Das Gastmahl

Geschichte zum Thema Denken und Handeln

von  Elisabeth

Erst langsam wurde Michael sich seiner Umgebung bewußt. Er saß auf einer grob zusammengezimmerten Holzbank im Schatten einer großen Platane, neben ihm lag ein aus Stroh geflochtener Hut mit breiter Krempe. Eine sehr warme Brise fuhr durch die Blätter des großen Baumes und ließ sie rauschen. Im hohen Gras zirpten Grillen oder Zikaden und raschelten andere kleine Tiere. In einiger Entfernung sah man hohe Zypressen vor dem tiefblauen Himmel und knorrige Olivenbäume, das Gras und Buschwerk zwischen ihnen sah schon halb vertrocknet aus, aber ein paar Ziegen taten sich an den Pflanzen gütlich. Eine leise murmelnde Quelle auf der anderen Seite der Platane, in unregelmäßige Steine eingefaßt, sorgte für die grüne Insel inmitten der sonnenverbrannten Landschaft. Am linken Horizont türmten sich schroffe Felsen zu Bergen, in die anderen Richtungen erstreckte sich eine wellige Ebene in der flirrenden Sonnenglut.

Michael genoß die idyllische Landschaft und ländliche Stille und wandte seine Aufmerksamkeit schließlich der eigenen Person zu: er war in eine Art Toga aus feinem gebleichten Leinenstoff gekleidet, sie war weit, fast knöchellang und wurde unterhalb seines Bauches von einem schmalen Ledergürtel zusammengerafft. Darüber war ein ebenfalls aus Leinen gewebter Mantel - eigentlich eine Art Laken, dessen Ränder mit Ornamenten bestickt waren - locker um seinen Oberkörper geschlungen. Die Sandalen waren nur Ledersohlen, ihre geflochtenen Lederriemen bis fast zu den Knien geschnürt.

'Wo bin ich hier denn gelandet?' fragte Michael sich stumm. Er griff nach dem an Bank und Baum lehnenden, langen knotigen Holzstock, um sich hochzustemmen und erschrak über die Geläufigkeit dieser Bewegung. Der im oberen Drittel vom häufigen Anfassen wie poliert glänzende Holzstab lag vertraut in seiner Hand. Er reichte ihm bis zur Brust und nun lehnte er sich auf ihn, um sich aus seiner neuen Perspektive umzusehen.

Michael entdeckte, daß der Trampelpfad, der an der Platane mit Ruhebank und Quelle endete, in Richtung Berge und zu einer an die Felsen geschmiegten Stadt führte. Er streckte seine steifen Glieder und setzte den Sonnenhut auf. Er würde einen Spaziergang in die Stadt unternehmen, um sich ein Bild von seiner Traumwelt zu machen.

Der Weg wurde von vereinzelten Bäumen gesäumt und überquerte mit Hilfe dreier Trittsteine einen flachen, fast ausgetrockneten Bach. Je näher die Stadt rückte, desto breiter wurde der Weg, denn von entfernt liegenden Gehöften und Villen führten andere Wege auf diese 'Hauptstraße'. Michael fühlte sich erinnert an seine erste, Jahrzehnte zurückliegende Italienreise, als er einmal, irgendwo in Umbrien, durch eine ähnliche Landschaft gegangen war. Hier jedoch ragte kein Campanile allesbeherrschend aus dem grauen Häusermeer der Stadt und keine mächtige Kathedralen-Substruktion zog wie in Assisi die Blicke der aus der Ebene Heraufkommenden auf sich. Hier war es eine blaugrüne Kuppel, ein nicht ganz hemisphärisches Kugelsegment, flankiert von vier schlanken, minarettartigen Türmchen aus weißem Marmor, auf die die Stadt ausgerichtet war. Das anscheinend auf einem erhöht liegenden Felsvorsprung errichtete Gebäude machte ganz den Eindruck einer Moschee. Und im Licht der schon tief stehenden Sonne, das zwischen die Berg- und Häuserschluchten fiel, flammte goldenes Mosaik an den Minaretten und dem Kuppelunterbau auf.

