KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Mittwoch, 09. Februar 2011, 09:30
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Babylonik (aus Briefen HEL/UB 3)

238. Kolumne

UB: Der Lyriker ist der individualistische Versucher des kollektiven Bewusstseins.

HEL: „Babylonik“, wieder haben Sie ein stichwort gesagt... man könnte vieles so interpretieren. Strophik, enzyklopädik, babylonik, die motive der scribik, für die schwerlich näher hergeholte anzugeben sind, wenn man nicht einfach sagt, ich muß; aber ich muß gar nicht. Ich hab nur alle andern brücken hinter mir verbrannt, keine ausbildung, keine sicherheit, nur das kleine feuer, auf dem die wassersuppe kocht. ... Ich stehe jeden tag vor der aporie, die zeit nutzen oder sie als unnutzbar erkennen, für beliebig erklären. Es ist das zeitparadox, aus dem ich manchmal gedichte schleudere, in dem ich manchmal nur meine hirnhälfte mit bildmustern bestücke. ...

UB: Das Quantensystem reflektiert sich nun selbst, es würfelt sich selbst und wird umgekehrte Messapparatur, es existiert also durch sich selbst, es ist sich selbst transzendent, könnte man sagen, und solche Absurdität von Autopoiesis ironisiere ich. Was die Mixtur der Künste angeht, so ist jedes Gesamtkunstwerk-Streben und jedes Teilkunstwerk-Experiment in Ordnung. Aber ich befürchte, so mancher allzu platte Teil und die alles rettende und fliehende Ironie, dieser ganze nach innen umgestülpte Hedonismus-Krampf, führen dazu, dass die Programme viel besser sind als ihre Inhalte, dass oft das Programm schon der ganze Inhalt ist, also kein Inhalt.

HEL: Mit der „alles rettenden und flüchtenden“ ironie haben Sie recht. ... witz ist auch vorwärtsverteidigung, gerade der humorlose wappnet sich mit witz. Wer spürt daß seine vorstellung mäßig ist, peppt sie mit dem gestus auf: das gegenteil oder fast das gegenteil ist gemeint. Das ist der mißbrauch nobler oberfläche. Denn den eingefleischten humor, die ironie, die sich nicht dumm stellen muß, findet man selten. Meistens findet man den, der nur eins kann: dem nichtskönnen einen anstrich von parodie geben.

UB: Ist es die Rührung, die uns ergreift, wenn das modistische Kunstgewerbe auf dem Laufsteg die große Welt parodiert ohne es zu wissen?

Nicht so leicht heute in der neuen Geniezeit aufzutauchen und nicht gleich wieder unterzugehen. Wer heute etwas sein will, muss schon als Legende anfangen, und die Legende muss sich bei näherer Betrachtung als rostfreier Stahl erweisen.

HEL: Der kapitalismus hatte seine vorläufer in den italienischen stadtstaaten. Mann, UB, wir leben in einem land, das beide systeme gekannt hat, was für eine chance könnte das sein! denn wir haben auch den faschismus + Hitlerwahn bis zur neige getrunken. Das experiment sozialismus ist doch nicht gescheitert, sondern abgebrochen. ... Aber verdammt noch mal, ich laß mir die utopie nicht vom brot nehmen. Vergesellschaftung, das ist es immer noch, das schließt gerechtigkeit, demokratie, all die beschworenen werte ein.

UB: Ein neuer Sozialismus, der das Grundgesetz ändern will, weil muss, ist andererseits erforderlich... Aber ich misstraue der Revolution, weil der Mensch so was nicht konsequent durchhält... Wir Deutschen sind für die Weltveränderung völlig ungeeignet. Ich will weder eine Bewegung à la Hitler noch diese langweilige, unsinnliche Stagnationsscheiße à la Ulbricht und Honecker. (Gysi hat ein charmantes Köpfchen, aber das genügt nicht.)
Also: Ein neuer Sozialismus muss her, ein ganz neuer, raffinierter, sinnlicher, und ich bin optimistisch, dass so etwas in ein oder zwei Jahrzehnten wenigstens elementar-ideologisch heranreift.
Meine Sorge ist nur, dass immer der Körper den Geist verrät, weil er stärker ist, es sei denn der Höchstkapitalismus ist Geist, aber das will ich nicht glauben. Oder alles Geistige ist nur eine andere Form des Körpers, das befürchte ich schon eher. In dieser schrecklichen Wahrheit richte ich mein Leben ein als Traum oder Lüge in meinem kleinen Glück. Aber relative Solidarität ist lebensnotwendig - hier fehlt ein pragmatischer politischer Weg.
Die Reichsidee ... erst durch Bismarck ist sie verhunzt, die Ottonische Renovatio Imperii war schon was, gegen das die derzeitige kleineuropäische Lösung mickrig wirkt.
Politik soll Dichtung sein. Dichtung teilt mit, schildert, beschreibt genau, klagt, klagt an, ist Werk, ist Kunst, ist Kosmos im Kleinen. Dichtung führt zur Imagination neuer Bilder, Gedanken, Denkweisen, insofern ist sie auch lehrhaft, sie schreit, singt, weint, sie schweigt sogar manchmal, in subtiler Weise erzeugt und verstärkt sie die Solidarität unter den Menschen, begleitet moralische Wandlungen im historischen Wandel und gibt, aber nicht als billiges Opium fürs Volk, Trost und Hoffnung, deutet Lebenssinn und gesellschaftliches Sein, ergreift Partei und setzt immer die Freiheit des Andersdenkenden voraus. Dichtung verändert indirekt, oft heimlich und unbewusst, getragen von einer (moralischen) Idee, aber in Bildern, die dem Leser Freiheit lassen, sie wirkt abseits der politischen Kommunikation und der ihr immanenten agitatorischen Literatur.
[...]

[veröffentlicht in DIE BRÜCKE 156,2011. Seite 135-142]

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Lala (26.02.11)
„Aber ich misstraue der Revolution, weil der Mensch so was nicht konsequent durchhält... Wir Deutschen sind für die Weltveränderung völlig ungeeignet. Ich will weder eine Bewegung à la Hitler noch diese langweilige, unsinnliche Stagnationsscheiße à la Ulbricht und Honecker. (Gysi hat ein charmantes Köpfchen, aber das genügt nicht.)“

So frech, wie das Urteil des Freiherrn über seine Plagiate: „Blödsinn“.

D
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