andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 24. September 2009, 00:30
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Soll ich wählen?

So kurz vor der “großen Wahl“ führt auch bei einer Kolumne kaum ein Weg an dem Thema vorbei. Überall tönt es: „geht wählen“, „die Demokratie braucht Eure Stimme“ oder „wenn Du nicht hingehst, wählst Du den Sieger. Willst Du das?“. Doch an vielen Stellen klingt auch Politikverdrossenheit durch, denn die Menschen wissen nicht, was sie wählen sollen oder können sich nicht zwischen Sodom und Gomorrha entscheiden.
Es verwundert nicht, dass auch die Bereiche Demokratie und Freiheit diskutiert werden. Manch einer spricht vom Untergang dieser beiden Werte, vom Sieg des Kapitals, von verlorener Moral oder davon, dass “die da oben“ eh nur in die eigene Tasche wirtschaften. „Mehr Demokratie“ wird gefordert.
In einer Zeit der weltweiten Krise ist das ganz normal, denn es zeigt sich wieder, dass wir Menschen große Probleme haben die großen Zusammenhänge zu begreifen. Wir können sie vielleicht sehen, nachvollziehen und theoretisch verstehen, aber fühlen können wir nur die nahen Gründe. Mehr sogar: wir fahnden regelrecht danach.
Das ist wohl eine instinktive Angelegenheit, die der Menschheit in den Genen steckt. Darin gleicht die Situation dem Empfinden für Normalität, bei dem auch nur die Planeten wahrgenommen werden, die um den eigenen Bauchnabel kreisen.

Seltsamerweise läuft das bei Demokratie und Freiheit auch so ab. Fehlende Demokratie herrscht, wenn meine Meinung nicht lautstark vertreten wird – und Unfreiheit herrscht, wenn ich mich eingeschränkt fühle.
Solange ich zur Mehrheit gehöre … ähm … ja, ja, das ist die Krux – und da passen auch noch andere Schlagworte hinein: Toleranz, moralische Werte, Gerechtigkeit, Liebe …
Es ist das Problem aller Mittelwerte, Durchschnitte, Kompromisse und Einigungen: im Grunde fühlen sich all diejenigen unwohl, die etwas weiter weg vom Schnitt sind. Das wird noch dadurch verstärkt, dass sich jeder mit Gleichgesinnten und Ähnlichlebenden umgibt, also den erlebten (und dadurch begriffenen) Erfahrungshorizont einer eigenen – oder besser: der – Normalität hat.
In einer Gesellschaft, in der sich immer mehr Untergruppen bilden und die Homogenität zurück geht, kann das nur zu einem Anwachsen derjenigen führen, die sich ungerecht behandelt fühlen. So ist der Mensch halt gestrickt.
Kommt dann eine Krise hinzu, die flächendeckend Einschnitte in der Lebensqualität und der finanziellen Sicherheit bewirkt, kippt das Gebilde endgültig. Plötzlich ist nur noch Unzufriedenheit da.

Das Grundproblem ist also in allen Fällen das gleiche. Der Langzeitarbeitslose fühlt sich unfrei, ungerecht behandelt und undemokratisch regiert. Der Arzt empfindet das auch so, - wenn auch nach völlig anderen Maßstäben. Studenten, Migranten, Journalisten, Autofahrer, Arbeiter, Geschäftsleute, Beamte, Rentner … Arme, Mittelständler, Wohlhabende, Reiche … überall das gleiche Grundgefühl. Und: jeder hat aus seiner Perspektive natürlich Recht.
Kommt dann noch dazu, dass der Mensch nicht nur dazu neigt seine Normalität als Grundnormalität zu empfinden, sondern auch noch neidisch auf die anderen Lebensumstände zu schauen, wird die Diskrepanz umso größer. Da sind Politiker, die neidisch auf Leute mit einem Achtstundentag blicken, weil die ja so viel Zeit für sich haben. Da sehen Berufstätige nur die viele Freizeit der Arbeitslosen, das viele Geld der Geschäftsleute oder die (angeblich) lockeren Arbeitsbedingungen der Beamten. Da sehen Kinder die Freiheiten der Erwachsenen und die Erwachsenen die Unbeschwertheit der Jugend …
Und dann wird strikt abgewertet und schlecht gemacht, damit auf die “Anderen“ herunter geschaut werden kann. Das Prinzip ist immer gleich. Und zwar aus jeder Richtung.

