Ein sokratischer Dialog: Falk (oder wer ist ein Pessimist?), 06.120.2020

Dialog

von  Hamlet

(Es klingelt an Sokrates’ Wohnungstür.)

Sokrates: Hey Falk! Wie geht’s dir? Komm rein, stell die Schuhe gleich ordentlich hier hin. Magst du einen Tee oder Kaffee – oder schon ein Bier? Ich jedenfalls brauch erst mal einen Kaffee.

Falk: Ja, gerne, ich nehme auch erst mal einen.

Sokrates: Siehst frisch aus, bist ja richtig braun begrannt!

Falk: Ja, ich bin eben viel draußen – im Gegensatz zu meinem Mitbewohner.

Sokrates: Ach, wohnst du immer noch mit Sebastian zusammen?

Falk: (grübelt kurz nach) Sebastian, Sebastian, ach ja Sebastian, ne der wohnt schon zwei Jahre nicht mehr bei mir – ach, dann kennst du ja Kurt noch nicht, aber (Falk lacht etwas) der ist auch total uninteressant.

Sokrates: Wieso das?

Falk: Na, der macht fast nichts, als den ganzen Tag vor der Klotze zu hängen, bemüht sich auch kaum um Arbeit, lebt leider schon voll lange von Harz 4. Das einzig Gute daran ist, dass das Amt wenigstens pünktlich die Miete auf mein Konto überweist.

Sokrates: Hm, hört sich ja nicht so gut an.

Falk: Obwohl ich schon oft auf ihn zu gegangen bin. Neulich wollte ich ihn mit in den Volkspark nehmen, ein bisschen unter die Leute kommen – vor allem laufen jetzt wieder so viele attraktive Frauen rum. Aber der checkt‘s einfach nicht, man, ist auch blass wie’n Käse. (Guckt ihn zwinkernd an) Rat mal, warum ich so braun bin, man! Weil ich bei schönem Wetter nur draußen bin. Und fast täglich lerne ich neue Leute kennen. Übrigens wollt‘ ich dir auch sagen, dass wir nach dem Kaffee gleich mal in die Sonne gehen sollten, oder bist du auch so’n Pessimist wie Kurt?

Sokrates: Ja, wir könnten im Park ein Bier trinken und die beiden Klappliegestühle aus dem Keller mitnehmen. Ich habe sogar englische Stouts und Porter kaltgestellt.

Falk: Von mir aus. Aber du weißt, dass es mir eigentlich schnurz ist, was für’n Bier das ist, ok.

Sokrates: Kein Problem, dann geb ich dir lieber Büchsenbier, das ich letztes Jahr von Aldi mitgenommen habe. – Ach, fasst hätt‘ ich’s vergessen, was meinst du mit der Frage, ob ich auch so ein Pessimist sei wie Kurt?

Falk: Na, dass du kein richtiger Pessimist bist, beweist ja schon, dass du sofort zusagst, mit mir rauszugehen. (Neckisch ergänzt Falk) Auch wenn du noch lernen musst, dich ohne deine Spezial-Biere unter das Volk zu mischen.

Sokrates: (grinst zurück) Ok, dann lass uns mal gehen. Und überleg dir auf dem Weg, wie du mir genauer erklären kannst, was ein Pessimist sei. (Sie gehen runter.)

Falk: (Im Treppenhaus empört sich Falk.) Ich denk, du bist Lehrer, man! Wie hast du nur studieren können, wenn du nicht mal weißt, was ein Pessimist ist, man! – Mein Mitbewohner Kurt ist ein Pessimist – zieht immer ne Fresse, hat keine Freunde, geschweige denn, dass ich bezweifle, dass er überhaupt schon mal eine Freundin hatte.

Sokrates: Ok, wenn man also noch nie eine Freundin hatte, ist man Pessimist? (Stellt die Liegestühle im Park auf und öffnet jedem ein Bier.)

Falk: Naja, so eng kann man das auch nicht sehen, aber die Kombination dessen macht es aus, was ich dir gerade von Kurt erzählt habe. Du zum Beispiel bist kein richtiger Pessimist, weil du dich sonst nicht so nah an diese attraktiven Frauen setzen würdest – Kurt hätte sich zum Beispiel dahinten unter den Baum gesetzt.

