KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Dienstag, 03. November 2009, 10:26
(bisher 3.877x aufgerufen)

An der Schmerzgrenze - seelenliebe. II. Lyrik (10)

Heute stelle ich eine Lyrikerin mit einem Gedicht vor, das alles darüber sagt, wie Lyrik auch sein kann. Die lebenserfahrene Autorin, deren Programm die Offenheit der Gefühle ist, nennt sich treffend seelenliebe und erfreut sich größter Beliebtheit.

seelenliebe wurde 1958 geboren. Sie ist von Beruf Bürokauffrau und Stenokontoristin und tätig als Hausfrau und Mutter. Ihre Muttersprache ist Deutsch. Über sich selbst schreibt sie: „Ich wurde 1958 im schönen Rheinland geboren. Lebe aber seit 1987 im ebenso schönen Sauerland. Ich bin Mutter von zwei Mädels im Alter von inzwischen fast 17 und 19 Jahren und Witwe. Schreiben ist eine Leidenschaft, die mich bereits seit frühester Kindheit begleitet. … Ein Großteil meiner Texte sind direkt aus meinem Leben. Ein bestimmtes Thema gibt es nicht; ebenso wenig wie eine bestimmte Norm. … Für mich ist Schreiben Labsal für die Seele. … Ich kann mir ein Leben ohne zu schreiben nicht mehr vorstellen.“

Das ist eine klare Ansage. seelenliebe sucht die Versöhnung von Gefühl und Verstand, die Einheit von Kopf und Bauch, was sie in einem Paradoxon formuliert: „Ich lasse mich einfach nur von meinem Gefühl treiben. Schreiben … ermöglicht mir vor allen Dingen meine Gedanken zum Ausdruck zu bringen.“

Aber sie will noch mehr! Ihren vielen LeserInnen ruft sie zu: „Hallo, Ihr Lieben, ich bin damit beschäftigt, das Leben zu (be?)greifen. … Alles Liebe für Euch. Euer Seelchen Anne.“ Und dieses Seelchen, das liebt und geliebt wird, weiß auch schon tief drin die Antwort: „Es ist meine Welt, in der ich glücklich bin und worin ich aufgehe.“ Mit dem folgenden Gedicht macht die Dichterin alles klar. Zwar lenkt der Titel mit der Wasser-Metaphorik zunächst von der Gewissheit einer schönen Welt ab, aber das scheint nur so, in Wirklichkeit ist es nur eine andere Herangehensweise an das Leben. Das lyrische Ich, das identisch mit seelenliebe sein kann, aber nicht muss, beschwört mit der Sehnsucht nach der Schönheit des Lebens das Einssein mit dem Leben, wie es ist. Es ist ein Seelengedicht, und doch bezeichnet es die Dichterin im Untertitel als „Gedankengedicht“! seelenliebe will den LeserInnen beweisen, dass die Seele richtig denkt, dass uns das Herz richtig lenkt. Der Kopf denkt – die Seele lenkt, oder: Das Herz denkt: Die Seele lenkt. Oder umgekehrt: Die Seele denkt, das Herz lenkt. Eigentlich egal, seelenliebe setzt ihr Weltbild konsequent um in ein Seelenbild. Aber das formuliert sie nicht platt, sondern sie erhellt in aphoristischer, metaphorischer und, angelehnt an die dekonstruktivistische Philosophie unserer Zeit, in paradoxistischer Art ihr Gedanken- und Seelengebäude.


Am Ufer meiner Traurigkeit
Gedankengedicht zum Thema Sehnsucht

Am Ufer meiner Traurigkeit
lieg ich weinend heut im Sand.
Seh’ Muscheln einer schönen Zeit,
die ich damals für uns fand.

Erzählen mir vom Glücklichsein.
Ich tauch zur Erinn’rung ab,
atme die Sehnsuchtsworte ein,
die dein Herz geschrieben hat.

Mein Blick geht hinauf zum Himmel,
weiß, das Pferd steht schon bereit.
Für den Ritt auf uns’rem Schimmel
nehm ich in Kauf mein Herzeleid.

Auch des Windes Lied klingt traurig
und Silbertropfen fallen sacht,
denn der Himmel weint gar schaurig,
weil er, wie ich, an dich gedacht.