Dabei stellt sich eigentlich die Frage, ob wir dem Blick nicht einmal eine andere Perspektive gönnen sollten. Strebt denn derjenige Freiheit an, der nur seine eigene Freiheit im Sinn hat? Oder ist es etwa der, der die Freiheit der anderen akzeptiert?
Bei der Toleranz ist es klar, sie ist weniger eine Forderung an die Welt, als vielmehr eine Einstellung zur Welt. Bei der Gerechtigkeit wird es schon schwerer und bei der Liebe bekommt kaum jemand den Blick vom eigenen Bauchnabel weg. Doch gerade bei der Demokratie sollte es einfach sein: immerhin geht es da um die Mehrheitsentscheidung, das sagt schon der Name aus. Und wenn sich 51 % der Mitmenschen für den letzten Schrott entscheiden, dann ist dies gelebte Demokratie und kein Zeichen für ihren Untergang. Denn Demokratie funktioniert nicht dann, wenn sie meiner Meinung folgt, sondern dann, wenn ich die Mehrheitsmeinung hinnehme. Nur dann bin ich ein Demokrat.

Doch hier liegt das Problem mit der Forderung nach “mehr Demokratie“. Mehr Volksentscheide, mehr Vetorechte und mehr Entscheidungen der Mehrheit bedeuten, dass vor allen Dingen mehr Bauchnabel ins Geschehen eingreift. Wie würde denn die Mehrheit über Kinderschänder richten? Was würde mit Managern passieren, die sich die Taschen voll gestopft haben? Was mit dem Junkie, der an sich selber oder am Leben zerbrochen ist?
Jedes emotional hochgepushtes Thema wäre der Supergau einer solchen Demokratie, da es kaum Filter und Puffer gäbe, stattdessen aber die Anonymität der Masse, die jede Verantwortung von dem Einzelnen nähme. Es käme der Lynchjustiz sehr nahe, die auch einen sehr demokratischen Auslöser hat …

Zum Thema “soll ich wählen gehen?“ leitet sich die Antwort nur mühselig ab. Unser Regierungssystem ist ein Kompromiss zwischen Willkürherrschaft und Diktatur. Es kann nicht perfekt sein, weil der Mensch nicht perfekt ist (ja, das ist eine Binsenweisheit). Darum darf die Macht nicht gebündelt sein … auch nicht beim “Volk“.
Genau das zieht sich als roter Faden durch unser politisches System (Bund, Länder und Kommunen – unabhängige Polizei, Rechtsprechung und Politik – freie Marktwirtschaft und staatliche Wirtschaft …). Und darauf muss geachtet werden, wenn wieder einmal große Versprechungen gemacht werden, die sich später als Windei herausstellen: nur die Mischung wirkt langfristig, Einseitigkeit ist nur kurzfristig erfolgreich.
Soll ich wählen gehen? – Keine Ahnung. Mir war es zu heikel auf meine Stimmung am Sonntag zu warten. Ich habe den Briefkasten gewählt.


Andreas Gahmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Dieter_Rotmund (24.09.09)
"So kurz vor der “großen Wahl“ führt auch bei einer Kolumne kaum ein Weg an dem Thema vorbei."

Doch, ich finde schon! Ich finde so ziemlich jedes andere Thema spannender als die Bundestagswahl!

Trotzdem hier ein öffentliches Lob für Stirnschlag-Andi: Während andere Kolumnen verwaisen und offenbar nur noch sporadisch oder gar nicht aktualisiert werden, ist er der letzte Zuverlässige....

 Anifarap (24.09.09)
Hu- fein.

Ich habe mich dazu bequemt mich intensivst mit allem möglichem Auseinanderzusetzen bezüglich dieser Wahl. Gerade weil man und frau von allen Seiten begeifert und begrabbelt wird.

Unter den großen Parteien hab ich kaum was gefunden, dass meine Ansichten vertritt, und unter den Extremisten auch nicht. Aber...nach langer Suche bin ich fündig geworden. Und auch, wenn es nur ne kleine Partei mit wenig Chancen zur Verlautbarung scheint, wird sie meine Stimme bekommen. Einfach deswegen, weil ich die Freiheit habe zu wählen, weil ich demokratisch aufgewachsne bin und weil ich finde, dass es nicht immer darum gehen kann 'Erster' zu werden.

Danke für die Kolumne. Hat neue Aspekte in die Recherche gebracht.
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