Sokrates: Interessant, was du sagst, wir kommen dem Begriff näher. Aber was ist das Wesentliche am Pessimismus?

Falk: Wie jetzt, was meinst du mit wesentlich?

Sokrates: Ah, jetzt fängst du an zu philosophieren, da du nach den Begriffen in den Fragen fragst. – Welches Bier schmeckt dir eigentlich besser?

Falk: Man, lenk nicht ab. Und um ehrlich zu sagen, Bier ist Bier, die Sorte ist mir sowas von scheißegal, die Hauptsache ist doch, dass es mehr oder weniger knallen soll. Und ob ich da für 45 Cent bei Aldi eine Plastikflasche kaufe oder wie du es machst, für 4 EUR so ein Spezialbier, kommt aufs Gleiche hinaus, außer dass du deine Kohle zum Fenster rauswirfst. Denn abgesehen von allen möglichen Sorten besteht Bier aus Wasser, Hopfen, Malz, Hefe und einem durchschnittlichen Alkoholgehalt von 5%.

Sokrates: Du beeindruckst mich! Obwohl ich dich mit der Frage nach dem Bier abgelenkt habe, hast du mir beiläufig erklärt, was das Wesentliche einer Sache ist. Versuch genauso das Wesentliche am Pessimismus zu finden!

Falk: – Äh, ok, du meinst also das, was allen Pessimisten gemeinsam ist?

Sokrates: Ist allen gemeinsam, dass sie den ganzen Tag fern sehen? Ist allen gemeinsam, dass sie noch nie eine Freundin hatten? Oder kann es sein, dass ein pessimistischer Mensch schon mal eine Freundin hatte oder dass er kein fern sieht?

Falk: Ja, ist gut, ich habe verstanden. Weißt du was, du Schlaumeier, ich google jetzt einfach mal nach.

Sokrates: Sehr gut. Lies bitte Satz für Satz langsam und deutlich vor. Denn ich bin oftmals nicht so schnell im Kopf, danke.

Falk: (lacht) Kein Problem, du angedüdelter Hirni. Also hör zu, Wikipedia sagt: „Der Pessimismus […] ist eine Lebensauffassung mit einer Grundhaltung ohne positive Erwartungen und Hoffnungen. […]“

Sokrates: Stopp! Nicht alles auf einmal lesen. Lass uns doch zunächst beim ersten Satz bleiben, da wir ja das Wesentliche oder Allgemeine suchen.

Falk: (triumphierend) Siehe, da haben wir es, passt doch hundert Prozent zu meinem Mitbewohner: Er hat keine positive Erwartung und bleibt daher zuhause! Ja, Kurt ist ein Pessimist, jetzt ist es mir noch klarer geworden!

Sokrates: Ok – jetzt scheinen wir es zu haben: Ein Pessimist ist jemand, der keine positiven Erwartungen an das Leben hat, stimmt’s?

Falk: Genau, und daraus folgt, dass er immer schlecht gelaunt ist und runterzieht.

Sokrates: Hm, das macht Sinn. Falk, du hast doch immer gesagt, dass deine Schwester das glatte Gegenteil deines Bruders sei: Während sie immer so gut in der Schule gewesen sei, sei er ein schlechter Schüler gewesen. Was meinst du, wie hätten beide auf einen Abiturnotendurchschnitt von Drei reagiert?

Falk: Meine Schwester wäre völlig durchgedreht. Aber mein Bruder hätte vor Freude eine Party gefeiert.

Sokrates: Und das verstehe ich nicht. Beide haben doch dieselbe Note. Warum weint sie, während er sich freut?

Falk: Na weil beide etwas anderes erwartet haben.

Sokrates: Hm, was denn genau?

Falk: Na, meine Schwester hat mit einem Abi zwischen 1,3 bis im schlimmsten Fall 1, 7 gerechnet. Bei einer Zwei wäre sie schon verzweifelt, aber eine Drei wäre wie ein Alptraum, wäre unter allen Erwartungen.

Sokrates: Verstehe. Und warum würde sich dein Bruder über die Drei freuen?

Falk: Na weil er überhaupt nichts erwartet hat. Er hatte von vorn herein mit der Option gespielt, jederzeit abzubrechen, um eine Ausbildung zu machen. Er hatte auch immer kritisiert, dass viele Akademiker weniger verdienen als jene, die eine Berufsausbildung machen.