Sogar der Mond zieht sich zurück,
hüllt den Strand in Dunkelheit.
Warum verlor’n wir unser Glück?
Ich glaubte an die Ewigkeit.

Ich schließ nun meine Augen zu,
hüt’ die Bilder tief in mir.
Oh Gott, schenk meinem Herzen Ruh’,
dass ich nicht im Schmerz erfrier.


1. seelenliebe zeigt ihr lyrisches Ich in einem schweren Kampf gegen Kräfte, die es verwundeten. Ich nenne dieses lyrische Ich im Folgenden der Einfachheit halber „Sie“. Sie beschreibt den Prozess der Trauer um ein geliebtes Du, das sie verlor. Sie liegt nun weinend im Sand ihres Tränenstrandes. Ihre Seele blickt zurück in die Vergangenheit, sie denkt nach. Seele denkt. Sie denkt an die Liebe: Vor ihr liegen „Muscheln einer schönen Zeit, / die ich damals für uns fand.“ Sie fand das Glück nicht nur für sich selbst, sondern im Wir auch für ihn, und nun zerstörte er nicht nur ihr Glück, sondern auch sein eigenes.

2. In der zweiten Strophe vertieft seelenliebe die Reflexion: Die Muscheln erzählen ihr, was sie von der vergangenen Liebe weiß. seelenliebe reflektiert. „Ich tauch zur Erinn’rung ab“, sagt sie. Sie steckt ihren Kopf, nein, viel kühner, sie taucht ihre Seele in den Sand der Erinnerung und atmet „Sehnsuchtsworte“ ein, die dort begraben liegen: Die Sehnsucht, die im Schutt der Vergangenheit liegt, die sie nun wie einen Schatz neu heben will, indem sie ihn einatmet, schrieb sein Herz in den Sand. Das bewusst gegensätzliche Bild (tauchen in den Sand) greift die Wassermetaphorik des Titels wieder auf, auch das Uferbild, in dem vielleicht auch das neue Ufer, die neue Liebe anklingt – aber riesig ist die Entfernung zum anderen Strand, zum Strand des Glücks! Auch in ihr selbst gibt es einen Strand, einen Seelenstrand, und im Weinen gibt es ein neues Ufer, ein neues Denken, das der Trauerprozess mit sich bringt: Eine Dopplung oder Spiegelung von Innen und Außen. Aber noch ist es nicht soweit: Sie lässt ihn nicht los, in der Erinnerung bleibt ihr der Geliebte noch.

3. Wenn das lyrische Ich eben noch gleichsam den Kopf hängen ließ, schaut es nun (in der dritten Strophe) „hinauf zum Himmel“ und weiß: „das Pferd steht schon bereit. / Für den Ritt auf uns’rem Schimmel / nehm ich in Kauf mein Herzeleid.“ Das Bild wirkt zunächst hermetisch, ist aber ganz klar und leicht zu übersetzen. Ich denke nicht, dass die Dichterin hier eine religiöse Dimension eröffnet, sondern in Anlehnung an antike Mythologie von überirdischen Pferden spricht, die den Gedankenflug durch die Erinnerungswelt ihrer verlorenen Liebe versinnbildlichen. Noch einmal spricht sie vom gemeinsamen Ritt, von der Lebensreise im Wir – der Schimmel steht für die Reinheit dieser Liebe. seelenliebe leidet.

4. Der Jenseitigkeit der ‚himmlischen’ Erinnerung wird das Diesseitige des Verlusts und der Trauer gegenübergestellt. Zwischen diesen beiden Polen weht ein personifizierter Wind, der ein Lied singt, das so traurig klingt wie die Seele der sehnsüchtig sich Erinnernden. seelenliebe klagt. Wir sehen hier wieder die Einheit von Innenwelt und Außenwelt, in der das lyrische Ich aufgeht. Seelenliebe … Liebe der Seele … Liebe zur Seele … Liebesseele … die Unterschiede sind aufgehoben. Dieses lyrische ist trotz seines schweren Verlusts eins mit sich und seinem Sein, was dasselbe ist. Auch der Himmel weint, „weil er, wie ich, an dich gedacht.“

