KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Donnerstag, 06. Oktober 2022, 14:20
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TLÖN, UQBAR, ORBIS TERTIUS

827. Kolumne

ORBIS TERTIUS 2022
 
Über die Erzählung TLÖN, UQBAR, ORBIS TERTIUS von Jorge Luis Borges las ich einen Aufsatz von Iso Camartin (in Kröners Band Lateinamerikanische Literatur der Gegenwart, 1978) sowie die vorzügliche Analyse von Alfons Knauth. 
Camartin beschreibt Borges‘ Werk und Denken sehr einleuchtend. Für TLÖN bleibt seine Deutung allgemeiner, er sieht diese Erzählung wie eine Variation angelehnt an DIE BIBLIOTHEK VON BABEL, Camartin findet nicht zu der Interpretation, dass ein totalitärer Aspekt zu Orbis Tertius als Anspielung auf das nationalsozialistische Dritte Reich führt, wie Alfons Knauth das am Text zeigt. Dabei hätte Camartin diesen Totalitätsaspekt erkennen können (Tlön als mapa del universo; die wohl nicht nur assoziativen Bezüge zu Huxleys BRAVE NEW WORLD - ein Buch, das ich 1970 während meiner Reise durch die USA in Greyhound-Bussen geradezu verschlang, allerdings mit Schatten von Melancholie gezeichnet; und vor allem der Schluss der Erzählung). 
Neben dieser sehr berechtigten und am Text begründeten Deutung ist eine zweite, nicht so primär politische Deutung möglich: Die Erfindung einer neuen Welt, als Gegenwelt oder nicht, ist nur möglich auf der Grundlage der bestehenden. Jede solche Erfindung kann das Problem der Unendlichkeit von Perspektiven und Seinsmöglichkeiten nicht lösen, was für jede (negative oder positive) Utopie gilt. Jede solche Welterfindung ist nichts anderes als eine Kritik der bestehenden Welt, die fortwährend im Wandel sich befindet und ebenso nicht vollständig beschrieben werden kann; hier lehnt sich TLÖN tatsächlich an die BIBLIOTHEK VON BABEL an. Borges verknüpft dieses Problem mit der Unfähigkeit der Sprachen, deren Schwächen und Unvollkommenheiten er mit offenkundig ludischer Freude parodiert. (Hierbei spielt auch Vaihingers Als-ob-Philosophie eine Rolle.) 
Im Ganzen zeigt Borges‘ Erzählung das Erkenntnis-Problem: Wir begreifen die Welt nicht ganz, schon gar nicht konsensuell. So kommt es auch dazu, dass Borges mit verschiedenen Trägern der Erzählung (Quellen, Personen als von der Handlung Betroffene) eine absichtliche Erzähl-Unordnung erzeugt, die selbst dazu beiträgt, dass eine volatile Deutungsbereitschaft entsteht, am Ende wird die metaphysische Atmosphäre immer dichter – und in der Tat beschreibt die Zunahme an unerwartet gefundenen ‚erfundenen‘ Quellen das Wachstum faschistischer Bewegungen, die von der Bereitschaft der Menschen, eine neue, bessere Welt zu erschaffen, profitieren. Doch entsteht nicht die Welt, die sich die Masse wünscht. 
Borges erzählt möglicherweise seine eigene Furcht vor einem Weltdeutungstotalitarismus (wie sie sich in kommunistischen und kapitalistischen Gesellschaftsideologien zeigen). Erkenntnisunmöglichkeit darf weder zu einer Weltverschwörung wie Tlön als Orbis-Tertius-Reich führen noch zur Resignation. Die Erzählung lese ich als ein Manifest für den Segen der Vielfalt, die hier stellenweise im humoristischen Gewand auftritt. So kommt mir der Schluss eher sanft ironisch vor - wie eine subtile captatio benevolentiae. Die Warnung vor dem weltbeherrschenden Tlön als orbis tertius und idioma primitivo muss der Leser erschließen.
 
1.10.2022

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