Sokrates: Erinnere dich an unsere Ausgangsfrage: Wer ist ein Pessimist? Wer wäre in deiner Familie der Pessimist und wer der Optimist?

Falk: Hm, meine Schwester ist eindeutig die Optimistin in unserer Familie gewesen, was ja auch die Wikipedia-Definition bestätigt. Denn sie hat immer positive Erwartungen gehabt. Dagegen müsste mein Bruder, nach seiner fehlenden oder geringen Erwartungshaltung zu urteilen, ein Pessimist gewesen sein.

Sokrates: Und wie ist es eigentlich mit Kurts Erwartungen vom Leben, wenn er immer fernsieht?

Falk: Wie schon festgestellt. Auch er ist ein Pessimist, weil er keine positiven Erwartungen an das Leben hat und in der Folge macht er nichts als fern zu sehen.

Sokrates: Wenn aber Kurt nur schlechte Erwartungen ans Leben hätte, müsste er sich dann nicht immer freuen, sobald ihm etwas begegnet, dass etwas besser ist als die schlechten Erwartungen? Müsste er sich nicht dauernd freuen, so wie dein Bruder, der sich über die Drei freut, während deine Schwester leidet?

Falk: Hm, ich bin mir gar nicht mehr so sicher, wer hier der Pessimist ist. Im Vergleich zu meiner Schwester ist mein Bruder eindeutig der Pessimist, vor allem deshalb, weil er keine Erwartungen hat. Wenn ich nun aber meinen Bruder mit meinem Mitbewohner vergleiche, stimmt irgendetwas nicht richtig.

Sokrates: Weil dein Bruder sich freut und Kurt immer leidet?

Falk: Ja, das passt schlecht, wenn doch beide Pessimisten sein sollten.

Sokrates: Gut, wer von beiden ist also der Pessimist?

Falk: Von der Erwartungshaltung her, die ja das Wesentliche ausmacht, ist mein Bruder der Pessimist, obwohl er sich freut und meistens heiter gestimmt ist. Hm – das wird ja völlig verrückt: Hm – Der Pessimist hat nur negative oder keine Erwartungen ans Leben und ist schon dann glücklich, wenn er nur nicht zu stark unter den Durchschnitt fällt, sodass sich mein Bruder schon über die Note Drei gefreut hätte.

Sokrates: Ist es nicht auch so, dass religiöse Menschen im Durchschnitt glücklicher sein sollten als Atheisten, die von der Werbefernsehwelt geprägt sind?

Falk: Wie meinst du das?

Sokrates: Naja, welches Weltbild vermitteln uns denn die großen Religionen und wie verdreht es die ständige Werbung, der wir nirgends entweichen können?

Falk: Interessant. Die Eltern meines Mitbewohners sind erzkatholisch gewesen, die ihn damit genervt hätten: Die Welt sei ein Ort der Prüfung. Man müsse sich vor der Welt hüten, welche überall zum Bösen verführe. So war Kurt auch zunächst sehr froh, als er nach Berlin zog, weil er meinte, jetzt frei zu sein, endlich coole Typen zu treffen, viel leichter Mädchen kennenzulernen, usw.

Sokrates: Kurt versuchte also dem pessimistischen Weltbild seiner Eltern zu fliehen. Jetzt ist er in Berlin, aber noch unglücklicher. Du hast gesagt, dass er sehr viel fernsieht. Sage mir, ob die Werbung und die Hollywoodfilme, die er so oft sieht, eher positive oder eher negative Erwartungen an das Leben schüren.

Falk: Die lügen uns doch was vor. Denn jedes Produkt verkauft uns eine schöne, gute, gesunde, erfolgsversprechende Welt. Jeder Hollywoodfilm ist so gemacht, dass man sich mit dem Helden identifizieren soll, dass man Sehnsüchte nach dem Leben kultiviert und sich in heimliche Erwartungen verstrickt. Und wenn man sich mit keinem James Bond identifizieren kann, hoffen doch viele, ein noch unerkannter Harry Potter zu sein.

Sokrates: Sehr gute Beispiele für die heimlichen Hoffnungen, ja für heimlichen optimistische Erwartungen! Erkläre mir nun im, wann jemand leidet, der nach der Erwartungshaltung ein Optimist ist.