Plötzlich aufschallendes Husten riß Michael aus der Betrachtung der Stadt vor sich. Das Husten wurde zu einem erstickten Keuchen und Michael beschleunigte seinen Schritt, um zu sehen, ob er helfen könnte. Im lang gewordenen Schatten einer der wenigen Baumgruppen am Wegesrand lag ein zusammengekrümmter Mann, der noch ab und zu von seinem keuchenden Husten geschüttelt wurde und dabei im schmerzverzerrten Gesicht langsam blau anlief. Offenbar war er am Ersticken. Michael bemerkte neben ihm Teile eines Granatapfels, vermutlich hatte der Mann sich an der Frucht oder eher ihren Kernen verschluckt.

Michael ließ seinen Stab zu Boden fallen, half dem jungen Mann auf die Beine und beugte dessen Oberkörper weit nach vorn. Mit flacher Hand schlug er ihm mehrfach auf den Rücken. Das Husten seines 'Patienten' wurde etwas kräftiger, er erbrach, begleitet von einem Schwall dunkelrot gefärbten Speichels, die übeltäterischen Kerne und sein Gesicht nahm langsam wieder normalere Farbe an. Michael half ihm beim Hinsetzen und sah zu, wie der noch angestrengt nach Luft Schnappende sich wieder erholte. Er war vielleicht Dreißig und sah mit seinem dunklen Teint, den schwarzen Haaren und den merkwürdig hellen, bernsteinfarbenen Augen ganz so aus, wie Michael sich Nefut Darashy in seinem 'König für eine Nacht' vorgestellt hatte.

"Ihr habt mir das Leben gerettet", brachte der junge Mann schließlich hervor, rappelte sich auf, bürstete den Staub von seiner Kleidung und verbeugte sich förmlich vor seinem Retter. "Laßt euch dafür von mir belohnen."

Michael winkte lächelnd ab. "Aber das war doch nicht der Rede wert." Er bückte sich schwerfällig, um Hut und Stock wieder aufzunehmen. Er war von sich selbst nicht wenig überrascht. Nie hätte er gedacht, bei einem medizinischen Notfall mehr tun zu können, als hilflos dabeizustehen.

Aber der Gerettete ließ nicht locker. "Ich wünsche den Segen aller Götter auf euch, und mein Haus sei auf ewig das eure." Dieser formelhaften Wendung folgte eine weitere Verbeugung. Dann stellte der junge Mann sich vor: "Mein Name ist Nefut, Sohn des Serlan. Ich bin Arzt hier in Berresh und ihr habt mir mit Sicherheit das Leben gerettet. Glaubt mir, ich kann das beurteilen."

Michael freute sich über die Folgerichtigkeit seines Traumes: der Mann ähnelte nicht nur dem Sklaven aus Hannai zum Verwechseln, er trug sogar den gleichen Namen. Und Michael verbeugte sich ebenfalls und stellte sich vor: "Ich heiße Michael, Sohn des Gabriel und bin Philologe und Dichter in Hohenheim."

"Ich habe nie von Hohenheim gehört, aber ihr scheint mir doch irgendwie bekannt", sagte Nefut nachdenklich und musterte Michael eingehend aus seinen an einen Falken erinnernden Augen. Dämmerte da etwa eine Erinnerung in ihnen?

"Das ist kaum möglich", erwiderte Michael schnell. "Ich bin auf Reisen und Hohenheim liegt wirklich weit entfernt. Ich komme das erste Mal nach Berresh."

"Dann muß ich euch wohl mit jemandem verwechseln." Nefut, Sohn des Serlan, schien beschwichtigt. Er brachte seine Gewandung wieder in Ordnung, kontrollierte aufmerksam den Sitz seines seidig schimmernden Mantels und zupfte mit seinen ringgeschmückten Fingern noch ein paar Falten zurecht, gab seinen Gedanken so keine Gelegenheit, abwegige Pfade zu nehmen. "Wenn ihr schon keine Belohnung annehmen wollt", wandte er sich dann nach ein paar Augenblicken wieder an Michael, "so seid wenigstens heute abend mein Gast. Ich war auf dem Weg zu einem Gastmahl bei einem Freund. Ich wäre glücklich, wenn ihr mich begleiten würdet."

