Der schiefe Turm von "Pizza"

Sozialdrama

von  Koreapeitsche

Nachdem mein Cousin 1993 im Fördehotel an der Überdosis Ejtsch gestorben war, fuhren meine Eltern mit mir sofort in den Urlaub nach Italien, um Abstand zu gewinnen. Sie wollten, dass ich wieder Hoffnung schöpfe und etwas anderes sehe als den Alltagstrott an der Drogenfront hierzulande. Ein Herointoter oder eine Herointote in der Familie ist schon ein krasser Einschnitt, der alles verändert. Du kannst froh sein, wenn es danach überhaupt irgendwie weitergeht, ohne dass noch mehr kaputt geht. Mit dem Auto ging es über die Alpen und nach Rimini, wo wir die meiste Zeit verbrachten. Wir waren gewarnt vor der Drogenszene und dem Straßenstrich an der Strandpromenade. Es ging auch nach Bologna, wo ich mir ein Clash-Video kaufte, “This is Video Clash“, als VHS-Kassette. Das Video sah ich im Schaufenster eines kleinen Plattenladens. Im Laden stand sogar eine LP der Italo-HC Band Negazione, die aus Turin stammten und circa 1987 sogar in der Alten Meierei in Kiel gespielt hatte.

Die Stadt gefiel mir ganz gut. Das Stadtzentrum war voll mit jungen Leuten. In Pisa ging es auf den Schiefen Turm, der schiefer war, als erwartet. Die physikalischen Kräfte und das Gleichgewichtsgefühl oben waren wirklich ulkig. Zwangsläufig wurde der Turm „Schiefer Turm von Pizza“ genannt. Wir schossen Fotos mit dem Turm als perspektivische Trickeinlage. Mal wurde eine Cola-Dose aufs Dach des Turms gestellt, mal wurde er zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten, mal stand er auf der flachen Hand – was du halt so machst, wenn Du dich nach einem gravierenden Todesfall in der Familie wieder aufbauen willst.

      Die Kamera war keine Spiegelreflex. Der Bildausschnitt, der durch das Suchfenster zu sehen war, war nicht identisch mit dem später auf dem Foto abgebildeten, das durch die Linse aufgenommen war. Deshalb mussten wir beim Knipsen eine leichte perspektivische Verschiebung einkalkulieren. Bei einigen Fotos trafen wir nicht die richtige Bildausschnitt. Das sahen wir aber erst, als die Fotos später entwickelt waren.

Wir besuchten mehrere Museen in Pizza, äh Pisa, zumeist mit mittelalterlicher Kunst.

Gut, wir waren also in Rimini, wir waren in Pisa, wir waren in Bologna. Schlussendlich wollten wir nach Florenz. Auf dem nächsten Schild stand Firenze. 

      „Jetzt muss als nächstes laut Plan die Ausfahrt Florenz kommen." 

      „Aber guck ma, die Stadt da rechts ist auch ganz hübsch mit Kirchen und so." 

      „Das ist Firenze. Fahr bitte weiter wir wollen doch nach Florenz." 

Da gab mein Alter Gas & irgendwann waren wir in den Alpen. Es gibt also weder Bielefeld noch Florenz.

Zurück in F*cking Kiel lud ich Kumpels zu einer Party ein. Wir sahen das New Model Army Video, das Hüsker Dü Video, “Rude Boy“ und schlussendlich “This is Video Clash“, alles auf dem geilen VHS Video Recorder. Die meiste Zeit schauten wir ernsthaft zu, gaben nur manchmal Kommentare ab. Es ging also auch ohne viel Alkohol und ohne viel Gesabbel. Der Herointote schien bald fast vergessen. Doch die Langzeitfolgen waren nicht zu überblicken und brachen immer wieder durch. Danach ging es Schlag auf Schlag: tot, tot, tot.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (23.04.24, 11:21)

Zwangsläufig wurde der Turm „Schiefer Turm von Pizza“ genannt.



Verstehe diesen Witz nicht.

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