Falk: Das ist wie bei meiner Schwester, die immer eine Eins erwartet und über eine zwei betrübt ist. Wenn immer das höchste erwartet wird, betrübt uns schon das nur noch Gute. Wenn ich Fünf-Sterne-Hotels gewöhnt bin, können mich vier Sterne nicht mehr erfreuen. Wer also die höchsten Erwartungen hegt, durch die Werbefernsehwelt kultiviert, kann sich nur freuen, solange er sich mit diesen Standards auf einer Höhe fühlt. Da das aber die Wenigsten können, leiden die meisten, welche sich derart vergleichen. Der Optimist leidet, wenn er sich ein zu hohes Idealselbst erträumt, sodass ihm sein Realselbst minderwertig vorkommt. Und so hängt Kurt zu Hause rum und hofft, dass ein Wunder passiert, dass er entdeckt wird, dass sich eine Prinzessin in ihn verliebt.

Sokrates: Nach alldem ist dir also klar geworden, dass dein Mitbewohner Kurt kein Pessimist, sondern ein Optimist ist. Obwohl das nach allem Gesagten schlüssig scheint, widerspricht das doch unserem Alltagsverständnis vom Pessimismus, das du anfangs auch behauptet hattest, wozu der bekannte Vergleich passt, dass sich der Optimist über das halbvolle Glas freut, wogegen sich der Pessimist über das halbleere Glas ärgert. Wenn das stimmt, müsste sich aber Kurt freuen oder Kurt wäre doch ein Pessimist, weil er immer betrübt ist. Lass uns also überlegen, ob ein Pessimist …

Falk: Du bringst mich ganz durcheinander. Dann wäre ja doch alles Quatsch, was wir gerade gefunden haben! Außerdem ist doch die Erwartungshaltung laut Wikipedia ausschlaggebend dafür, ob jemand optimistisch oder pessimistisch ist. Ich bin müde vom Nachgrübeln. Lass uns einfach die Sonne genießen und trau dich lieber mal, die Frauen da anzusprechen, die hier schon zweimal rüber gesehen haben.

Sokrates: Ja, besonders die rechte Frau sieht gut aus, lass uns aber erst noch ein Bier trinken, die Sonne steht ja noch hoch. (Öffnet noch zwei Biere) – Also, vielleicht sollten wir nicht zu pauschal von dem Pessimisten und Optimisten sprechen, sondern – wie es dir gerade rausgerutscht ist – von pessimistischen und optimistischen Erwartungen, sodass jeder in verschiedenen Bezugspunkten sowohl pessimistisch als auch optimistisch sein kann. – Dann können wir vielleicht besser verstehen, inwiefern sowohl deine Schwester als auch Kurt Optimisten sind, obwohl deine Schwester meistens heiter und Kurt dauernd betrübt ist.

Falk: (Falks Handy klingelt). Warte mal. (Er läuft telefonierend rum und kommt nach kurzer Zeit zurück.) Ey sorry Sokrates, war echt cool mit dir zu reden, voll interessant, aber ich hab ganz vergessen, dass ich noch verabredet war. Danke für’s Bier. Ich denk drüber nach und wir sprechen an anderes Mal weiter.

Sokrates: Ach, schade, dass du so plötzlich gehen musst. Grüß Kurt von mir!



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Kommentare zu diesem Text


 Regina (06.01.24, 16:14)
Gewartet habe ich die ganze Zeit auf einen Brief vom Jobcenter an den pessimistischen Mitbewohner, dass er sich dort melden soll. Superpessimistisch wäre dann, wenn er sich von dem Termin nichts erwartet hätte. Wer aber wird von der Realität eingeholt, der Optimist, der die Zukunft in rosa Wolken sieht oder der Pessimist, dem sie grau in grau erscheint?

 Hamlet meinte dazu am 07.01.24 um 14:30:
Hallo Regina, das mit dem Jobcenter ist eine gute Idee, um den Dialog weiterzuführen. Fast alle originalen sokratischen Dialoge brechen irgendwann ab, oftmals weil der Gesprächspartner keine Geduld mehr hat oder sich durch Selbstwiderlegung geniert fühlt. Sokrates nähert sich der Wahrheit immer nur vorläufig an, soviel ich meine.
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