"Meint ihr nicht, ich komme dem Gastgeber unangemeldet etwas ungelegen?" fragte Michael unbehaglich.

"Aber nicht doch!" widersprach Nefut energisch. "Er wird sich freuen, einen weit gereisten Mann bei sich bewirten zu können und Neuigkeiten aus aller Welt zu hören."

Also machten sie sich in der bereits beginnenden Dämmerung gemeinsam auf den Weg nach Berresh. Nach wenigen Metern passierten sie eine Art Vogelscheuche, die am Rande eines Feldes stand. Die Reste eines kleinen Baumes waren mit einem patinierten Bronzehelm und einem ebensolchen Brustpanzer versehen. Am Fuße des Stammes war zudem ein großer, stark korrodierter Schild befestigt. "Was hat es denn mit diesem Siegeszeichen auf sich?" fragte Michael und betrachtete interessiert das wahrhaftige Tropaion.

Nefut verzog seinen Mund zu einem säuerlichen Grinsen. "Auf diesen Feldern schlug die Armee von Hannai vor zwei Jahren die unsere. Erwähnt es gegenüber unserem Gastgeber besser nicht. Er ist sehr empfindlich, was diese Angelegenheit betrifft."

"Über das Maß gewöhnlicher Abneigung gegenüber siegreichen Feinden hinaus?" wollte Michael neugierig wissen.

"Aber natürlich", entgegnete Nefut und fügte - als sei es Erklärung genug - hinzu, "denn unser Gastgeber ist Amemna."

"Aber wieso?" wollte Michael nun wissen.

Der Arzt musterte ihn mit erstauntem Blick aus seinen goldenen Augen. "Ihr müßt wirklich von sehr weit kommen, wenn ihr noch nichts davon gehört habt", sagte er dann nachdenklich. Ein paar Schritte gingen sie schweigend nebeneinander her. Schließlich holte Nefut tief Luft und begann: "Hannai liegt einige Wegstunden westlich von hier, am Rande der Wüste. Jahrhundertelang gab es enge Beziehungen zwischen den edlen Familien unserer Stadt und denen Hannais, zeitweilig führten sogar Fürsten aus Berresh das Rubinszepter von Hannai. Schließlich wurde Hannai jedoch von den Wüstennomaden erobert, den Oshey." Nefut sprach den Begriff wie ein besonders übles Schimpfwort aus.

Michael dachte wieder an seinen 'König für eine Nacht'. Dort hatte in Hannai ein Berresh-Fürst geherrscht und die Oshey waren unterworfen - auch wenn er selbst durch die Befreiung Nefut Darashys daran etwas gerüttelt hatte. Befand er sich nun in der Vergangenheit vor oder in der Zukunft nach dieser Geschichte?

"Bis heute herrschen in Hannai die Oshey-Könige, deren Gier nach neuen Eroberungen auch Berresh ständig bedroht. Vor fast zehn Jahren nahmen jedoch einige Edle aus Hannai heimlich mit Amemna Kontakt auf. Sie seien die Herrschaft der Oshey leid versicherten sie ihm, und es verlange sie nach einem Nachkommen der Sira auf dem Thron ihrer Stadt, der Tochter des Nisan von Berresh, die einst Hannai in seiner Blütezeit beherrschte. Amemna solle im Geheimen alles vorbereiten, sie würden - da es reichlich Gegner der Oshey und Anhänger des alten Königshauses gäbe - in ihrer Stadt für das Nötige sorgen.

Amemna fühlte sich durch das Gesuch natürlich geschmeichelt, denn ganz offensichtlich war sein Ruf als entschiedener Gegner der Oshey bis nach Hannai gedrungen. Er suchte und fand tatsächlich einen Nachkommen der Sira und weihte ihn in seinen Plan ein. Es war mein Onkel Neref, dem der Gedanke gut gefiel, König von Hannai zu werden, denn er - aus königlichem Hause stammend - konnte seinen Ehrgeiz in dieser Hinsicht in Berresh nicht verwirklichen. Schon vor langem wurde bei uns die Königsherrschaft zugunsten der Herrschaft von Gleichen abgeschafft."

Die Namen sagten Michael nichts, aber er vermutete, daß eine demokratische Staatsordnung das Zeichen für eine fortgeschrittenere Zeit war.

Der Arzt fuhr ungerührt mit seinem historischen Bericht fort: "Es gab mehrere geheime Treffen im Hause Amemnas und der Plan gedieh gut - zumindest hatte es den Anschein. In Hannai würde Neref alle Unterstützung der edlen Familien bekommen hieß es, denn sie sähen die Oshey als Vergewaltiger ihres Gemeinwesens an und sehnten sich nach einem rechtmäßigen Herrscher. Tatsächlich war jedoch alles ein Plan des Oshey-Königs von Hannai, der so die Wachsamkeit derer einschläfern wollte, die den Beteuerungen, Hannai strebe nicht nach der Herrschaft über Berresh, keinen Glauben schenkten und immer wieder in den Versammlungen auf die Gefahr aus dem Westen aufmerksam machten. Indem er seine Getreuen zu Amemna schickte, die diesen zu Plänen gegen Hannai anstifteten, wollte der Oshey-König nur einen Vorwand schaffen, Berresh anzugreifen, zu erobern und seinem Herrschaftsgebiet einzugliedern.

Zu spät durchschaute Amemna, wem er sein Vertrauen geschenkt hatte. Der Plan zur Übernahme des Thrones von Hannai sah ein nächtliches Treffen der wichtigsten Teilnehmer des Unternehmens vor den Toren Hannais vor, um am darauffolgenden Morgen im Triumph in die Stadt einzuziehen. Es war eine List der Oshey, um die besten Köpfe und die ersten Männer von Berresh zu töten und so leichtes Spiel bei der Eroberung zu haben. Aber Amemna entkam dem Überfall - anders als mein Onkel. Der Angriff auf Berresh erfolgte wenige Tage später und unsere Soldaten wurden geschlagen. Doch gelang es dem Oshey-König nicht, unsere Stadt einzunehmen.

Das Siegeszeichen ist ein Mahnmal für uns alle, auf der Hut vor den Oshey zu sein, und es erinnert Amemna daran, daß er falschen Freunden sein Vertrauen schenkte, seine Verwandten, Kampfgenossen und seine Stadt ins Unglück stürzte und schließlich selbst viel an Einfluß und Ansehen verlor, weil der Oshey-König das Gerücht ausstreuen ließ, Amemna habe einen Freund zum König von Hannai machen wollen, um selbst dann Berresh als König beherrschen zu können."

Während des Vortrags hatten Michael und Nefut ein bewachtes Stadttor passiert und waren einige schmale, steile Gassen und Treppen emporgestiegen, in der abendlichen Dunkelheit nur erhellt von gelegentlichen Öllampen über den Türen, die in unregelmäßigen Abständen die hohen steinernen Mauern durchbrachen.

Wenige Sekunden, nachdem der Arzt verstummt war, klopfte er schließlich an eine Tür, die sich in nichts von anderen Türen unterschied. Ein Diener oder Sklave in einem einfachen, sackartigen Gewand öffnete und verneigte sich vor Nefut mit einem gemurmelten Gruß. Er ließ ihn und seinen Gast auch ein und geleitete sie im Schein der Lampe die er trug, durch einen säulenumstandenen Innenhof in einen nur zimmergroßen aber prächtig geschmückten Raum. Hier befanden sich schon einige Leute, deren Anwesenheit Michael jedoch gar nicht bewußt wahrnahm, da er vom Anblick der Architektur und ihres Schmuckes vollkommen in Anspruch genommen war.

Den süßen Blütenduft entfaltete das brennende Öl in den glänzend polierten Bronzelampen, von denen je drei an kunstvoll verzierten Metallständern hingen. Vor dem Goldgrund der Holzdecke, der das Lampenlicht fast wie ein Spiegel zurückwarf, waren Weinranken voller Reben gemalt, und auch die scheinbare Marmorverkleidung der Wände, sowie ihr Schmuck aus Blumen- und Fruchtgirlanden waren gemalt. Rundherum entlang der Wände standen aufgereiht breite Speisesofas, auf ihnen lagen jeweils zwei oder drei Kissen und vor ihnen standen kleine Holztischchen auf je drei Bocksfüßen. Michael bestaunte das kleinteilige Fußbodenmosaik, das wie ein kostbarer Teppich wirkte - und sogar die verstreut auf dem unverzierten Teil des Bodens liegenden Blüten und Früchte stellten sich als Teile des Mosaiks heraus.

Die anwesenden Männer, zumeist in mittleren Jahren, einige bärtig und alle sehr vornehm, hatten sich inzwischen um die Neuankömmlinge geschart. Nefut begrüßte den Gastgeber herzlich und stellte Michael als seinen Lebensretter vor. Amemna befand sich allem Anschein nach bereits weit in den sechzigern, sein kurzes Haar und der ebenso kurz geschnittete Bart waren schlohweiß, doch seine vom Rascheln der seidenen Gewänder begleiteten Bewegungen waren elegant und geschmeidig und scheinbar ohne die Beeinträchtigungen, die das Alter für gewöhnlich mit sich bringt.

Amemna umarmte Michael, der das verdutzt mit sich geschehen ließ, und sagte mit großer Herzlichkeit: "Es freut mich, den Lebensretter meines geliebten Freundes begrüßen zu dürfen. Auch wenn dieses kleine, informelle Abendessen dem Anlaß keineswegs angemessen ist, hoffe ich doch, daß ihr euch gut unterhaltet." Amemna winkte zwei bartlose Jünglinge von mädchenhafter Schönheit und mit schulterlangen lockigen Haaren zu sich. "Das sind Merlan und Diognet, die Söhne meiner Tochter. Erlaubt einem von ihnen, euch heute abend zu verwöhnen."

Bevor Michael zu einer Reaktion auf das Angebot fähig war, trat ein Mann aus der Gruppe zu Michael, dessen Ähnlichkeit mit Nefut unverkennbar, der aber schon ergraut und wohl etwa in Michaels Alter war. Er zog einen goldenen Ring mit grünem Stein von seiner rechten Hand und reichte ihn Michael. "Nehmt diesen Smaragd-Ring als symbolischen Dank für die Rettung meines Sohnes und als Zeichen der ewigen Freundschaft und Verbundenheit. Möge seine Kraft alles Übel von euch abwenden."

In den ovalen, dunkelgrünen Stein war vertieft ein geflügeltes Pferd geschnitten. Die Kunstfertigkeit des Steinschnittes beeindruckte Michael. Er wollte den Ring haben, sehnte sich geradezu danach, ihn an seinen Finger zu stecken, aber trotzdem bewegte Michael seine gute Erziehung zu sagen: "Dieser Ring ist viel zu wertvoll, als daß ich ihn annehmen..."

Aber Serlan, Vater des Nefut, fiel ihm ins Wort: "Wie könnt ihr das sagen? Das Leben meines Sohnes wäre mir tausend solcher Ringe wert. Doch da ihr, wie mein Sohn sagt, eine Belohnung ablehnt, nehmt zumindest dieses Symbol meiner Dankbarkeit an. Ihr dürft den Ring nicht ablehnen!"

Michael verneigte sich - wie er hoffte - angemessen. "Ich danke euch und verspreche, ihn immer zu tragen."

Serlan freute sich sichtlich. "Was könnte ich mehr erwarten." Er umarmte Michael und küßte ihn auf die Wange.

Michael nahm also den Ring und bewunderte die detaillierte Darstellung des auffliegenden Pegasus, und fast schien es ihm, als habe er ihn nun erstmals wirklich in der Hand.