5. Das sind Seelengedanken. Sie gewinnen noch an Kraft, wenn wir diesen empathischen Himmel als Projektion der Seelenliebe deuten – als ein Bild der aus der Trauer gewonnenen Enttäuschung: Der Glaube an die ewige Liebe trug nicht, sondern trog. Das Verhalten des silbern, also traurig weinenden Himmels, des Mondes, der sich zurückzieht (ein Bild des zumindest temporär verlorenen Realfemininen), spiegelt im Bild einer äußeren Landschaft die innere Befindlichkeit der Seele: Es ist nun dunkel in ihr und um sie herum „Am Ufer meiner Traurigkeit“. seelenliebe weint. Alles weint. Erst der Zustand empfundener Einsamkeit treibt das lyrische Ich zur Reflexion: „Warum verlor’n wir unser Glück?“

6. Aber seelenliebe kommt zu keiner weiteren Erkenntnis, sondern sagt: „Ich schließ nun meine Augen zu“ – das erinnert an das Abendgebet für Kinder: „Ich bin so müde, geh zur Ruh, schließe beide Äuglein zu; Vater lass die Augen dein über meinem Bettchen sein...“ seelenliebe variiert den Gedanken. So wie sie selbst die Bilder der Erinnerung wie einen Seelenschatz hütet („tief in mir“), will sie auch behütet sein. seelenliebe betet. Jetzt ruft sie Gott an und bittet ihn um Seelenruhe, damit sie nicht im Schmerz erfriert. Herz und Seele sind hier synonym gebraucht. Das zeigt erneut die Geschlossenheit in seelenliebes Welt- und Sprachbild. Die große Frage, die das lyrische Ich zuletzt antreibt („Warum verlor’n wir unser Glück?“), wird nicht beantwortet, ihr Schmerz bleibt Schmerz und treibt weder sie noch die LeserInnen zu irgendeiner Erkenntnis. Genau das kennzeichnet diese Lyrik und macht sie zu dem, was sie in erster Linie ist: Zur Veranschaulichung von Sprach- und Geistlosigkeit und nicht geleisteter Seelenarbeit, wie diese schwach gereimten und mit Tränendressing schlecht geleimten Strophen beweisen.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Theseusel (23.03.07)
Oh...der Bergmann lüftet den Hof und wird zum Quotenjäger mit einem letzten Satz, der meines Erachtens überflüssig ist! Nach der Rechnung folgt ein Ab. Ab kann sie das nicht, denn statt Deine Steilvorlage zu nutzen und einzulochen bleibt sie im selbstgewählten Abseits und genießt die mitleidig fühlenden Seelen. Hab ich da ein Faul gesehen oder war das der Abpfiff? Bis zu diesem Zeitpunkt lief das Spiel eigentlich normal ... gespannt schaue ich auf die Reservebank! Gerd

 Bergmann (23.03.07)
Ja ich verstehe euch, aber versteht auch mich, dass ich nicht missverstanden werden will.

 Theseusel (23.03.07)
Man beachte die Dramaturgie der Beiträge nach der Stellungnahme des Kolumnisten...sehr lehrreich!

 Bergmann (24.03.07)
Ich weiß, gegen Dummheit (und Idiotie) kämpfen selbst Monarchen vergebens...

 Bergmann (30.03.07)
alien: Polemische Wortspielerei.
Farnaby (41)
(26.04.07)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Bergmann (26.04.07)
Es gibt immer wieder - aus den unterschiedlichsten Motiven, oft narzisstischer Natur und oft aus falsch verstandener Nächstenliebe, Apologeten des öffentlichen Kitschs und damit einhergehend eine Polemik der Ahnungslosigkeit. - Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. (Kant)

 Bergmann (11.05.07)
Liebe Andrea,
jetzt bekommen wir wieder einen Streit: Kunst ist nicht gleich Ethik. Poesie muss nicht ethischen Gesetzen / Axiomen folgen! Sie darf absichtslos spielen - die besten Ergebnisse solchen Spielens dienen (manchmal) der (Selbst-)Erkenntnis, aber auch das ist nicht erforderlich. Eigentlich hat die Literatur immer wieder nur sich selbst (und die Sprache) zum Hauptgegenstand.

 Bergmann (11.05.07)
Nun wird doch kein Streitgespräch draus. Ich kann deinen Gedanken berzüglich Kunst einigermaßen zustimmen, glaube ich. Anders gesagt: Ich philosophiere nicht so gern - außer mit (und manchmal auch ein wenig in) literarischen Texten, Parabeln, Erzählungen, Geschichte(n).
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram