. 🤔

 Rosalinde antwortete darauf am 11.11.23 um 08:11:
Hoehlenkind, was ist die Quelle deiner Überlegungen?
Ein sehr guter Beitrag, er spricht uns und unsere Umwelt, unsere verordneten Einbildungen und gemutmaßten Wahrheiten an. Nicht nur, da ist noch mehr vom Schlachtfeld unserer Gläubigkeiten. 

Hast du das Buch schon rausgebracht? Welcher Titel?
Ich wäre interessiert daran.

Lieben Gruß, Rosalinde

 Hoehlenkind schrieb daraufhin am 11.11.23 um 12:27:
Hier findest du näheres:
 https://www.xquisiv.de/danke/index.html

 Rosalinde äußerte darauf am 11.11.23 um 18:53:
Danke, Hoehlenkind, ich seh mal nach, ob ich es bei Thalia kriege.

 Hoehlenkind ergänzte dazu am 11.11.23 um 19:04:
Die müssten es wohl erst bei mir bestellen und wollen dann noch Buchhandelsrabatt. Du kannst es bei mir direkt bestellen: info@xquisiv.de . Versand kostenlos.
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