Plötzlich klatschte Amemna in die Hände, um die Aufmerksamkeit seiner Gäste auf die Köstlichkeiten zu lenken, mit denen er ihnen aufwartete. Die Diener trugen zahllose Teller voll von gebratenen und anderweitig frisch zubereiteten Speisen herein, die auf den kleinen Tischchen neben den Liegen ihren Platz fanden und den Raum mit traumhaftem Duft erfüllten. Fast alle Männer hatten es sich schon, einzeln oder zu zweit, auf den Speisesofas bequem gemacht und kommentierten nun lautstark und offensichtlich hocherfreut die aufgetischten Spezialitäten. Einer von Amemnas Enkeln zog Michael, dem der Kopf von dem plötzlichen Trubel schwirrte, zu einer leeren Liege, half bei der Drapierung des Mantels, als Michael sich niederließ, blieb selbst jedoch neben dem Fußende stehen.

Zuletzt wurden noch einige flüssig gefüllte Amphoren, sowie ein großer Mischkrug und schwarze Trinkschalen, die mit hellroten Figuren und Mustern geschmückt waren, hereingetragen. Dieses Gastmahl schien sich zu einem regelrechten Symposion zu entwickeln. Die Gäste kosteten von den Tellern und tauschten quer durch den Raum scherzhafte Bemerkungen aus, während Amemna - inzwischen mit einem aus Efeulaub geflochtenen Kranz auf dem Kopf - das Füllen des in einer bronzenen Halterung stehenden Mischkruges beaufsichtigte. Dann verließen die letzten Dienstboten den Raum, die Tür wurde geschlossen und mit Hilfe seiner Enkel füllte der Gastgeber die Trinkschalen mit einer Kelle und reichte sie an seine nach und nach erwartungsvoll verstummenden Gäste weiter.

Erstaunt stellte Michael fest, daß die gefüllte Tonschale verhältnismäßig leicht war. Die Wand des flachen Gefäßes mit einem Durchmesser von fast dreißig Zentimetern war sehr dünn, fast wie Porzellan gearbeitet und der etwa zehn Zentimeter hohe Fuß vermutlich hohl. Ihre Bemalung hätte sie zu dem mit Abstand kostbarsten Stück einer Antikensammlung gemacht - hätte nicht jeder Gast eine ähnlich aufwendig gearbeitete Schale erhalten.

Endlich füllte Amemna seine eigene Schale. Er hob sie in die Höhe und sprach feierlich einige für Michael unverständliche Worte, bei denen es sich um ein Gebet handeln mußte. Dann senkte er die Schale wieder. "Orem, dem Retter, gehöre das Opfer", sagte er nach einem Moment des Schweigens und schüttete ein wenig aus der Schale in ein bereitstehendes Kohlebecken auf einem dreibeinigen Klappständer. Die Tropfen zischten und der Geruch des verdunstenden Alkohols vermengte sich für einen Moment mit dem Essensduft. Schließlich nahm Amemna andächtig einen Schluck von dem mit Wasser verdünnten Weißwein, seine Gäste und auch Michael taten es ihm nach. Dann legte der Gastgeber sich auf das Sofa zu Nefut und rief fröhlich: "Nun laßt uns feiern. Selten hatten wir einen besseren Grund als heute, wo Nefut so unverhofft aus großer Gefahr gerettet wurde."

Eigenartige Empfindungen erfüllten Michael, als er sah, wie sein Gastgeber sich zu dem Geretteten drehte und ihn zärtlich auf den Mund küßte.

Michael aß nur wenig und besah sich dann fasziniert den gemalten Schmuck seiner inzwischen geleerten Schale. Den Grund der Trinkschale schmückte das sehr schöne Bildnis eines ebenfalls sehr schönen, halbnackten Jünglings mit langen Locken, der in sein Spiel auf einer Lyra vertieft war. Rechts und Links seines vorgebeugten Kopfes erstreckte sich der Schriftzug: 'Schöner Diognet' und Michael fragte sich, ob es sich hier um das Portrait des Enkels von Amemna handeln sollte. Auf dem äußeren Rand der Schale war detailliert eine Symposionsszene dargestellt: Männer lagerten bequem auf Liegen, den Oberkörper mit einem Arm auf dem Kopfteil abgestützt. Einige tranken aus ihren Schalen, andere unterhielten sich. Der Blick auf das gemalte Symposion, das seiner augenblicklichen Umgebung so ähnlich war, verhalfen Michael zu einer Art Déjà-vu-Erlebnis. Er war ganz vertieft in die Betrachtung zweier sich liebkosender Männer, als sich über das Stimmengewirr der vielen halblaut geführten Gespräche hinweg einer der Gäste launig an die Allgemeinheit wandte:

"Nun hat sich also herausgestellt, daß Nefut tatsächlich unverletzlich ist wie ein Unirdischer. Im rechten Moment erscheint ihm stets ein Retter. Wann macht sich wohl sein Oshey-Erbteil bemerkbar, dem er seinen Namen verdankt?"

Die Gespräche verstummten abrupt und Nefuts Vater warf dem Sprecher einen zornigen Blick zu.

Aber Nefut sprach für sich selbst. "Wie kommst du dazu, an meiner Loyalität zu zweifeln! Meine Familie ist so gut wie die jedes Mannes hier - vielleicht besser..."

"...wenn es stimmt, daß deine 'Falkenaugen' von der Verwandtschaft mit den Unirdischen stammen", warf der Herausforderer ein.

Michael fiel erstmals auf, daß Nefuts Vater Serlan im Gegensatz zu seinem goldäugigen Sohn dunkle, fast schwarze Augen hatte, wie alle anderen Anwesenden.

Der Gastgeber legte den Arm beschwichtigend um Nefut, der Anstalten machte, aufzustehen und sagte tadelnd: "Das ist nicht der Ort und nicht der rechte Zeitpunkt, alten Streit auszufechten, Hamarem."

Der Mann auf der benachbarten Liege wandte sich im Flüsterton an Michael und erklärte: "Es heißt, eine von Nefuts Altvorderen sei eine Unirdische gewesen, die ihrem Mann ein Kind gebar, sich darauf in einen Falken verwandelte und davonflog."

"Ein Märchen", sagte Hamarem verächtlich, der offenbar gute Ohren hatte.

"Und wo beginnt das Märchen und wo endet die Wirklichkeit?" wollte Serlan nun wissen. "Du selbst bist dir darüber offenbar doch auch nicht immer im Klaren. Bist du es nicht, der die Grenze zwischen Wirklichkeit und Einbildung leugnet und der an die Realität der Phantasie glaubt?"

"Inwieweit soll die Phantasie real sein?" fragte nun Michael Hamarem interessiert. "Daß die Phantasie im Sinne von Ideen wirkt oder daß die Phantasie die Realität aktiv formt?"

"Was interessiert euch das?" fragte Hamarem barsch.

"Die Phantasie beschäftigt mich mein ganzes bewußtes Leben lang", antwortete Michael. "Der größte Teil der Weltliteratur handelt vom Phantastischen und meiner Meinung nach ist der Hauptantrieb der Menschheit die Phantasie und Einbildungskraft, denn die Phantasie des einzelnen bestimmt auch seine Wahrnehmung der wirklichen Welt."

"Ich dachte immer, Hamarem meint die Verwirklichung von Ideen", warf nun ein anderer Mann ein, der bisher nur interessiert zugehört hatte. "Gleichsam in einem handfesten Sinne die Vorstellungen in die Tat umsetzen."

"Ein Verwandter von mir behauptet, er sei im Schlaf in eine Phantasiewelt versetzt worden", warf Michaels Nachbar ein. "Er erinnerte sich nach dem Erwachen an alle Erlebnisse und zeigte zum Beweis einen Ring aus fremdem Metall."

"Es gibt die Geschichte über den Geschichtenerzähler, den Ama strafte, weil er nicht glaubte, daß jede Geschichte ein Schöpfungsakt ist", erinnerte Amemna seine Gäste.

"Und es gibt Geschichten von tatsächlichen Gegebenheiten, die sich beim mehrfachen Erzählen wandeln und verdrehen, größer und prächtiger werden, so daß sie schließlich nichts mehr mit der Realität zu tun haben, aber weiter als solche gehandelt werden", meldete Hamarem sich wieder zu Wort. "Auf diese Weise wird dann aus einer Oshey-Hure eine Unirdische."

Nefut ignorierte den mahnenden Blick seines Vaters und sagte aufgebracht: "Ich habe nicht mehr Oshey-Blut in den Adern als jeder, der mit einer Familie aus Hannai verwandt ist. Und wenn das gegen meine Loyalität unserer Sache gegenüber spricht, hätte es noch mehr gegen die meines Onkels gesprochen."

Amemnas Stirn umwölkte sich, er sagte jedoch nichts.

Serlan, der offenbar das Temperament seines Sohnes gut kannte und seine Neigung, sich von ihm hinreißen zu lassen, wandte sich an Michael und fragte laut: "Kennt ihr eigentlich die Geschichte über den ungläubigen Geschichtenerzähler? Ich glaube, sie könnte euch interessieren."

Nefut verstand den Wink und verstummte und Michael bekundete artig sein Interesse. Doch nicht Serlan erzählte sie, sondern - auf allgemeinen Zuruf hin - Hamarem.

"Da ich - als Verfasser von Theaterstücken - für hinreichend qualifiziert gelte, in dieser Runde eine Geschichte zum Besten zu geben", begann Hamarem langsam, "will ich es auch richtig machen. Diognet, leih mir dein Instrument!"

Der Junge, der am Fußende von Michaels Liege gesessen hatte, lief hinaus und kam gleich darauf mit einer Lyra zurück in den Festraum, die er dem Gast seines Großvaters reichte.

Hamarem spielte probeweise ein paar Töne und begann: "Als die Erde noch jung war und Wunder noch an der Tagesordnung - so beginnen ja viele Geschichten. Doch diese handelt vom Wunderbaren und von den Göttern." Hamarem griff auf den Saiten einen Akkord, nahe an einer Dissonanz und die Schwebung verklang in der andächtigen Stille. "Ein Geschichtenerzähler, der sein kärgliches Brot mehr schlecht als recht mit seiner Kunst verdiente, fand es an der Zeit, mit den Traditionen seiner Väter zu brechen - also ein ganz sympathischer Mann."

Das Gelächter der Zuhörer wurde von einigen perlenden Tönen begleitet.

"Er war es leid, die überlieferten Geschichten zu erzählen, gebunden an feste Formen und Formeln. Er wollte aufregend Neues, nie Dagewesenes erzählen."

Diognet war wieder zur Liege zurückgekommen, doch diesmal legte er sich hin und kuschelte sich nun mit dem Rücken an Michael. Durch die Kleidung hindurch spürte Michael die Wärme des muskulösen jungen Körpers an seiner Brust und seinen Beinen. Die langen, lockigen Haaren dufteten wie eine Sommerwiese. Gedankenverloren streichelte Michael über Diognets Kopf, die seidigen Haare, während er, wie die anderen Anwesenden, Hemafas wohlklingendem Gesang lauschte.

* * *




Anmerkung von Elisabeth:

Dieser Text ist Ende der 1990er Jahre entstanden.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (14.11.23, 21:47)
Hallo Bettina,
diese kunstreiche, sinnenfrohe Erzählung ist eine Huldigung an die Fantasie. Ich habe sie voller Spannung gelesen und sie erinnert mich an Platons Symposion.
Begeisterte Grüße
Ekki

 Elisabeth meinte dazu am 15.11.23 um 01:04:
Hallo Ekki,

bei so großem Lob bin ich dann doch echt platt. Ganz herzlichen Dank dafür - und überhaupt für die geneigte Lektüre und Deinen Kommentar.

Wie Du Dir denken kannst, habe ich einige Studieninhalte dafür 'verwurstet'. Sehr schön, daß es auch Leser gibt, bei denen das ankommt.

Deine wohlgesetzte Formulierung mit der 'kunstreichen und sinnenfrohen Erzählung' muß ich mir merken, die kann ich hoffentlich auch mal passend anbringen.

Mit sehr dankbaren Grüßen

Bettina
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